Castellio kontra Calvin oder Ein Leben für die Toleranz

23. Mai 2017 | von

Höchste Zeit, in diesem Reformationsjahr des inzwischen fast gänzlich vergessenen Humanisten 
Sebastian Castellio zu gedenken.

„Einen Menschen töten heißt nicht, eine Lehre verteidigen, sondern: einen Menschen töten.“ Da redet einer Klartext und der Toleranz, nicht nur der religiösen, das Wort. Und dies, nachdem er erleben musste, wie schnell die ehemals verfolgten Genfer Protestanten, die dem Papst gegenüber das Recht auf Glaubensfreiheit eingefordert hatten, selber zu brutalen Verfolgern wurden.
Ihren Anfang nimmt die Sache, als sich der Reformator Johannes Calvin im Mai 1536 auf der Durchreise nach Straßburg kurz in Genf aufhält und vom dortigen Prediger Guillaume Farel beschworen wird, sich in der Stadt für die Anliegen der Neugläubigen einzusetzen. Doch bereits 1538 werden Farel und Calvin aus Genf verwiesen, weil sie wegen einigen theologischen Querelen der gesamten Gemeinde das Abendmahl verweigerten.

Religiöse Bevormundung
Gut zwei Jahre später ruft der Rat der Stadt die beiden zurück, zwecks Klärung einiger theologischer Fragen. Aber Calvin stellt Bedingungen, unter anderem, dass „die Prediger allen zu befehlen haben, vom Höchsten bis zum Niedrigsten“. Die Ratsherren ahnen nicht, dass sie sich damit einem Fanatiker ausliefern. Der verfasst eine Kirchenzucht, die das gesamte öffentliche und private Leben einer minutiösen Regulierung unterwirft und dabei auf Denunziation, Überwachung und strengste Kirchenstrafen setzt. Schon das Fernbleiben von einem Gottesdienst ist ein grobes Vergehen. Sämtliche privaten Vergnügungen sind untersagt. Tanz gilt als Kapitalverbrechen, Theater als Tabu. 
In diesem von ihm etablierten Gottesstaat betrachtet sich Calvin als einzig berufener Ausleger der Bibel. Wer nicht für ihn ist, ist wider ihn. Wer schweigt, ohne ihm ausdrücklich zuzustimmen, betrachtet er als Todfeind. Gelehrte und Humanisten wie der romkritische und doch papsttreue Erasmus von Rotterdam oder der lutherische Melanchthon, die anders denken, bezeichnet er als Hunde, die gegen ihn belfern. Oder als Satansdiener.

Calvin als Inquisitor
1553 kommt es in Genf zum Eklat. Der spanische Arzt Michael Servet wagt es, Calvins Dreifaltigkeitslehre in einigen Punkten infrage zu stellen. Die Rache des selbstverliebten Gottesstreiters ist furchtbar. Auf sein Bestreben hin wird der Gegner gefangen gesetzt, schmachtet während Monaten unter den erbärmlichsten Bedingungen dahin, bis ihm sein Hemd in Fetzen vom Leib hängt. Aber standhaft weigert er sich zu widerrufen. Lebendig wird er auf Calvins Initiative hin am 27. Oktober 1553 vor den Toren Genfs verbrannt. Weitere Verurteilungen folgen.
Die Reformatoren in Bern, Basel, Schaffhausen und Wittenberg sind entsetzt. Denn mit diesem Vorgehen hat Calvin die römische Inquisition weit überholt, die immerhin erst auf Anzeigen hin reagierte. 
Doch Calvins Arm reicht weit über Genf hinaus, bis nach Basel. Dort hält sich sein früherer Freund Sebastian Castellio (1515-1563) auf. Ebenfalls der Reformation zugetan, hat auch er Einwände gegen die Trinitätslehre des Genfer Despoten. Außerdem hat der gebürtige Franzose Bibelübersetzungen in die lateinische und in die französische Sprache angefertigt, welche Calvins Missfallen erregen.
Nach der infamen Ermordung Servets unterzieht Castellio Calvins theokratisches System in einem in Latein verfassten Manifest mit dem Titel Ob man die Ketzer blutig verfolgen soll einer vernichtenden Kritik und macht sich damit seinen ehemaligen Weggenossen zum erbitterten Feind. Von Genf war er nach Basel geflüchtet, um nicht das gleiche Schicksal wie Servet zu erleiden. Dort verbringt er mit seiner Familie die letzten achtzehn Jahre seines Lebens in ärmlichen Verhältnissen – unter anderem als schlecht dotierter Professor für griechische Sprache und als Verfasser geisteswissenschaftlicher Werke, die teilweise erst nach seinem Hinschied veröffentlicht werden. Der zutiefst verletzte Calvin indessen gibt keine Ruhe. Seine Spione überwachen jeden Schritt des Kritikers und bringen es schließlich fertig, dass er vom Rat der Stadt als irregeleiteter Reformator angeklagt wird. Der Umstand, dass der erst 48-Jährige am 29. Dezember 1563 verstirbt, bewahrt ihn vor einer möglichen Verurteilung.

Diktatur versus Dialog
Calvin und Castellio – die Gegensätze zwischen diesen beiden der Reformation verpflichteten Gestalten könnten größer nicht sein. Der eine gebärdet sich als kompromissloser Diktator im Namen der Religion, der andere plädiert für Toleranz in Glaubensfragen. Der eine setzt auf Ketzerverbrennung, der andere auf Dialog. Mit allen Mitteln der Gewalt unterdrückt der eine schon den geringsten, zaghaft vorgebrachten Einwand, während der andere mahnt, die Gewissensfreiheit hoch- und Glaubensentscheidungen wertzuschätzen.
Zu denken gibt, dass ausgerechnet dieser Letztere der Vergessenheit anheimfiel.
In Basel erinnert erst seit 1982 lediglich ein kleiner Treppenweg unweit seines ehemaligen Wohnsitzes an den überragenden Gelehrten und Humanisten. 2016 hat die Bürgerschaft sich dazu aufgerafft, eine Gedenktafel zu seinen Ehren anzubringen – genau 501 Jahre nach seiner Geburt. Außer dem Geburts- und Sterbeort mit den entsprechenden Daten ist in fünf Sprachen jene zeitlose Mahnung aus Castellios Toleranzmanifest eingraviert, die bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat, nämlich, dass wer einen Menschen tötet, um eine Lehre zu verteidigen, einen Mord begeht.

Zuletzt aktualisiert: 28. Juli 2017
Kommentar