Der gefährliche Traum vom perfekten Menschsein

01. Januar 1900

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ie Leser der Technology Review (und ähnlicher Fachpublikationen) werden heutzutage anders eingestimmt: auf das Schatzhaus der Möglichkeiten. In ihm, so heißt es, laufe das spannendste, umstrittenste und verschwiegenste aller wissenschaftlichen Unterfangen, die Jagd nach den embryonalen menschlichen Stammzellen. Wer sie in der Retorte zu kultivieren lernt, der kann neue Organe nachwachsen lassen – Herzen, Nieren, Knochen, ganz nach Belieben. Auf dem Weg zum ewigen Leben sind das womöglich die Bausteine, nach denen sich nicht nur Transplantationschirurgen sehnen.

Hoher Preis. Wer die Stammzellen des ungeborenen Menschen in seine kundigen, notwendigerweise skrupellosen Finger bekommt, der ist auch dem Klon nicht fern. Der menschliche Klon, die Dublette des Individuums auf Bestellung, ist das Substrat der Unsterblichkeit – er besiegt den Tod, so wie früher der Glaube. Tag für Tag neue Schlagzeilen, Klonierung, Entschlüsselung des Erbguts, immer neue Erkenntnisse in Gen- und Gehirnforschung, Das Krebsgen isoliert, das Alzheimersubstrat entdeckt, Diabetesblocker in Sichtweite et cetera. Alles mit hoher Rasanz, oft genug hohem Pathos vorgetragen und in den Medien werbewirksam verbreitet. So viel Durchbruch war nie!, scheint es. Aber der Preis ist hoch.

Problemzonen und Fragen sind vielfältig. Von der Empfängnisregelung, über die Theorie, wann Leben beginnt und damit schützenswert ist, Retortenbefruchtung, embryonenverbrauchende Forschung, reproduktivem oder therapeutischem Klonen, Pränatal- oder Präimplantationsdiagnostik, der eine Pol. Der andere ist besetzt mit: medizinisch assistiertem Suizid (aktive Euthanasie als Tötung auf eigenes Verlangen, Behandlungsbegrenzung oder -abbruch als passive Euthanasie), Bestimmung des Todeszeitpunktes. Jedes einzelne Thema in sich hochkomplex in der ethischen Theorie, aber auch der medizinischen, wissenschaftlichen und juristischen Praxis. Und oft werden sie in einer Art sektoriellem Denken behandelt, hochspezialisiert, nicht leicht nachvollziehbar. Doch der Wunsch nach dem perfekten Körper und Leben, der Anspruch auf ein möglichst leidfreies (für sich), bequemes (für Angehörige) Ableben stehen ausgesprochen oder unausgesprochen Pate.

Rasterfahndung: Kaum haben sich Samen- und Eizelle getroffen, steht der Embryo unter immer stärkerer Kontrolle und Aufsicht. Medizinisch assistierte Menschwerdung beginnt lange nicht mehr allein im Mutterleib. Gentechnik eröffnet uns die tiefreichende Macht, unsere Kinder und die Zukunft unserer Art zu formen, verkündet Gregory Stock, einer der Großen der Zunft, Direktor des Programms Science, Technology and Society an der University of California in Los Angeles. In den Vereinigten Staaten seien, so Stock, Manipulationen der menschlichen Keimbahn unaufhaltbar. Der Biophysiker weiß, was das bedeutet: In vielen Bereichen beginnen wir, Gott zu spielen ... – Pause – ... und wir können nicht zurück. – Hormoncocktails auf der anderen Seite sollen Greise jugendfrisch halten. Biologen hoffen auf die Entwicklung einer Gedächtnispille, auf nachwachsende Gliedmaßen aus der Retorte. Klonduplikate fungieren als Organreservoirs. Optimistische Wissenschaftler erwarten eine Verdreifachung der Lebenserwartung, versprechen jahrzehntelangen Stillstand im Prozess des Alterns.

Ist es bald so weit? Unbestritten boomt dieser Zweig der Medizin. Für Forschung und Medien ein profitables Gelände. Die Beschäftigung mit den ersten und letzten Fragen des Mensch-Seins ist keine blutleere akademische Diskussionswissenschaft mehr, sondern Business. Es wird viel Geld hineingesteckt. Noch mehr soll (und wird) herauskommen.
Ist es schon so weit? Anfragen an das Menschenbild, Anfragen an die konkrete Verantwortung in Medizin, in Forschung und nicht zuletzt im juristischen Bereich. Es ist dabei nicht eben leicht, einen Weg zwischen hochgezogenem Optimismus und Verteufelung zu finden. Der bedeutendste Wandel in der Geschichte der Menschheit hat begonnen, verkündet Michael Fossel, Professor für klinische Medizin an der Michigan State University. Mit ihm erwarten immer mehr Naturwissenschaftler einen evolutionären Sprung nach vorn: ein ganz langes, womöglich ewiges Leben auf Erden. In wenigen Jahren, prophezeit Philipp Lee Miller vom Longevity Institute in Los Gatos, USA, werden sich 80-Jährige wie 20 fühlen und Sport treiben wie junge Leute.

Aber die Kluft zwischen Erkenntnis, Diagnose und Therapie ist noch riesig. Wer erinnert sich noch an die Glücksverheißungen der Atomindustrie aus den fünfziger und sechziger Jahren? Die Kernkraft galt als Schlüssel zum Schlaraffenland der Energie; irgendwelche Folgeprobleme waren nicht vorgesehen. Und wie verhält es sich mit der Künstlichen Intelligenz, deren Propheten schon vor 30 Jahren für die Jahrtausendwende Maschinen versprachen, die alle Leistungen unseres Gehirns bei weitem übertreffen sollten? Niemand vergleicht diese Vorhersagen mit dem armseligen Ergebnis milliardenschwerer Investitionen, jener elektronischer Schildkröten, die Mühe haben, eine Treppe zu überwinden. Und während die Medien jeden Fortschritt, besonders der medizinischen Forschung, mit Schlagzeilen begrüßen, schrumpfen die geschäftsschädigenden Risiken und Nebenwirkungen, solange sie nicht katastrophale Dimensionen annehmen, auf eine Randnotiz im Wissenschaftsteil der Tageszeitung.
Dennoch muss man schlicht und ergreifend feststellen, dass Entdeckungen und Entwicklungen der Gen- und Biotechnik, der Gehirnforschung bisher nicht selten Grundlagenforschung bleiben. Wer jetzt schon mit Unsterblichkeitsphantasien die Werbetrommel rührt, stellt ungedeckte Schecks aus. Ruhigere und vorsichtigere Forscher weisen auf die weiten und mühsamen, nicht selten selbst riskanten Wege und Zeitspannen hin, die es braucht, bis wirksame, ethisch wie medizinisch verträgliche Methoden und Medikamente entwickelt werden können.

Mitleid? Nie fehlt bei dieser rasanten Entwicklung der Hinweis auf die menschenfreundlichen Absichten, deren sich noch jedes utopische Projekt, von Campanella bis Stalin, gerühmt hat. Die Züchtung von menschlichen Ersatzteillagern gilt als therapeutischer Imperativ, die Festplatte garantiert die Unsterblichkeit des Bewusstseins, der Kinderwunsch stellt sich als absolutes Menschenrecht dar, und so weiter und so fort. Das nur allzu begreifliche Interesse der Eltern an perfekten Kindern soll die Evolution der Spezies befördern, und selbst die Abschaffung des Menschen, von der die Exponenten der Künstlichen Intelligenz schwärmen, dient noch einem höheren evolutionären Zweck – eine Version des Darwinismus, die Darwin selbst kaum kurzweilig gefunden hätte. Der Phantasie sind jedenfalls keine Grenzen gesetzt. Spätestens dann wird die Katze aus dem Sack gelassen, wenn zu solchen Begründungen die Sorge um die heiligen Arbeitsplätze und um die Konkurrenzfähigkeit des Standorts tritt. Bisweilen wird es gerade mit dem Mitleidsargument zynisch: Skeptiker der rasanten Entwicklung werden abgebügelt: Ihr seid gegen Klonierung (etc.), also seid ihr auch dagegen, dass diesem Krebspatienten, jenem Alzheimer-Opfer geholfen wird. So einfach geht das. Gerade Behinderte müssen in manchen Bereiche der Diskussion den Eindruck bekommen, ihr Lebensrecht sei schon mit der Behinderung verwirkt, konzentriert man doch alle Anstrengungen darauf, Menschen wie sie in Zukunft zu vermeiden.

Vernetztes Denken vor Schwierigkeiten und Chancen – auch in den Biowissenschaften gibt es eine schweigsame Mehrheit, die ihr Selbstverständnis und ihre Standards in Gefahr sieht. Nicht selten sind es gerade Wissenschaftler, die sich nicht in die Fänge von Medien- und Wirtschaftsinteressen begeben haben. Allerdings bringt sie ihre Einwände so dezent vor, dass sie in der Medienöffentlichkeit kaum Gehör findet: mehr Wissen, mehr Handlungsmöglichkeiten, mehr Urteilsnotwendigkeiten, mehr Entscheidungen, mehr Verantwortung. Tatsache ist, dass ein ethischer Konsens in den grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz schlechterdings nicht mehr vorhanden ist. Darin liegt eine Überforderung, der die meisten Menschen kaum gewachsen sein dürften. So lange jedoch, wie es dem Einzelnen noch freisteht, von den Errungenschaften, die der wissenschaftlich-industrielle Komplex verspricht, keinen Gebrauch zu machen, also in einer Übergangsphase, bleibt ihm noch die Möglichkeit zu sagen: Mit mir nicht (so der Publizist und streitbare Essayist H. M. Enzensberger). Bisher jedenfalls ist es noch erlaubt, ohne Leihmütter, Xenotransplantationen, Klonen und pränatale Selektion auszukommen.

Solidarverantwortung? Das ist der ethische Ausgangspunkt, der mitgeformt wird von Themen und Stichworten wie: Machbarkeitsdenken, Anspruchsdenken (unbegrenzte Lebensqualität), Artifizialität oder Reproduktionen, Kommerzialisierung und Ökonomisierung weiter Lebens- und Sterbensbereiche, von Isolierung und Anonymisierung des einzelnen, Handlungsdruck und Schnelligkeit, mangelndes Wissen und Überforderung, aber auch ein gewisses Menschenbild (medial vermittelt der Traum: dynamisch, jung oder junggeblieben, gesund und aktiv). Was dabei zu Wort kommt, sind punktuelle Erfolge, hohe Erwartungen (aber nicht die Schere zwischen Diagnosefähigkeiten und Therapiemöglichkeiten), das Mitleidsargument, das Wirtschaftsargument (Standortsicherung). Sehr selten wird die Verbindung der Spezialforschung im Gentechnik-, Genmedizinbereich zum allgemeinen Gesundheitswesen gezogen: Dort wird massiv auf Zukünftiges hin investiert, hier bedroht Sparzwang Grundversorgungen im komplexem Feld von Gesundheits-, Forschungs-, Wirtschafts-, und Versicherungspolitik, sehr selten kommt zu Wort die Frage, wie es angesichts des Tanzes um das Goldene Gesundheitskalb in unseren Breiten mit der gesundheitspolitischen Solidarverantwortung für den Rest der Welt aussieht.
Hungerproblem? Ökologieproblem? Entwicklungshilfe? Europa und Nordamerika vor allem investieren woanders. Die Fragen sind zu vielschichtig für einfache Lösungen. Allerdings muss auch klar sein, dass jeder Fortschritt Folgen und Kosten hat. Nur ist keineswegs klar, ob nicht am Ende vor allem diejenigen den Preis zahlen müssen, die überhaupt keine Mittel haben: die armen Kranken, die armen Länder, aber auch die alternative Wissenschaft und Forschung. Im advokatorischen Blickwinkel der theologischen Ethik in der Option für die, die zu kurz kommen, wird Verantwortung erst dann wahrgenommen, wenn auch diese Perspektiven mitbedacht werden.

Zufall als Chance? Theologische Ethik sieht im Menschen ein personales Wesen mit einer biologischen Natur. Er ist damit, gegen den Dualismus Descartes‘ von Natur (res extensa) und Geist (res cogitans), aber auch gegen die definitorischen Abspaltungen ganzer Lebensphasen (wie im Präferenzutilitarismus) eine Leib-Seele-Einheit: Der Mensch ist sein Leib und hat ihn zugleich als Körper. Damit wird sowohl ein psychophysischer Dualismus wie auch ein biologischer Monismus abgewiesen. Jeder Mensch verfügt über seine biologische Leiblichkeit und trägt dafür Verantwortung. Das meint auch, dass das biologische Grunddatum des Lebens nicht als lebensunwert selektiert oder definiert werden darf, meint zudem, dass integrale Bestandteile und Phasen nicht schlechterdings aus dieser Einheit ausgeschlossen werden dürfen. Zugleich ist mit der Naturwüchsigkeit des Ursprungs die genetische Kontingenz als Schutz vor fremdbestimmter Manipulation verbunden: Gene sind biologische Lebensbausteine, auf die sich die Personalität des Menschen nicht reduzieren lässt.
Die spezifische Eigenart des Menschen ist aus der Sicht theologischer Ethik biologisch die Genkombination und theologisch die Geistseele als Möglichkeit des Selbstbewusstseins. Das Recht auf Zufall/Recht auf Nichtwissen stellt sich in dieser Sicht als Potential der Menschenwürde dar. Letztes und nicht mehr hintergehbares Fundament der ethischen Verbindlichkeit ist die Achtung vor der Würde des Menschen. Das schließt das Verbot ein, eine menschliche Person, die immer die Anlage zum Subjektsein besitzt, bloß als Mittel oder Objekt zu gebrauchen.

Zum Leben berufen. Den genetisch normalen Menschen gibt es nicht, nur den der statistischen Häufigkeitsnorm mehr oder minder entsprechenden Menschen. Aus christlicher Sicht hat jedes menschliche Leben seinen letzten Sinn durch die Berufung Gottes und seine Gottesbildlichkeit. Jedes Individuum deutet selbst seine eigene individuelle Normalität als Sinn, und dies in Vermittlung zur Freiheit und zum Sinnentwurf des Mitmenschen. In dieser Perspektive werden Leid, Krankheit, Sterben und Tod nie als solche, immer aber im Sinnzusammenhang einer christlich-persönlichen Berufung akzeptiert und gedeutet. Fehlen jedoch solche transzendenten Sinnzusammenhänge, so liegt der technisch machbare Traum vom genetisch vollkommenen Menschen nahe.
Alle großen Religionen dieser Erde verheißen dem Gläubigen Unsterblichkeit, denn der Mensch trägt schwer an seinem Wissen von der Endlichkeit alles Irdischen. Doch diese Versprechungen – Auferstehung, Wiedergeburt, ewiges Leben – schenken immer weniger Menschen Trost. Sie fürchten den Tod als Ende, nicht als Verwandlung, jedes Leid als Bedrohung, Begrenzung und Wertminderung.

Fehlt die Hoffnung wird endliches Leben unerträglich. Zumindest die Werbetrommel, die das Bermudadreieck von Wissenschaft, (Wirtschaft-)Politik und Medien an manchen Stellen anrührt, macht sich diese Lücke zunutze, inszeniert eine utopisches Feuerwerk, das selbst Züge eine technischen Religion trägt. Im Namen des Labors.
Tod, wo ist dein Stachel? – fragt Paulus angesichts eines Gottes, der sich auf Grenze, Leid und Tod einlässt – und das Nicht-Perfekte erwählt.

 

Ursel Fuchs, Die Genomfalle. Die Versprechungen der Gentechnik, ihre Nebenwirkungen und Folgen, Düsseldorf 2000.
Dietmar Mieth, Die Diktatur der Gene. Biotechnik zwischen Machbarkeit und Menschenwürde, Freiburg i.Br. 2001.
Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016