Die Kerzen von Istanbul

19. Februar 2017 | von

Jeden Tag gehen Hunderte Muslime die Treppen der Basilika hoch, auch wenn es nur ist, um dort eine Kerze anzuzünden. Mit „Basilika“ ist Sent Antuan Kilisesi gemeint, die dem heiligen Antonius geweihte Kirche im Herzen Istanbuls. Sie steht dort, wo der offizielle Islam religiöse Gesten und Kerzen verbietet. Wir meinen: eine gute Nachricht aus einer Stadt, die jüngst wieder verstärkt Opfer von Terroranschlägen geworden ist.

Zwei junge Leute küssen sich, im Regen, unter einer Christusstatue. Sie wirken glücklich. Und interessieren sich kein bisschen für uns. Der Innenhof der Basilika Sent Antuan Kilisesi ist ein guter Unterschlupf für Verliebte. Ihre Architekten, Giulio Mongeri und Edoardo de Bari aus Italien, haben zu Beginn des 19. Jahrhunderts gute Arbeit geleistet, denn es ist ihnen gelungen, die Regel, dass ein christliches Kultgebäude nicht auf eine öffentliche Straße zeigen darf, zu umgehen. Das Tor, das immer zur sehr vollen Istiklâl Caddesi, der Straße der Unabhängigkeit, hin offen ist, verdeckt die schöne, neugotische Fassade mit den roten Backsteinen nicht. Und der Innenhof ist wie ein kleiner Platz. Zwei Bänke stehen dort und die Staute von Papst Johannes XXIII., ehemals Apostolischer Nuntius in der Türkei zwischen 1935 und 1944. Hierher fliehen die Menschen vor dem Getümmel von Beyoğlu, dem zentralen Stadtteil in der Altstadt von Istanbul, oder sie kommen aus Neugier, oder aber, um den heiligen Antonius zu besuchen. Dutzende, an manchen Tagen sogar Hunderte von Muslimen steigen jeden Tag die Treppen dieser Basilika hoch, um dem Heiligen eine Kerze anzustecken. Bruder Julian, ein rumänischer Minorit und Seelsorger an der Kirche, schaut auf die sich küssenden Jugendlichen: „Hier haben sie wenigstens ein bisschen Frieden.“ Sie nicken uns zu und gehen wieder, Hand in Hand. 

Lebendiger Antonius-Dienstag
Jeden Dienstag kommen Frauen, die meisten von ihnen Muslima, und schreiben ihre Wünsche in ein dickes Heft. Eine mädchenhafte Handschrift sticht mir besonders ins Auge. Bruder Julian übersetzt für mich: „Mach, dass sich sein Herz mit Liebe für mich füllt.“ Geschrieben hat diese Zeilen È.T. Sie wendet sich an Allahim, mein Gott. Sie bittet um Husseins Liebe, um die Initialen ihrer Namen hat sie ein Herz gemalt.    
Die 42-jährige Betul ist dienstags die „Frau der Kerzen“. Seit 22 Jahren verkauft sie sie hier für eine türkische Lira, circa 25 Cent. Sie ist eine orthodoxe Christin. „Ich kenne die Frauen, die in die Kirche kommen. Sie tragen ihren Schleier. Sie sind fast alle Muslima. Sie beten, zünden eine Kerze an, heben ihre Hände gen Himmel.“ Betul stellt mir Şebnem vor: „Sie war Miss Türkei!“ Heute ist sie eine schöne Frau von vierzig Jahren. Blond, enge Jeans, ein fröhlicher Mensch: „Es gibt nur einen Gott. Ich bin Muslima, aber ich versuche, jeden Dienstag hier vorbeizukommen. Zu Aziz Antuan, für den Heiligen.“ Şebnem zündet ihre Kerze an. Manche Menschen kaufen ein paar Kerzen mehr für Menschen, die kein Geld haben, und lassen sie zu Füßen der Statue liegen. Andere bringen Brot, Blumen, Öl. Der heilige Antonius wird in der Stadt der schönsten Moscheen der Welt geliebt, verehrt, von den Muslimen angerufen. Vor allem von den Frauen.

Christen in der Minderheit
Die Franziskaner kamen zur Zeit der Kreuzzüge nach Istanbul. Und es ist ihnen gelungen, zu bleiben, trotz Kriegen und Besatzungen. Sie haben erlebt, wie die osmanische Schönheit dieser Stadt erbaut wurde. Der Stadtteil Beyoğlu ist eines der Herzen Istanbuls. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts lebten hier Levantiner (Menschen aus dem östlichen Mittelmeerraum), Griechen, Italiener und Weißrussen. Hier liegt auch der Gezi-Park, wo im Sommer 2013 die Revolution der Jugendlichen stattgefunden hat. Die erste dem heiligen Antonius geweihte Kirche entstand 1725. Christen sind eine Minderheit in der Türkei, ihre Anzahl ist verschwindend gering. Bruder Cäsar, der ehemalige Obere in der Türkei – mittlerweile ist er als Bischof Apostolischer Vikar in Beirut –, reiht drei Nullen hintereinander auf: „Wir sind 0,002 Prozent der türkischen Bevölkerung.“ Wenig mehr als 15.000 Katholiken; hunderttausend Christen insgesamt. Und das bei 75 Millionen Einwohnern. In Istanbul leben zwischen 15 und 18 Millionen Menschen. Mehr als 6.000 pro Quadratmeter. Durchschnittsalter: 16 Jahre. 
Im Konvent hier leben sieben Brüder aus verschiedenen Nationen. Einer von ihnen erzählt mir: „Die muslimischen Frauen sagen mir immer: Kirchen und Moscheen sind das Haus Gottes.“ Die Kirche des heiligen Antonius ist ein Ort des Friedens. Hier werden sie nicht zu strengen Verhaltensregeln gezwungen, sie können kommen, wann sie möchten. Sie lieben das Heilige, sie lieben diese Architektur, hier fühlen sie sich erhört. „Hier kann man das Göttliche berühren“, sagt Bruder Martin, 58 Jahre alt, aus Slowenien. Und auch Bruder Cäsar ist sich ganz sicher: „Der Heilige ist hier präsent!“. Der italienische Soziologe Fabio Salomoni benutzt ein seltsames Wort: „Man spürt Frische hier zwischen den Säulen.“ Ich glaube, er hat recht. Die Volksfrömmigkeit durchzieht das türkische Volk. Es gibt hier die Geschichte der Sufisten, der Aleviten, einer mystischen Bewegung der Schiiten. Es gibt den Islam der Gesänge, der Tänze, der Nähe zur orthodoxen Welt. Es gibt aber auch unzählige blutige Seiten, Besatzungen, Eroberungen und gegenseitige Massaker. Aber eben auch überraschende Formen des Zusammenlebens. Die Frauen, die in die Kirche des heiligen Antonius kommen, wollen beten. Sie haben Lust, zu sprechen. Der offizielle türkische Islam verbietet Gesten: Er verbietet Kerzen und gibt nicht die Möglichkeit, Gott zu schreiben. Dem heiligen Antonius jedoch kann man seine Gebete schreiben, und vor allem darf man hier Kerzen anstecken. Bruder Marcelo kommt aus Argentinien. Er ist Bibelwissenschaftler und Theologe und engagiert sich für den Dialog mit dem Islam: „Der heilige Antonius ist universell. Er kann uns wirklich dabei helfen, miteinander ins Gespräch zu kommen. Sein Kult ist sehr natürlich und wird nicht angetastet. Ohne groß weitere Fragen zu stellen. Dank ihm können wir ein Stück Weg gemeinsam gehen.“ Bruder Martin benutzt fast dieselben Worte: „Der heilige Antonius fordert uns auf, eine Brücke zu überqueren, hin zu dem Anderen.“   

Johannes XXIII. als Pionier
Bei meinem Besuch kommen wir auch auf Johannes XXIII. zu sprechen. Er war es, der vor 80 Jahren wichtige Schritte im Dialog unternommen hat. Dabei stieß er eigentlich die christliche Gemeinschaft des Beyoğlu vor den Kopf – denn die Christen sprachen untereinander französisch und hassten die Türken – als er sich an die Muslime als „Brüder“ wandte. Der Nuntius Roncalli war sogar so mutig, auf Türkisch zu beten. „Er war ein Prophet,“ sagt mir Bruder Martin. Der zukünftige Papst entschuldigte sich damals, diese Sprache nicht richtig zu beherrschen. Er wurde zum Freund der Türken. Er bat den heiligen Antonius um die Rettung der Stadt während des 2. Weltkrieges: Wenn sie von den Bomben verschont bleiben würde, würden die Armen Istanbuls jede Woche Brot bekommen. Als aber Roncalli 1944 die Türkei verließ, schloss sich die Kirche wieder ganz in sich ein. Erst 1971 kamen drei italienische Brüder der Franziskaner-Minoriten und öffneten erneut die Portale dieser Kirche, führten Türkisch als Sprache der Liturgie ein, übersetzten die Bibel und druckten Broschüren – auf Türkisch. Und langsam füllte sich die Kirche des heiligen Antonius mit Moslems. In seinen letzten Lebenstagen schrieb Bruder Lucio, einer der damaligen Pioniere: „Wenn ich mich während des Gebetes umsah, sah ich immer mehr Moslems als Christen in der Kirche.“ Luigi Iannitto, ein Bruder aus den Abruzzen, hat vierzig Jahre in der Istiklâl Caddesi verbracht: „Die Moslems kommen in diese Kirche, weil sie das Haus Gottes ist. Wir müssen sie auf einfache, unkomplizierte Art willkommen heißen, mit Liebe und einem Lächeln.“ 

Gelebte Ökumene
In den „Dienstags-Notizen“ bitten die Frauen Allah um Gesundheit, Wohlergehen und Zufriedenheit. Sie haben Sorgen wegen der Arbeit und des Geldes. Manche haben Schulden. Sie beten um Liebe. Sie hoffen auf „gute Ehen“ für ihre Kinder. „In die Moschee zu gehen, reicht nicht. Deshalb wendet man sich auch an ‚den Anderen‘“, meint der französische Anthropologe Benoît Fliche. Der Wissenschaftler, der sich mit den Religionen des Mittleren Ostens beschäftigt, ist jedoch der Meinung, dass in der Kirche des heiligen Antonius trotzdem jeder seine Identität bewahrt: „Ein ‚Wir‘ zu konstruieren wäre, als wolle man die Besonderheit dieses Ortes zerstören.“ Und doch, so Bruder Paolo Floretta aus Padua, der ein Buch über die Antoniusverehrung herausgegeben hat, gibt es hier „eine unumstrittene Ökumene, gelebte und geglaubte Theologie“.

Brot für die Armen
Ich beobachte die muslimischen Frauen, die sich flüchtig bekreuzigen und einige Jugendliche, die Selfies vor der Statue des heiligen Antonius machen. Sonntags kommen unzählige Passanten in die Kirche. Die Gottesdienste sind immer überfüllt. Aber dienstags kommt man her, weil man es so möchte. Fehmi, der muslimische Pförtner der Kirche, nimmt das Brot an, das viele als Spende mitbringen. Das Versprechen, das Roncalli einst gegeben hatte, wird noch immer eingehalten. Es sind hauptsächlich syrische und kurdische Flüchtlinge, die sich nachmittags diese Spenden abholen. Bruder Anton ist dienstags immer in der Kirche. Wer ihn braucht, weiß, wo er zu finden ist. Im April vor zwei Jahren, als Papst Franziskus den Völkermord an den Armeniern angeprangert hat und deshalb die Beziehungen zwischen Ankara und dem Vatikan schwer abkühlten, hörte ich einen Bruder sagen: „Das hier ist das Land, wo der Dialog zwischen uns und dem Islam wirklich tiefgründig sein kann. Es ist ein Land der Minderheiten. Wir können uns verstehen.“ Und weiter: „Die Verehrung des heiligen Antonius bietet uns die Möglichkeit, ein neues Volk zu entdecken. Es ist neuer Lebenssaft für uns“. Und am Ende zünde auch ich eine Kerze an für den heiligen Antonius.

 

Zuletzt aktualisiert: 19. Februar 2017
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