Die Prozession des Heiligen In Messina

13. Juni 2019 | von

In Messina in Sizilien ist der heilige Antonius eine Art „Ehrenbürger“. In seinem Namen gibt es in der Stadt ein Heiligtum und zwei Prozessionen, die jedes Jahr Tausende Gläubige aus ganz Italien anziehen.

„Der heilige Antonius ist alles. Mehr als der Mittsommer. Er ist der Heilige von Messina.“ Donna Maria ist wohl knapp unter 70 und sitzt, umgeben von elegantem Marmor, vor dem Heiligtum des heiligen Antonius in der Stadt der Meerenge. Sie lächelt mit glücklichen Augen. Und P. Mario Magro, 50 Jahre alt, erklärt mir: „Der Mittsommer ist das große Fest zu Maria Himmelfahrt am 15. August.“ Hunderte von Männern ziehen den Votiv-Wagen der Madonna in einer spektakulären Prozession. Es ist das größte Fest in Messina. Wenn aber eine Frau, die Maria heißt, mir sagt, dass der Tag des heiligen Antonius noch größer ist, muss ich das wohl glauben. 

Ehrenbürger Antonius
Nun ist es P. Mario, der mit dem Kopf schüttelt und lächelt. 
P. Mario wurde hier geboren, er ist als Mitglied der Kongregation der Rogationisten der Rektor des Heiligtums des heiligen Antonius, mitten im Zentrum von Messina, und er weiß, dass das Fest zu Maria Himmelfahrt zur Identität der ganzen Stadt gehört. Die Madonna beschützt die Stadt, ihre vergoldete Statue, die den Brief in der Hand hält, den sie im Jahr 42 an die Menschen von Messina geschrieben haben soll, erhebt sich über der Hafeneinfahrt, aber Antonius ist seit 1995 Ehrenbürger der Stadt. Fast acht Jahrhunderte nach seinem Tod und mit dem Siegel der Stadt versehen! Und Maria hat auf ihre Weise Recht: Der heilige Antonius ist hier, wo sich das Meer von Sizilien und das Meer von Kalabrien treffen, Ausdruck des Glaubens eines Volkes, einer Menschenmasse, der Heilige der Gebetsanhörungen. Jedes Jahr besuchen fast eine halbe Million Pilger das kleine Heiligtum, das ihm geweiht ist. Das Gebäude ohne Vorplatz liegt im Altstadt-Stadtteil Avignone. 50.000 Menschen versammeln sich in den Straßen um diese Kirche an dem Tag, an dem die Rogationisten ihre Antonius-Prozession veranstalten. Und zwar nicht am 13. Juni. Besser gesagt, es gibt hier, als wohl einzigem Ort weltweit, zwei Prozessionen für den heiligen Antonius. 

Padua trifft Sizilien
Der Heilige gehört hier, an der Meerenge, zur Geschichte der Rogationisten, einer Kongregation, die Ende des 19. Jahrhunderts vom heiligen Annibale Maria di Francia, Sohn einer Adelsfamilie der Stadt und Schutzheiliger der Waisen und der Nächstenliebe, gegründet wurde. Die Kirche des heiligen Antonius war die erste Kirche, die nach dem Erdbeben von 1908 wieder aufgebaut wurde. Der heilige Antonius von Messina, wie er hier genannt wird, ist die Metamorphose des Paduaner Heiligen in dem sizilianischen Kult. In der Stadt gibt es auch die Franziskaner: Sie hüten eine Reliquie des Heiligen, eine Fliese mit Spuren seines Blutes. Sie liegt auf dem Altar der riesigen Kirche des heiligen Franziskus, San Francesco all’Immacolata. Antonius hat hier gelebt. Und hier gibt es also zwei Ordensgemeinschaften für ihn. Und deshalb gibt es auf bischöflichen Erlass hin zwei Prozessionen in Messina: Die Franziskaner organisieren sie am 13. Juni. An dem darauf folgenden Sonntag wird der große Umzug der Rogationisten veranstaltet: Ihr Wagen hat die Form einer Weltkugel, auf der der Heilige steht, und es fahren Kinder in Matrosenkleidung mit. Menschenmassen drängen auf die Straßen. Viele von ihnen haben bereits die Nacht vor dem Heiligtum verbracht, eine Nacht im Zeichen von Straßenkünstlern, Gebeten und Konzerten. Alles für den heiligen Antonius von Messina. 

Antonius und Annibale 
Antonius war ein Migrant. Aus Portugal bricht er auf nach Afrika, muss aber wegen einer schweren Krankheit im Jahr 1221 das Land wieder verlassen. Ein Unwetter bringt sein Schiff von seinem Kurs ab. Der Heilige kann sich retten, landet allerdings an der Nordküste Siziliens. Er wird von Fischern gerettet. Antonius weiß, dass es in Messina einen Franziskaner-Konvent gibt. Er wird von ihnen aufgenommen und bleibt ein paar Monate, bis er sich auf den Weg nach Assisi macht. Er bleibt lange genug, um in diesem trockenen Gebiet einen Brunnen bohren zu lassen  − fast ein Wunder. Allerdings wurde er ohne die Genehmigung von Bruder Leonardo, dem strengen Guardian des Klosters, gebohrt, der Antonius bestraft. Antonius tut Buße, er geißelt sich, ein Tropfen Blut fällt auf eine Fliese.
Man erzählt auch, dass er den ersten Orangenbaum auf der Insel gepflanzt habe. Auch hier wird er von vielen als der „Heilige der verlorenen Dinge“ verehrt. Das weiß Annibale Maria di Francia sehr gut, der 1878 zum Priester geweiht wurde und der dem heiligen Antonius das Wiederfinden eines Gebetbüchleins und der silbernen Schnallen seiner Schuhe verdankt. Annibale ist charismatisch und unerbittlich, ein strenger Mann, aristokratisch und beliebt gleichzeitig. Sein Glauben erlaubt keine Kompromisse. Er liebt die Armen und lebt im Stadtteil Avignone, dem schlimmsten Stadtteil von Messina. Er nimmt sich der Kinder an, 1882 gründet er das erste Waisenhaus für Mädchen. 1887 bricht in der Stadt eine Cholera-Epidemie aus. Eine Frau, Susanna Consiglio, macht dem Heiligen ein Versprechen: Falls ihre Familie verschont bliebe, würde sie den Waisen von Annibale helfen. Sie hält ihr Versprechen: Sie spendet „sechzig Lire“, um „Brot zu kaufen“ für die Kinder. Hier ist das der Ursprung des Antonius-Brotes. Annibale war ein „moderner“ Mann. Er kennt den Wert der Zeichen. Er erhält von der Kurie von Messina ein Dokument, das bezeugt, dass der Kult um das Brot hier in dieser Stadt entstanden ist. In seiner kleinen Kirche beten die Kinder zu einem einfachen Antoniusbildnis. Der Ruf dieses Priesters breitet sich in ganz Süditalien aus. Und er gründet auch eine Druckerei, in der er Heiligenbildchen und Gebetsbüchlein druckt. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts druckt er eine Zeitschrift mit einer Auflage von 700.000 Exemplaren. Er spürt die Macht, die Antonius auf die Menschen ausübt: 1897 gründet er seine Kongregation, deren himmlischer Fürsprecher Antonius wird.

Von Padua nach Messina
„Der Kult des heiligen Antonius in Messina ist eng mit Annibale verknüpft. Er war es, der Antonius hier so groß gemacht hat,“ sagt mir P. Giorgio Nalin, 66 Jahre alt, der Rektor des „Mutterhauses“ der Rogationisten. Ihm muss ich glauben, denn er stammt aus Padua. 1907 gelingt es Annibale, eine Statue des Heiligen nach Messina zu bringen, die genau am Vorabend des 13. Juni ankam und dann gleich in einer Prozession durch die Stadt getragen wurde. Und dann kam das Erdbeben. Im Morgengrauen des 28. Dezembers erschüttert ein Beben von der Stärke 6 37 Sekunden lang die Stadt. 80.000 Menschen sterben, die Hälfte der gesamten Bevölkerung. Annibale organsiert die Rettungsmaßnahmen. Die Statue des Heiligen wird unbeschädigt inmitten der Trümmer gefunden. Der Ruhm des Priesters wächst, er wird zum heiligen Priester von Messina, einer „magisch-heiligen Stadt, die an unantastbare Traditionen gebunden ist“, wie mir der Kulturverantwortliche, Tonino Perna, 70 Jahre alt, berichtet. „Das Christentum kam hier her durch Paulus. Die Menschen aus Messina besuchten die Madonna in Palästina. Es ist eine Jahrtausende alte Geschichte,“ erklärt Giacomo Sorrenti, 36 Jahre alt, der Vorsitzende der Bruderschaften der Provinz.

Kirchliche Notaufnahme
Ich verbringe zwei Tage am Heiligtum des heiligen Antonius. Flüchtlinge und Roma-Frauen sind vor dem Eingang. Es herrscht ein reges Kommen und Gehen. Man betet vor dem Körper von Annibale, man kniet sich vor den heiligen Antonius. Es liegen Hefte aus, in die man Versprechen, Gebetsanhörungen und Bitten schreiben kann. Hier sind Kinder, Mütter. Jugendliche aus Sri Lanka. Grüppchen von Philippinen. „An den 13 Dienstagen vor dem Antoniusfest sammeln wir Zettel mit Bitten und am letzten Dienstag segnen wir diese Worte und verbrennen dann alles,“ sagt mir der Rektor, P. Mario. „Diese Kirche ist wie eine Notaufnahme, die Tag und Nacht geöffnet ist“, bemerkt Elena Donato, eine Hotelbesitzerin und Vizepräsidentin der Ehrenamtlichen des Heiligtums, 130 Menschen, die den Priestern helfen. „Ich würde nie bis Padua kommen,“ erzählt mir eine Frau, „denn es ist zu weit weg, aber hierher kann ich kommen. Das ist meine Wallfahrt.“ Das „Antoniusbrot“ ist heute eine Mensa neben der Kirche. Jeden Tag werden 400 Mahlzeiten an bedürftige Familien verteilt. Es sind die neuen Armen einer ermüdeten, etwas heruntergekommenen Stadt. Zu viele Arbeitslose, Obdachlose, Flüchtlinge.… Aber Essen gibt es immer, jeden Nachmittag. Für alle. Zu Zeiten von Annibale gab es einen riesigen Topf mitten auf der Straße: „Das ist das Haus der Patres von di Francia, wer hierher kommt, setzt sich und isst“ − im Jahr 1891 erbost sich Annibale mit diesen Worten gegenüber den Polizisten, die die Bettler inhaftieren wollten, „so, als ob Armut eine Straftat sei“.

Zwischen Armut und Schönheit
Einige Tage lang bin ich durch Messina gelaufen: 250.000 Einwohner, Verkehrschaos, kaputte Bürgersteige. Berge von Müll. Ein Priester begleitet mich in die Peripherie, nach Scala Ritiro, eine favela aus Schlamm und Hütten neben den Villen der Mafiabosse, ein Ort, der in einem Tal unter einem Gewirr aus Hochstraßen und, so erzählt man, auf illegalen Asbestdeponien entstanden ist. Ein unsichtbares, armes Messina. Aber dann fahre ich zurück Richtung Meer: Ich bewundere die Schönheit der Meerenge, die langen Boote der Schwertfisch-Fischer, die Lichter, die aus Kalabrien hinüber leuchten. Was für eine Stadt ist das? Die Kurie und die Gemeinde sind in einer ganz schlechten finanziellen Lage. Der Bischof ist vor zwei Jahren überraschend zurückgetreten, zur selben Zeit haben die Karmeliten nach sieben Jahrhunderten ihr Kloster geschlossen, das erste in Europa nach ihrer Flucht aus Palästina. 
Ich gehe wieder zu den Franziskanern in den Gemüsegarten, zum Brunnen des heiligen Antonius. Ich suche ein wenig Frieden. Hier gibt es eine weiße Statue des Heiligen. Und einen Gärtner, Angelo. Ich esse seine Tomaten direkt vom Strauch. Er gießt. Und sagt mir: „Abends, bevor ich nach Hause gehe, rede ich noch ein bisschen mit dem heiligen Antonius.“

Zuletzt aktualisiert: 13. Juni 2019
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