Der Weg zum Leben

01. Januar 1900 | von

Israels Werden als Gottesvolk geht zurück auf wandernde Nomadenstämme, die sich als ein von JHWH geführtes Volk verstanden und ihre Weg-Erfahrung zu deuten versucht haben. Das unterschied sie von anderen alten Völkern.

Aus dem Sprachschatz. Den Begriff Weg begegnen wir im übertragenen Sinn sehr häufig in unserem Sprachgebrauch, um Situationen unseres Lebens zu veranschaulichen. Folgende Beispiele sollen uns das bewußt machen: Lebensweg – Leidensweg – Kreuzweg – Irrweg – Umweg – Heimweg – Ausweg – Weg der Gerechtigkeit – Glaubensweg – auf Abwege gelangen – Weg-Kreuzungen – Weg-Gefährte – Wegelagerer, die den anderen den Weg abschneiden – unterwegs braucht man Weg-Weiser. Die Weg-Zehrung ist die notwendige Nahrung, die bei Kräften hält, um auf einen Weg durchzuhalten; so wird auch die Eucharistie bezeichnet, die einen Sterbenden gereicht wird.

Die beiden Wege. Der Herr kennt den Weg der Gerechten, der Weg der Frevler aber führt in den Abgrund (Ps 1,6). Der Psalter – das Gebetbuch Israels – wird eröffnet mit der Betrachtung der zwei Wege. Der gerade und vollkommene Weg wird in Freude an der Weisung des Herrn gegangen (Ps 1,2), in Treue zur Wahrheit (Ps 119,30) und im Bemühen um Gerechtigkeit und Frieden (Jes 59,8; Lk 1,79). Der Weg der Treue zur Torah JHWHs ist ein Weg zum Leben und verbürgt ein erfülltes und glückliches Dasein (Spr 2,19; 6,23). Der Weg der Gottlosen unterscheidet sich vom Weg der Frommen wie der Weg der Lüge vom Weg der Wahrheit (vgl. Ps 119,30.128). Der Weg der Unverständigen, die sich nicht von Gottes Weisheit leiten lassen, führt in den Abgrund des Todes (Ps 1,6; Spr 12,28). Tod und Leben werden hier nicht bloß als physische Realitäten gedacht, sondern meinen die Bereiche Segen und Fluch, ein Leben im Angesicht Gottes, oder ein Leben mit dem Rücken zu ihm. Der Mensch hat die Möglichkeit in freier Wahl den einen oder anderen Weg zu gehen und trägt Verantwortung für seine Entscheidung.

Freie Wahl. Doch stellt Gott den Menschen nicht kalt und unbeteiligt vor die Weg-Entscheidung. Der in welcher Not und Weg-Losigkeit auch immer zu JHWH Rufende, darf darauf vertrauen, daß JHWH ihn herausführt und den geraden Weg finden läßt (vgl. Psalm 107). Unüberhörbar ist in den Psalmen auch die immer wiederkehrende Bitte: Zeig mir, Herr, deine Wege (25,4). Ja, Gott selbst wird zum Weg-Begleiter, der sein Angesicht leuchten läßt, daß man auf Erden seinen Weg erkenne (vgl. Ps 67,2f). Als guter Hirte macht sich JHWH selbst auf, um die verirrten Schafe zu suchen und auf gute Weide zu führen (vgl. Ez 34,11-22; Joh 10,1-10).

In dem Bild von den beiden Wegen wird das Gottes- und Menschenbild der Bibel in aller Dichte sichtbar. Einerseits traut Gott dem Menschen viel zu. Er wird für fähig gehalten, den rechten Weg zu finden. Gerade in der freien Wahl und Entscheidung liegt die Würde des Menschen. Andererseits darf der Mensch sein ganzes Vertrauen auf Gott setzen, der den Weg mit dem Beter mitgeht. Gottes Wege und die der Menschen – göttliche Gnade und menschliches Tun – sind untrennbar miteinander verflochten.

Israels Weg-Geschichte. Auf dem Weg durch die Geschichte bringt das Volk Israel immer wieder seine Erfahrungen mit jenen Wegen in Erinnerung, die JHWH einst mit Abraham und dann mit dessen Nachkommen gegangen ist. Die Herausführung aus Ägypten und die Hineinführung in das Land der Verheißung kennzeichnen diesen Weg. Er wird zum rühmenden und dankenden Credo, das anläßlich des Erntedankfestes gebetet wurde (Dtn 26,5-10) und das inhaltlich in den Mosebüchern seine Ausfaltung gefunden hat. Verschiedene spätere Situationen, wie die Untreue und Gott-Vergessenheit des Volkes, der Verlust der Freiheit und des Landes werden zum Anlaß, Israel an diesen alten Weg zu erinnern und Hoffnung auf einen neuen Exodus zu wecken.

Abrahams Aufbruch. Der Herr sprach zu Abram: Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus, in das Land, das ich dir zeigen werde... und er zog hinweg (Gen 12,1ff). Am Anfang dieses Weges steht eine Berufung. Sie zeigt eigentlich nicht den Weg auf, den Abraham gehen soll, sondern was sich ereignen wird, wenn der Weg zum Ziel gekommen ist: Zahlreich werden die Nachkommen Abrahams im Land sein (Gen 15,1-6). Die Reiseroute Abrahams wirkt wie ein planloses Hin- und Herziehen. Abraham und Sarah, die bis ins hohe Alter kinderlos blieben, scheinen den Aufbruch und den Weg umsonst gemacht zu haben. Doch Gottes Wege sind nicht die der Menschen (vgl. Jes 55,8) – sie führen aber zur wunderbaren Verwirklichung. Seinen Fuß hat Abraham ins Land gesetzt, aber eine Bleibe konnte er zu seinen Lebzeiten dort nicht finden. Nur eine Begräbnisstätte für sich und seine Frau Sarah konnte er sein eigen nennen.
Abrahams Weg im Glauben zeigt etwas das für den Glaubensweg des späteren Israel, der Juden, wie der Christen typisch sein wird: Gottes Zusage hat sich wie ein Angeld erfüllt – doch die Verheißung bleibt in der Erwartung einer größeren und endgültigen Erfüllung offen.
In seiner Meditation schreibt der Verfasser des Hebräerbriefes über die Väter Israels, die voll Glauben gestorben sind, ohne das Verheißene erlangt zu haben. Sie waren Freunde und Gäste auf Erden, und sind eigentlich schon damals auf dem Weg zur himmlischen Heimat gewesen, die sie als Erdenpilger von ferne geschaut und gegrüßt haben (vgl. Hebr 11,13-16).

Weg ins verheißene Land. Gott hat sein Volk mit hocherhobenem Arm, unter Zeichen und Wundern aus dem Sklavenhaus Ägypten herausgeführt. So wird die Flucht aus der Unfreiheit in die Freiheit von späterer Generationen gedeutet. In dieser Weg-Überlieferung erscheint JHWH wie ein Heerführer. Er erkämpft für sein Volk den Auszug und Durchzug durchs Rote Meer. Er zieht vor seinem Volk her, er sorgt für Speise und Trank und bestimmt die Rastplätze. Wenn die Kräfte das Volk verlassen, trägt er es sogar durch die Wüste (Dtn 1,31).
Doch ist der Weg durch die Wüste auch ein Weg der Mühsal. Das geforderte Vertrauen auf die Führung und Sorge JHWHs fällt dem Volk schwer. Vollends versagt die aus Ägypten herausgeführte Generation dadurch, daß sie durch den Bericht der Kundschafter entmutigt, den Weg nach Ägypten zurückgehen will. Das Mißtrauen in JHWHs Weg-Führung und der geplante Anti-Exodus sind die Sünden, die jener Generation den Einzug in das Verheißene Land versperren. Erst deren Kinder führt Gott unter Josua ins Land hinein, in dem sie Gottes Segen erfahren werden.
Es berührt seltsam, daß auch Mose nicht in das Land hineingelangt. Er darf es vor seinem Tod, vom Berg Nebo aus, bloß sehen. Haben nicht jene Israeliten in der Wüstengeneration und in Mose sich selbst wiedererkannt, die fern der geliebten Heimat in der Verbannung lebten und sterben mußten, denen aber diese Erzählungen Hoffnung gaben, daß ihre Kinder und Nachkommen wieder in dieses Land zurückkehren werden?

Keine Sackgasse. Der Prediger, der im 5. Buch Mose zu Wort kommt, versetzt sein sattes, die Taten Gottes vergessendes Volk wieder zurück auf den Wüstenweg, in die Zeit vor dem Einzug in das Gelobte Land. Er will sein Volk aufrütteln, in dem er es an die wunderbare Führung und Fürsorge Gottes auf diesem Weg erinnert, und ihm einschärft, daß die Segensfülle in dem wunderbar-reichen Land ein Geschenk JHWHs ist. Dieser Segen kann aber wieder verspielt werden, wenn man die Wege Gottes verläßt und den Geber jeder guten Gabe vergißt (vgl. Dtn 8).
Der Prophet Hosea idealisiert jene Zeit des Auszuges und der Wüstenwanderung. Für ihn ist Israel der kleine Sohn JHWHs, der ihn sehr lieb gewann und ihn aus Ägypten rief (Hos 11,1). Doch Israel sagt sich von dieser Liebe los und geht eigene Wege. Gott klagt um seine Kinder: Je mehr ich sie rief, desto mehr liefen sie von mir fort (Hos 11,2). Diese Irrwege (Dtn 31,17) führen zum Untergang, in letzter Konsequenz zur Wegführung aus der Heimat.
Doch JHWH kann den einmal mit Israel gegangenen Weg nicht ungeschehen machen, und den Bund – der ja auch Bindung Gottes an Israel bedeutet; nicht aufheben, sonst würde er sich selbst untreu werden. Deswegen bleibt der erste Weg – die erste Liebe Gottes immer ein Grund zur Hoffnung, daß Gott sein Volk wieder auf neuen Wegen führt.
In unüberbietbarer Weise schildert Hosea einen Gott, dessen letztes Wort nicht Zorn und Strafe, sondern Liebe und Barmherzigkeit ist: Wie könnte ich dich preisgeben, Efraim, wie dich aufgeben, Israel? Mein Herz wendet sich gegen mich, mein Mitleid lodert auf – ich will meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken... denn ich bin Gott, nicht ein Mensch, der Heilige, in deiner Mitte... (Hos 11,8f).

Weg-Gemeinschaft mit Christus. Die Wege Gottes mit Israel haben auch für uns bleibende Bedeutung. Als wanderndes Gottesvolk orientieren wir uns an den Wegen, die Gott mit Israel gegangen ist und an den Heilsverheißungen. So wie Juden bis heute im Paschafest den alten Glaubensweg vergegenwärtigen und daraus Hoffnung für Gottes Weggeleit im Heute schöpfen, so gedenken wir Christen in der Osternacht unserer Ursprünge, und daß unsere Kirche in der Berufung Abrahams und im Exodus Israels einwurzelt.
In der Osternacht und in jeder Eucharistie feiern wir den Weg den Christus für uns gegangen ist, der durch Leiden und Tod geführt und sein Ziel in der Herrlichkeit des Vaters gefunden hat. In seinem Leben und Wirken erkennen wir den Weg Gottes zu den Menschen, vor allem in seiner Hinwendung zu den Verlorenen und in seiner Einladung, die allen Menschen ausnahmslos gilt. In der Nachfolge Christi sind wir eingeladen, seinen Weg zu den Menschen mitzugehen und das empfangene Wohlwollen Gottes auch weiterzugeben (vgl. Mt 5,44ff, Eph 5,2). So ist auch die Selbstoffenbarung Christi zu verstehen: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Wenn Gottes Weg zu den Menschen über Jesus Christus läuft, dann kann der Weg der Menschen zu Gott, auch nur über Jesus Christus laufen: Niemand kommt zum Vater außer durch mich (Joh 14,6).
Lukas nennt das sich entfaltende Christentum einfach den Weg (Apg 9,2; 18,25; 24,22). Kirche ist Weggemeinschaft mit Christus, wie sie der Evangelist in der Emmauserzählung den Gläubigen aller Zeiten vor Augen stellt (Lk 24,13-35): Zu den zwei Jüngern auf dem Heimweg in ihr Dorf, gesellt sich ein Fremder, der ihnen den unverständlichen Leidens-Weg Christi aufgrund der Schrift erschließt – der ihr Herz berührt – und sich beim Brotbrechen als der Herr zu erkennen gibt. Die Eucharistie ist Rastplatz des wandernden Gottesvolkes.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016