Damit wir klug werden

28. Mai 2015 | von

Vom 3. bis 7. Juni 2015 lädt die Evangelische Landeskirche in Württemberg unter dem Motto „damit wir klug werden“ zum 35. Deutschen Evangelischen Kirchentag nach Stuttgart ein. Unsere Autorin, Referentin im Fachbereich Missionarische Seelsorge im Bistum Hildesheim, nähert sich dem Losungswort des Kirchentags.




Eine Kirchentagslosung ist nicht nur obligatorisch. Sie ist essentiell. Sie gibt die Grammatik vor, unter der man dieses Großereignis deuten kann, darf und vielleicht sogar muss. Als ich das erste Mal von der Losung des Deutschen Evangelischen Kirchentags 2015 in Stuttgart las, war ich enttäuscht. 



2013 hatte ich meinen ersten Kirchentag in Hamburg erlebt. Der Himmel war blau und das Meer nah. So blau wie der Himmel waren auch die Fahnen, auf denen man überall die Losung lesen konnte: So viel du brauchst. Die Weltoffenheit und Weite des Meeres waren im gesamten Programm zu spüren. Alles war gut, und genauso (viel) wie wir es gebraucht haben. Die Losung war spürbar geworden, nachhaltig. 







Klug wie die Eule?



Meine anfängliche Enttäuschung lag nicht (nur) am Blick zurück. Der kleine Teilvers aus dem Psalter gab mir ein seltsames Gefühl. Vielmehr die Pointe der vier Wörter irritierte mich: Klug sein. Ist es wirklich erstrebenswert, klug zu sein? Wenn ich klug höre, denke ich an eine Eule. Sprichwörtlich. Und Eulen, nun ja, die machen erst mal nicht den Eindruck, so viel aus ihrer Klugheit heraus bewirken zu wollen. Vielleicht auch zu können. Wem nutzt die Klugheit der Eule? Sie sitzt ja scheinbar nur auf einem Ast, glotzt vor sich hin. Wem nutzt es, wenn wir klug sind, wenn ich klug bin? 



Ich habe gelernt, es ist ja in vielen Fällen sinnvoll, bei Anfragen an biblische Verse mir deren textliches Umfeld anzusehen. In diesem Fall schlage ich den Psalm 90 auf und beginne zu lesen. 







Psalm 90



Ich lese von viel Grundsätzlichem. Nicht umsonst wird in einigen Bibelausgaben dieser 90. Psalm Mose zugeschrieben. Eine hohe Gewichtung bekommt einen Namen. Ich lese von Leben und Tod. Von dem Zorn Gottes und dem Vergehen durch uns Menschen. Komme ich in die Nähe des Losungsverses, bekommt die Klugheit durch seine Einbettung im Text eine Ausrichtung: Wie wichtig es ist, Leben in seiner Begrenztheit mit einem weisen Herz und klug zu gestalten. Weil es zum einen endlich ist und sich somit erschließt, wertschätzend und achtsam mit der Zeit umzugehen, die uns eben in – aus weltlicher Perspektive – begrenztem Maße geschenkt ist. Weil es aber auch zum anderen zeigt, dass nachhaltiges Handeln kein Gedankenspiel ist. Vielmehr noch – auch das ist ja biblisch – erfordert die Endlichkeit unseres Lebens ein Verständnis dafür, dass andernorts zu anderen und zukünftigen Zeiten Leben weiter gelebt wird. Prof. Dr. Andreas Barner, Präsident des Kirchentages, deutet das so: „Denn fast alles wird ja nach uns weiter vorankommen – auch ohne uns.“ Klugheit bekommt eine Be-Deutung: für mich und auch für andere. Wir sitzen gerade nicht alleine auf einem Ast. 







Tausend Jahre wie ein Tag



An einer anderen Stelle des Psalms stocke ich beim Lesen: „Denn tausend Jahre sind für dich wie der Tag, der gestern vergangen ist, wie eine Wache in der Nacht.“ Was für eine Perspektive! Bloß woher kommt sie mir bekannt vor? 



Ab 1980 zeigte das ZDF fast zwei Jahrzehnte lang regelmäßig eine sehr erfolgreiche Comic-Serie mit dem Namen „Es war einmal der Mensch“. Sie beschäftigte sich mit der Geschichte der Menschheit, und ich kann mich sehr gut daran erinnern, dass sie mich als Kind stark geprägt hat. Das Titellied dazu wurde von Udo Jürgens geschrieben, der Text ist eindrücklich und der Vorspann beginnt mit diesen Fragen: 

 



Weißt du wieviel‘ Sterne stehen



Und wohin die Flüsse gehen?



Sag‘, warum der Regen fällt,



Wo ist das Ende dieser Welt?





Der Refrain mündet in die folgenden Zeilen und es begegnet uns Bekanntes: 





Was ist Zeit? 



Ein Augenblick



Ein Stundenschlag



Tausend Jahre sind ein Tag!



Weiter lesen sich diese Fragen: 



Wie wird der Mensch zum Nimmersatt,



Wer alles hat, kriegt noch Rabatt,



Und woher kam die Gier nach Geld?



Wie kommt der Hunger auf die Welt?



Ist diese Welt denn noch erlaubt?



Die Erde ist bald ausgeraubt,



Das Wasser tot, das Land entlaubt,



Der Himmel luftdicht zugeschraubt...

 



Das Nachschlagen dieses Liedtextes mit dem eben markanten Titel „Tausend Jahre sind ein Tag“ bringt für mich nach Jahren Überraschendes ans Licht. Nicht nur, weil ich dabei die wörtliche Verbindung zum Psalm 90 finden kann. Der Text liest sich vielmehr wie ein Kommentar zum Bibeltext: Er deutet das Klug werden. Wo zeigt sich unsere fehlende Perspektive, unser mangelndes Verständnis von der Zeit die unserem Leben gegeben ist? Udo Jürgens und diese Kindersendung stellen die Fragen, an denen wir Christen uns messen lassen müssen. 





Gemeinsamer Auftrag



Die Frage nach dem Klug sein. Und nach der Zeit. Sie lohnt sich, auch für uns als römisch-katholische Christen, als Volk Gottes gemeinsam unterwegs. Es lohnt sich, diese Losung des Kirchentags als gemeinsamen Auftrag (mit-) zu lesen. Damit wir gemeinsam klug sind. Gemeinsam Fragen stellen. Gemeinsam(e) Sendung verspüren, erfahren und ihr folgen. Damit auch in diesem Jahr die Losung spürbar werden kann – weit über den zeitlich und örtlich begrenzten Kirchentag hinaus.




 




Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016