Alles tot Ding?

01. Januar 1900 | von

Wenn die Pilgerscharen die Basilika des hl. Antonius von Padua betreten, steuern sie zuerst und zielbewußt die Arca an, das Grab des großen Predigers und Wundertäters, wo sie ihre Anliegen vorbringen oder ihren Dank abstatten. Viele Menschen tun solches Handeln als überkommenen Aberglauben ab, doch würde man die heutigen Wallfahrerinnen und Pilger fragen, ob Reliquienverehrung sinnvoll sei, die meisten würden die Frage gar nicht so recht verstehen. Der eine oder die andere von ihnen wiese vielleicht darauf hin, daß wir auch die Grabstätten unserer Angehörigen aufsuchen und so ganz selbstverständlich zeigen, daß wir ihr Andenken in Ehren halten. Tatsächlich liegt hier das eigentliche Motiv für den Reliquienkult.

Wie das Wallfahrtswesen gründet auch die Reliquienverehrung im Grabkult, mit dem man seit dem 2. und 3. Jahrhundert das Andenken jener Christinnen und Christen ehrte, die entweder durch ihr Martyrium oder aber durch ein vorbildliches Leben Zeugnis für ihren Glauben abgelegt hatten. Dabei war man sich von Anfang an bewußt, daß die Verehrung, die man den Grabstätten der Heiligen entgegenbrachte, letztlich dem Andenken der Toten selbst galt. Daß man mit ihren reliquiae mortales, den sterblichen Überresten, pietätvoll umging, erlaubt zunächst noch keinerlei Rückschlüsse auf einen religiösen Beweggrund im Sinne unserer heutigen Heiligenverehrung. In der Regel hielt man ja das Andenken aller Verstorbenen in Ehren. Jene Menschen hingegen, die zu Lebzeiten ihren Glauben auf exemplarische Weise bezeugt hatten, erfuhren nach ihrem Tod seitens der Christengemeinden eine besondere Wertschätzung.

Vom Grab zur Reliquie. Bekanntlich vermag man die Aufmerksamkeit anderer leichter auf sich zu lenken, wenn man sich in ihrer Nähe aufhält. Diese an sich banale Erkenntnis sollte sich in der Folge auch auf den Heiligenkult und damit auf die Reliquienverehrung auswirken. Denn viele Gläubige, die schon einmal auf Pilgerfahrt gewesen waren, hegten das Verlangen, sich in der Nähe eines Wallfahrtsortes niederzulassen, um später einmal im Umkreis eines Heiligengrabes zur letzten Ruhe gebettet zu werden; auf diese Weise glaubten sie, sich der Fürsprache ihrer Patrone beim Jüngsten Gericht eher versichern zu können. Aber längst nicht alle konnten sich diesen Wunsch erfüllen. Also mußte man eben den umgekehrten Weg gehen und möglichst viele sterbliche Überreste von Heiligen in die Nähe des eigenen Wohnsitzes überführen.
So entstanden durch die Umbettung und Übertragung von Reliquien immer neue Kultstätten. Die im Hochmittelalter sich verbreitende Praxis, einzelne Körperglieder der Heiligen an Klöster und Kirchen zu verteilen, rechtfertigte man theologisch mit der Pars-pro-toto-Theorie, welche der heilige Bischof Victricius von Rouen schon zu Beginn des 5. Jahrhunderts vertreten hatte: Wo ein Teil ist, da ist das Ganze. Getreu dieser Devise hatte Victricius die von ihm erbaute Kathedrale St-Gervais mit zahlreichen Reliquien ausstatten lassen.

Reliquiensucht. Daß der Ganzkörperreliquie eine besondere Virtus oder Energie innewohnte, stand für die damaligen Gläubigen außer Frage. Verwundert es da, daß sich der Reliquienglaube schließlich zu einer ausgeprägten Reliquiensucht steigerte? Ein erstes, allerdings harmloses Anzeichen dafür ist die Tatsache, daß man schon im Frühmittelalter damit begann, gleichsam artifiziell Reliquien zu produzieren. Gregor von Tours berichtet von Tüchern, welche die Pilger sowohl in seiner Bischofsstadt wie auch im fernen Rom über Nacht auf dem Martins- beziehungsweise auf dem Petrusgrab deponierten; am Morgen seien die Stoffe dann derart mit Lebenskraft vollgesogen gewesen, daß sie angeblich schwerer wogen als am Vortag...
Zeitweise fanden Reliquien auch als Amulette Verwendung. Den Chronisten zufolge trieb die Reliquienverehrung zeitweise recht seltsame Blüten. Im Spätmittelalter rühmte sich die Stadt Verona, das Grab der Eselin zu besitzen, auf der Jesus in Jerusalem eingezogen war. In Genua gab man sich bescheidener; dort behauptete man bloß, den Schwanz des Fohlens aufzubewahren.

Jede Menge falsche Fünfziger. Für die mittelalterlichen Menschen war das Handgreifliche herzergreifend. Mit anderen Worten, man fühlte sich den Heiligen näher, wenn man etwas von ihnen besaß, das man berühren konnte.
Da die vorhandenen Gebeine und Gebrauchsgegenstände der Heiligen keineswegs ausreichten, um den tatsächlichen Bedarf an Reliquien abzudecken, verfielen durchtriebene Scharlatane und ausgekochte Schwindler bald einmal auf den Gedanken, den Markt ein bißchen zu beleben. Im Spätmittelalter gab es praktisch keine größere Reliquiensammlung ohne Falsifikate
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Die Mißbräuche nahmen schließlich ein derartiges Ausmaß an, daß die Kirche dazu nicht länger schweigen konnte. Im Jahre 1215 raffte sich das Vierte Laterankonzil zu einer ausführlichen Stellungnahme auf: Weil manche Leute Heiligenreliquien zum Verkauf anbieten und diese allüberall zeigen, bestimmen wir, daß die alten Reliquien von nun an keinesfalls mehr außerhalb des Reliquiars gezeigt oder zum Verkauf angeboten werden dürfen. Neu gefundene aber soll niemand öffentlich zu verehren sich erkühnen, wenn sie nicht zuvor durch die Autorität des Römischen Bischofs anerkannt wurden. Die Kirchenoberen aber sollen fortan nicht mehr erlauben, daß die Gläubigen mit phantastischen Geschichten oder gefälschten Dokumenten getäuscht werden, wie es an sehr vielen Orten aus Gewinnsucht zu geschehen pflegt.

Alles tod Ding. Die vom Vierten Laterankonzil aufgestellten Normen blieben praktisch wirkungslos. Der kaum ein halbes Jahrhundert (1260) nach dem Vierten Lateranum geborene Meister Eckehart äußert sich tadelnd und ganz im Sinne des Konzils: Ach Leute, was sucht ihr denn an dem toten Gebein?! Warum sucht ihr nicht das lebende Heiltum, das euch ewiges Leben schenkt? Damit beanstandet der Mystiker aus dem Dominikanerorden nicht etwa die Reliquienverehrung an sich, sondern beklagt sich bloß darüber, daß die gängige religiöse Praxis dazu geführt hat, daß das Wesentliche häufig vom Nebensächlichen verdrängt wurde. Dem gegenüber lehnt sein Zeitgenosse Martin jeglichen Reliquienkult rundweg ab – was angesichts der damals herrschenden Mißbräuche nicht ganz unverständlich erscheint. Was allein zählt, so Luther in seinem Deutschen Katechismus von 1529 bei der Auslegung des dritten Gebots, ist das Wort Gottes. Dieses ist das Heiligtum über allen Heiligtümern. Denn ob wir gleich aller Heiligen Gebeine oder heilige und geweihte Kleider auf einem Haufen hätten, so wäre uns doch nichts damit geholfen. Die Begründung wollen wir im ursprünglichen Wortlaut zitieren: Denn es ist alles tod ding.

Die Dichter zu Rate ziehen. Daß man die Dinge auch anders sehen kann, erweist sich, wenn wir auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen achten. Da ist jemand, der in der Gesellschaft überhaupt nicht zählt und dessen Name gleichsam ins Wasser geschrieben ist. Und doch kann dieser Mensch uns alles bedeuten, wenn wir ihn lieben. Und wenn der Tod, der es nicht gewohnt ist, auf unsere Gefühle Rücksicht zu nehmen, uns diesen einen Menschen entreißt, von dem wir uns verstanden und bejaht fühlen, dann bricht für uns die ganze Welt zusammen. Dann werden wir es nicht übers Herz bringen, die an sich völlig wertlosen Gegenstände, die ihm lieb und teuer waren, einfach zu entsorgen; vielmehr werden wir manches davon sorgfältig aufheben, sei es nun ein Tagebuch oder ein Schachspiel oder einen Briefbeschwerer... Und wir werden uns immer wieder einmal zum Grab begeben, um dort eine stille und zeitlose Zwiesprache zu halten mit diesem Menschen, der uns nach wie vor so viel bedeutet, womöglich auch oder gerade deshalb, weil wir erst durch seine Zuwendung und Liebe hingefunden haben zu uns selber.

Vielleicht sollten wir, bevor wir die Theologen befragen, erst einmal die Dichter zu Rate ziehen, wenn wir erfahren möchten, was die Menschen veranlaßt, Reliquien zu verehren. Einer von ihnen, der selber viel gelitten hat an sich und am Leben und an der Liebe, nämlich Johann Wolfgang von Goethe, erweist sich hier als verläßlicher Führer. In seinem Roman Die Wahlverwandtschaften ist davon die Rede, daß die Schloßherrin die Grabmäler der Verstorbenen an den Rand der Kirche versetzt hatte, um den frei gewordenen Platz mit Klee zu bepflanzen.

Merkzeichen. Niemand konnte leugnen, daß diese Anstalt beim sonn- und festtägigen Kirchgang eine heitere und würdige Ansicht gewährte. Sogar der betagte und an alten Gewohnheiten haftende Geistliche hatte nunmehr seine Freude daran. Allein desungeachtet hatten schon manche Gemeindeglieder früher gemißbilligt, daß man die Bezeichnung der Stelle, wo ihre Vorfahren ruhten, aufgehoben und das Andenken daran gleichsam ausgelöscht; denn die wohlerhaltenen Monumente zeigen zwar an, wer begraben sei, aber nicht,  wo er begraben sei, und auf das Wo komme es eigentlich an, wie viele behaupteten. Dem ärmsten Landmann, der ein Kind begräbt, ist es eine Art von Trost, ein schwaches hölzernes Kreuz auf das Grab zu stellen, es mit einem Kranze zu zieren, um wenigstens das Andenken so lange zu erhalten, als der Schmerz währt, wenn auch ein solches Merkzeichen, wie die Trauer selbst, durch die Zeit aufgehoben wird. Wohlhabende verwandeln diese Kreuze in eiserne, befestigen und schützen sie auf mancherlei Weise, und hier ist schon Dauer für mehrere Jahre. Doch weil auch diese endlich sinken und unscheinbar werden, so haben Begüterte nichts Angelegeneres, als einen Stein aufzurichten, der für mehrere Generationen zu dauern verspricht und von den Nachkommen erneut und aufgefrischt werden kann.
Aber damit ist der eigentliche Grund noch immer nicht benannt, warum die Angehörigen es nicht billigen können, daß die Grabdenkmäler an die Kirchenmauer versetzt wurden. Denn: Dieser Stein ist es nicht, der uns anzieht, sondern das darunter Erhaltene, das daneben der Erde Vertraute. Es ist nicht sowohl vom Andenken die Rede als von der Person selbst, nicht von der Erinnerung, sondern von der Gegenwart. Ein geliebtes Abgeschiedenes umarme ich weit eher und inniger im Grabhügel als im Denkmal, denn dieses ist für sich eigentlich nur wenig.

Herzgreifendes Handgreifliches. Auf das Wo also kommt es an; das Gegenständliche ist nicht unwichtig. Das zeigt übrigens auch jene ans Herz rührende Stelle im Johannesevangelium, wo geschildert wird, wie Maria aus Magdala das Grab Jesu aufsucht (Joh 20, 1.11-18). Dreimal heißt es, daß die Magdalenerin weinte; sie hat ja ihr Ein und Alles verloren und fühlt sich deshalb selber ganz verloren auf dieser Welt. Warum weinst du? Einen Lebenden hat sie nicht zu finden gehofft. Aber jetzt muß sie feststellen, daß auch der Tote nicht mehr da ist. Während in dem später eingefügten Abschnitt vom Grabgang der beiden Jünger (20,2-10) immerhin noch die Leinenbinden und das Schweißtuch erwähnt sind (20,6f), findet Maria aus Magdala nur noch das leere Grab. Keine Reliquie, kein Fetzen Tuch, nichts Gegenständliches ist da, das sie an ihre Brust pressen oder an das sie sich klammern könnte.
Diese ergreifende Szene zeigt uns, daß es eben nicht bloß naive Wundersucht oder kruder Aberglaube war, welcher die mittelalterlichen Pilgerscharen veranlaßte, die Gräber der Heiligen aufzusuchen; sie fanden dort, was die Magdalenerin vergeblich suchte. Die Geschichte vom Grabgang der Magdalena vermittelt uns eine Ahnung davon, was Reliquien eigentlich sind: gegenständliche Zeichen, die das vergegenwärtigen, worauf sie verweisen, nämlich die Liebe, die uns mit unseren Toten verbindet.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016