Darmstadts Musenhügel

01. Januar 1900 | von

Im 19. Jahrhundert breitete sich auf der Mathildenhöhe noch der großherzogliche Park aus. Zar Nikolaus II. war von diese Stelle so angetan, daß er sie zum Standort seiner Russischen Kapelle bestimmte, die er 1897 bis 1899 bauen ließ. Nicht ganz uneigennützig - weilte er doch öfters auf Einladung seines Schwagers Großherzog Ernst Ludwig in Darmstadt und wollte dort nicht auf ein eigenes orthodoxes Gotteshaus verzichten. So entstand ein sehr ungewöhnliches Gebäude, das noch heute durch seinen reichen Mosaikschmuck besticht.

Kunst für alle Lebensbereiche. Ernst Ludwig ließ ihn gern gewähren - war doch dieser Regent einer der größten Förderer der Künste seiner Zeit. Er stiftete einen Teil dieses wahrhaft schön gelegenen Geländes, um dort eine Künstlerkolonie anzusiedeln. Eine Gruppe von sieben Künstlern (Architekten, Malern, Bildhauern) sollte vor Ort wohnen und als erste gemeinsame Aufgabe ihre Wohn- und Arbeitsstätten selbst bauen und entsprechend präsentieren. Die Jahrhundertwende markierte auch ein Umdenken in der Kunst. Der Historismus mit all seinem Schwulst und Sofatroddeln hatte sich totgelaufen. Eine Kunst sollte entstehen, die alle Lebensbereiche erfaßt - klar, edel, elegant, ohne überflüssigen Schnickschnack: Der Jugendstil - benannt nach der Zeitschrift Die Jugend. Darmstadt wurde (neben Wien zum Beispiel) eines der geistigen Zentren.
Die Ausstellung Ein Dokument deutscher Kunst von 1901 versuchte erstmals, eine Essenz dieser umwälzenden Ideen zu zeigen und ging damit in die europäische Kunstgeschichte ein. Und begründete nicht zuletzt Darmstadts Ruf.

Schwingende Ornamentik. Mit eindrucksvollem Portal - der mit schwingenden Ornamenten ausgeschmückte Bogen wird von den kolossalen Statuen Adam und Eva flankiert - bildet das Ernst-Ludwig-Haus das Hauptgebäude der Mathildenhöhe. Von Josef Maria Olbrich, dem Hauptprotagonisten und führenden Kopf der Künstler-Kolonie, entworfen, enthält es heute unter anderem ein Museum des Darmstädter Jugendstils und zeigt dem aufmerksamen Beobachter die österreichischen Jugendstilelemente, die aus der Heimat des Architekten in den Bau miteingeflossen sind. Drumherum gruppieren sich sieben Wohnhäuser, die mit ihren teilweise mächtigen Walmdächern die typische Architektur dieser Zeit zeigen und an das Bild so mancher (heute leider fast völlig verschwundenen) ländlichen Villa erinnert.

Geometrischer Stil. Das Große-Glückert-Haus wurde bereits in den sechziger Jahren durch die Stadt vollkommen renoviert und bietet uns heute mit seiner phantasievollen Dacharchitektur und prachtvollen Innenausstattung die beste Vorstellung eines Olbrich’schen Jugendstilbaus. Am Westrand der Mathildenhöhe steht das Behrens-Haus des gleichnamigen Hamburger Architekten. Sehr viel strenger und in seiner Ausstrahlung fast als sakral zu bezeichnen, steht es für die geometrische Linie (im Gegensatz zur floralen) des Jugendstils.
Der Zweite Weltkrieg hinterließ leider auch in der Mathildenhöhe unübersehbare Narben. Ein gutes Bild vom Originalzustand vermittelt uns ein 1:200 Modell im Foyer des Ausstellungsgebäudes.

Diese markiert zugleich den höchsten Punkt der Mathildenhöhe und wurde 1906/1907 über den Hochbehälter der städtischen Wasserversorgung errichtet. Der große Höhenunterschied mit seinen architektonisch-statischen Problemen wurde durch weiträumige Terrassen gegliedert und damit bravourös gelöst.

Fünffingerturm. Der Hochzeitsturm von 1907/1908, neben den Ausstellungshallen gelegen, war ein langgehegter Wunschtraum Olbrichs aus den Anfängen der Künstlerkolonie. Anlaß für den Bau war die Hochzeit Ernst Ludwigs (1905), zu der ihm die Stadt als nobles Geschenk diesen fast 50 Meter hohen Turm schenkte. Der schlanke, aus hartegbrannten Klinkern errichtete Turm wird von einem dreifach gestuften Helm gekrönt. Die Meinung über das eigenwillige Bauwerk war zunächst sehr geteilt, doch mit seinem fünfzinnigen Abschluß die Finger einer Hand symbolisierend (die Darmstädter nennen ihn auch dne Fünffingerturm), ist der Turm seit 1981 Nationales Naturdenkmal und heute das beliebteste Wahrzeichen der Stadt.

Dauerhafte Impulse. Olbrich, der die dauerhaftesten Impulse zu geben vermochte, starb bereits 1908 in sehr jungen Jahren. Seine Ideen hingegen lebten weiter, denn auch im Umfeld der Ausstellungsfläche entstanden bis 1914 eine Reihe repräsentativer Villen von bedeutenden Architekten auf Darmstadts Musenhügel und Stadtkrone.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016