Der Streit um den Toten beginnt

23. Juni 2017 | von

In Windeseile verbreitet sich die Nachricht vom Tod des heiligen Antonius. Scharen von Menschen eilen herbei, um gemeinsam zu trauern – und bald um den Leichnam des künftigen Heiligen zu streiten. Der Anfang eines noch längeren Krimis...

Mit aller Sorgfalt und großer Vorsicht versuchten die Brüder, den seligen Tod des Antonius vor den Außenstehenden wie auch vor den Freunden und Bekannten geheim zu halten, um nicht von den Menschenmengen überrannt zu werden. Dann aber machte sich ein Schwarm von Kindern daran, durch die Stadt zu eilen und dabei auszurufen: „Der heilige Vater ist gestorben! Der heilige Antonius ist tot!“ Als die Bevölkerung das hörte, eilten die Menschen in Scharen nach Arcella und ließen ihre Arbeit, mit der sie ihren Lebensunterhalt verdienten, liegen. Die Niederlassung der Brüder wurde wie von Bienenschwärmen umzingelt. 

Gemeinsame Totenklage
Als erste von allen stürzten – gleichsam wie ein Blitz – die Bewohner von Capo di Ponte, einem kleinen Dorf nördlich von Padua, in großen Scharen herbei. Unter ihnen waren zahlreiche starke junge Männer, und ohne lange zu zögern, stellten sie bewaffnete Wachen rings um den Konvent. Dann erschienen verschiedene Ordensleute; es kamen Menschen beiderlei Geschlechts, Jugendliche und Kinder, Alte und Heranwachsende, Kleine und Große, Freie und Sklaven. Und alle begannen mit vereinter Stimme und verbunden durch gemeinsame Trauer zu jammern, um so durch Klagen und Tränen ihre aufrichtige Anteilnahme auszudrücken.
„Wo gehst du hin,“ riefen sie aus, „wo gehst du hin, o Vater, um nicht zurückzukehren – du, der du der Vater von Padua warst, sein Streitwagen und Wagenlenker? Wohin gehst du ohne deine Kinder, o verehrter Vater? Welch anderen wahrhaftigen Verkünder des Wortes Gottes, dir ähnlich, werden wir Waisen finden? Denn du bist es gewesen, der uns durch das Evangelium in Jesus Christus gezeugt hat.“ Auf diese Weise luden der Schmerz aller und die Not eines jeden mit unaufhörlichen Seufzern und mit Wehklagen, das sich heftig erhob, zum Jammern und zur Trauer der Seele aller Umstehenden ein.

Ein neuer Mitbürger im Himmel
Wie groß war die Trauer aller – und wie besonders untröstlich war das Klagen der armen Frauen! In ihrer weiblichen Empfindsamkeit gelang es ihnen ganz und gar nicht, ihre Tränen zu zügeln, sie klagten aus tiefstem Herzen und vergossen ergreifende Tränen: „Wir Glücklosen, o gütigster Vater! Warum hat uns der Tod, die Mutter aller Bitterkeit, zurückgelassen, wenn nicht deshalb, um uns grausam zu quälen, jetzt, wo du uns unwiederbringlich genommen bist? Wir liebten unsere Armut so sehr, dass wir es für Reichtum hielten, wenigstens zu hören, dass er anderen das Wort des Lebens predigte, er, den wir nicht das Glück hatten, mit unseren leiblichen Augen zu sehen.“
Während sie diese Dinge und andere ähnliche Sachen mit weinerlicher Stimme sagten, ergriffen einige das Wort: „Warum werfen wir so viele Tränen und schluchzende Seufzer in den Wind, so als ob wir um einen Toten trauern, während sich die Engel im Himmel als Mitbürger über den unsterblich gewordenen Antonius freuen? Ein einziges Heilmittel bleibt uns bei dieser furchtbaren Trennung: bei uns bleibe wenigstens nach seinem Tod derjenige, dem es als Lebendem nicht möglich war, sich uns leibhaftig zu zeigen.“

Schwesterliche List
„Aber“, so fügten sie hinzu, „wie können wir das erreichen? Wir können sicher sein, dass die Brüder, die im südlichen Teil der Stadt wohnen, nicht erlauben werden, dass der allerheiligste Körper des seligen Antonius bei uns bleibt – es sei denn, sie ließen sich durch Bitten bedeutender Persönlichkeiten dazu bewegen, in einem Akt der Barmherzigkeit auf ihr Recht zu verzichten. Schicken wir also eine Vertrauensperson, um in unserem Namen die maßgeblichen Autoritäten der Stadt, die weltlichen und die geistlichen, zu bitten, dass sie sich einvernehmlich zu unseren Gunsten einsetzen – aber ohne dass es den Anschein erweckt, dass wir uns einmischen, um die Zustimmung der Brüder zu dem zu erhalten, was uns so am Herzen liegt.“
Und so wurde es gemacht. Wozu viele Worte? Alle stimmten in völligem Einklang dem Plan der Mägde Christi zu und verpflichteten sich, ihnen ohne Widerspruch Hilfe zu leisten.

Brüder contra Dorfbewohner
Die Brüder, die bei der Kirche der heiligen Muttergottes wohnten, kamen mit der Absicht nach Arcella, den Leichnam des seligen Antonius in ihren Konvent zu bringen. Um einen so großen Schatz gebracht zu sein, hielten sie für eine undenkbare Sache und ein unerträgliches Unglück, umso mehr, als dem Heiligen selbst noch zu seinen Lebzeiten dieser Ort lieber als jeder andere in der ganzen Gegend gewesen war. Er liebte diesen Ort sogar so sehr, dass er, als er das Ende sich nähern fühlte, den Bruder, der ihn pflegte, im Gehorsam dazu verpflichtete, alles dafür zu tun, dass sein Leichnam zur Kirche der heiligen Muttergottes gebracht würde. Als aber die Dorfbewohner von Capo di Ponte jene Absicht der Brüder begriffen, traten sie ihnen entschlossen entgegen, so dass diese ihren Plan in keiner Weise ausführen konnten. Sie erhöhten die Zahl der bewaffneten Wachen und sorgten dafür, dass Arcella Tag und Nacht bewacht würde.

Hilfegesuch an den Bischof 
Weil sie nicht wussten, was sie jetzt tun sollten, begaben sich die Brüder geradewegs zum Bischof der Stadt und teilten ihm, dem Vater der Waisen, all ihre Sorgen mit. Nachdem dieser seine Kanoniker zusammengerufen hatte, trug er ihnen genau den Grund vor, weswegen sich die Brüder an ihn gewandt hatten. Um von den Prälaten einen Rat zu bekommen, fragte er jeden nach seiner Meinung in dieser Angelegenheit. Einige von ihnen, jene, die durch die Bitten der armen Frauen voreingenommen waren, vertraten nun die Ansicht, dass man dem Anspruch der Brüder nicht nachgeben dürfe. Sie brachten dafür auch ihre eigenen Argumente zu Gunsten der Klarissen vor. 
Aber auch die Brüder versuchten mit gewichtigen Gründen, den Bischof zu ihren Gunsten zu überzeugen, indem sie sich dessen, was sie kannten, bedienten, um ihr Recht zu verteidigen und mit Nachdruck auf die Lage des Verstorbenen und des ganzen Vorgangs hinwiesen. Nachdem der Bischof die Bitte der Brüder als gut begründet anerkannte, stimmte er ihrem Wunsch in allen Punkten zu und gab dem Bürgermeister der Stadt den Auftrag, ihnen zu Hilfe zu kommen.

Zuletzt aktualisiert: 08. Juli 2017
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