Das Angesicht - Spiegel der Seele

12. Dezember 2007 | von

Unsere Sprache gibt in vielen Redewendungen Zeugnis davon, wie wichtig Kopf und Gesicht im menschlichen Miteinander sind. Einige Beispiele: Eine Konfrontation von Angesicht zu Angesicht ist bedrohlicher als ein feindseliger Briefwechsel. Im Umgang mit fremden Menschen und feindlich Gesinnten hat man Angst vor dem Gesichtsverlust. Jemandem die Stirn bieten, bedeutet, ihm Widerstand leisten. Viele Sprachbilder verbinden sich mit dem Kopf, dem Gesicht und der Stirn.

Ehrvoll oder verachtend. Während der Kopf den ganzen Menschen repräsentiert und bei Volkszählungen die Köpfe gezählt wurden, so blieb doch das Angesicht der Brennpunkt einer Person. Jemandem das Gesicht zuwenden ist Ausdruck der Kontaktaufnahme, der Beziehung und des Wohlwollens.

Der offenherzige und ehrliche Mensch bewahrt sich einen freien Blick, der Mensch, der böse Absichten hegt, senkt seinen Blick und schaut finster. Das Gotteswort, das an Kain erging, bevor er mit seinem Bruder Abel aufs Feld hinausging, um ihn zu erschlagen, lässt uns durch das Angesicht hindurch ins Herz schauen: „Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht. Da überlief es Kain ganz heiß und sein Blick senkte sich. Der Herr sprach zu Kain: Warum überläuft es dich heiß und warum senkt sich dein Blick? Nicht wahr, wenn du recht tust, darfst du aufblicken" (Gen 4,4-7). Auch Scham kann das Gesicht der Menschen bedecken (vgl. Ps 44,16; 69,8). Ausdruck größter Verachtung ist es, jemandem ins Gesicht zu spucken (Num 12,14; Dtn 25,9). Jesus hat in seiner Passion auch diese Schmähungen ertragen (Mt 26,67).

Wenn Gott einem Menschen erscheint oder ihn durch einen Engel anspricht, kann es sein, dass er fassungslos wird und in Ehrfurcht auf sein Angesicht fällt. Abraham kann als erstes Beispiel genannt werden. Der Neunundneunzigjährige, dem JHWH erschien, um ihm die Bundesstiftung und reiche Nachkommenschaft zu verheißen, warf sich auf sein Angesicht, während Gott mit ihm redete (vgl. Gen 17,1-3). Ähnlich erweisen Manoach und seine Frau dem Engel JHWHs die Ehre (Ri 13,20).

Gottes Antlitz suchen. In manchen Kulturen wird noch heute durch Tätowierung oder einen Farbpunkt die Stirn als „Mitte" gekennzeichnet. Zeichen auf der Stirn haben die Zugehörigkeit zu einer Gottheit ausgewiesen! Ähnlich ist auch das T-Zeichen zu verstehen, das ein Beauftragter JHWHs den Geretteten in der dem Untergang geweihten Stadt Jerusalem als Schutzzeichen auf die Stirne geprägt hat (Ez 9,4; vgl. Offb 7,3). Es waren jene, die an den Gräueltaten, die in der Stadt begangen wurden, keinen Anteil hatten und unter ihnen litten.

Menschen haben ein Verlangen nach dem Angesicht Gottes. Dieses Verlangen wurzelt in dem Glauben, dass JHWHs Bundesschluss mit Israel seine huldvolle Zuwendung bedeutet. Immer mehr kehrt in den Psalmen der Gebetsruf wieder: „Herr, lass dein Angesicht über uns leuchten" (Ps 4,7; 80,20). Gott verbirgt sein Angesicht, wie die Leben spendende Sonne verdunkelt werden kann. Doch das göttliche Antlitz bleibt letztlich Israel zugewendet. Voll Sehnsucht zieht der Pilger nach Jerusalem hinauf und fragt: „Wann darf ich kommen und Gottes Antlitz schauen?" (Ps 42,3). Weil aber das Angesicht JHWHs das des Heiligen und Gerechten ist, werden nur jene sein Angesicht schauen, die recht-schaffen sind (vgl. Ps 11,7). Beim Einzug der Pilger in den Tempel werden die Beter aufgefordert: „Jauchzt vor dem Herrn, alle Länder der Erde. Dient dem Herrn mit Freude. Kommt vor sein Antlitz mit Jubel" (Ps 100,1f). Vor dem Angesicht dieses Gottes fällt man nieder und verharrt in tiefer Verneigung (vgl. Ps 95,3ff). Wer aber auf diese Weise im Heiligtum sich Gott nähert und auf sein Angesicht fällt, der begegnet Gott nicht buchstäblich von Angesicht zu Angesicht. „Vor das Angesicht Gottes treten" ist in Israel eine symbolische Rede, die etwas über die tiefe Beziehung zwischen Gott und Mensch aussagen möchte. In der Frühzeit Israels scheute man sich nicht, eine Offenbarung Gottes Begegnung von Angesicht zu Angesicht zu nennen.

Auge in Auge. Nach dem nächtlichen Kampf mit dem ihm unbekannten Starken, vor der Überschreitung des Jabbok, erkennt der Patriarch Jakob, dass er mit JHWH gerungen hat und nennt den Ort des Kampfes Penuël, „Angesicht Gottes". Jakob sagte: „Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und bin doch mit dem Leben davon gekommen" (Gen 32,31). Auch die Begegnung JHWHs mit Mose wird in einer älteren Überlieferung wie die Begegnung zweier Menschen beschrieben: „JHWH und Mose redeten miteinander Auge in Auge, wie Menschen miteinander reden" (Ex 33,11).

Eine spätere Tradition berichtet, dass JHWH die Bitte des Mose, Gottes Herrlichkeit zu schauen, um eine Bestätigung seiner bleibenden Gegenwart während der Wanderung des Volkes zu haben, abgelehnt hat (Ex 33,18). Zwar geht JHWH an seinem auserwählten Freund vorbei, lässt ihn seine Göttlichkeit aber nur von rückwärts schauen (Ex 33,20-23). Gregor von Nyssa deutet diese geheimnisvolle Stelle als Unterweisung, die Mose und auch uns zuteil wird: „Gott folgen, wohin immer er auch führt, das heißt, Gott schauen."

Im babylonischen Exil, fern der Möglichkeit, Gott in seinem Heiligtum aufzusuchen, werden Klagen und Fragen laut: „Warum, o Herr, verwirfst du mich, warum verbirgst du dein Gesicht vor mir?" (Ps 88,15). Alle Lebewesen verdanken ihr Sein dem zugewandten Angesicht Gottes, das Erbarmen, Liebe und Freundschaft schenkt. Das lichtvolle Angesicht Gottes schafft Leben: „Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, in deinem Licht schauen wir das Licht" (Ps 36,10).

Die wohl schönste Form, die unser Angewiesensein auf Gottes Zuwendung ausdrückt und zweimal JHWHs Antlitz als Quelle des Segens nennt, ist der Segen, der den Söhnen Aarons anvertraut wurde: „So sollt ihr die Israeliten segnen ... Der HERR segne dich und behüte dich. Der HERR lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir gnädig. Der HERR wende sein Angesicht dir zu und schenke dir Heil" (Num 6,23-26).

Glanz der Verklärung. Als Jesus Petrus, Jakobus und Johannes auf einen hohen Berg führte, „wurde er vor ihren Augen verwandelt; sein Gesicht leuchtete wie die Sonne". Und als sie die Himmelsstimme aus der Wolke hörten, „bekamen sie große Angst und warfen sich mit dem Gesicht zu Boden" (siehe Mt 17,1-9). Das leuch-tende Angesicht des Herrn macht Jesus in diesem Moment „durchsichtig" für die Zuwendung und Herrlichkeit Gottes, der sich gewöhnlich nur in Worten und Taten manifestiert.

Der Glanz der Verklärung ist ein Zeichen, dass Gott selbst sich in Jesus ein Antlitz gegeben hat. Auf die ausdrückliche Frage des Philippus „Herr, zeig uns den Vater" antwortet ihm Jesus „wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen" (Joh 14,8f). Wo aber ist Gottes Herrlichkeit im Antlitz eines Ohnmächtigen, den man verhöhnt und schlägt (siehe Mt 26,67; Mk 14,65)? Es ist die revolutionäre Botschaft, dass Gott gerade dieses Angesicht zu seinem Angesicht macht. Im Weltgericht (Mt 25,31-46) wird der Menschensohn die „Gesegneten" in das Reich des Vaters führen, weil sie in den Hungernden, Dürstenden, Nackten, Kranken und Gefangenen sein Antlitz in der Gestalt des Leidenden erkannt haben.

Blick und Ansehen. „Wir haben von Jesus kein authentisches Bild, kein Foto, keine Filmaufnahme, keine handschriftlichen Dokumente, keine Unterschrift, keinen genetischen Code, aber: Die Seligpreisungen spiegeln das Antlitz, das Gesicht, die Identität Jesu, sie stehen im Herzen der Predigt Jesu. Dieses Antlitz Jesu vermittelt, wer Gott für uns Menschen ist. Jesu Blick auf die Menschen bleibt nicht an der geschminkten, geschönten, gestylten Oberfläche stehen. Jesu Blick geht in die Tiefe; er vermittelt Würde, Zuwendung, Leben und Hoffnung. In Jesus, in seinen Seligpreisungen schreibt Gott das Hoheitszeichen seiner Liebe und Würde auf die Stirn eines jeden Menschen, des Freundes und Feindes, des Armen und Geringen. So ist es uns versagt, von uns selbst, von den anderen, von den Schwachen gering und verächtlich zu denken. Wir würden Gott selbst verachten und ihn gering schätzen."

„Vielen ist das Bild von Franz Jägerstätter vertraut. Bei diesem Foto sind es gerade die Augen, die eine große Klarheit und Tiefe vermitteln. In diesen Augen spiegeln sich das Selbstbewusstsein, die ganze Überzeugung, das Zeugnis und auch der Glaube Franz Jägerstätters wider. In diesen Augen wird deutlich, dass Franz Jägerstätter von Gott her ein Ansehen hat und so dem Evangelium ein Gesicht geben kann." Die beiden letzten Absätze sind dem Buch „Selig die keine Gewalt anwenden. Das Zeugnis des Franz Jägerstätter", Tyrolia Verlag, entnommen (S. 86 f). Der Autor Manfred Scheuer, seit 2003 Bischof von Innsbruck, war Postulator im Seligsprechungsprozess. Als Märtyrer des Gewissens wurde der oberösterreichische Bauer, der am 9. August 1943 wegen der Zersetzung der Wehrkraft auf dem Schafott in Berlin hingerichtet wurde, am 26. Oktober 2007 im Mariendom zu Linz selig gesprochen.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016