Die rätselhaften Grabkreuze von Lantsch

01. November 2017 | von

Auf einem Friedhof im schweizerischen Kanton Graubünden finden sich Spuren uralter Mythen vom Leben nach dem Tod.

„Im Jahr 1969 erschien der 80-jährige Paul Platz-Ghisletti aus dem benachbarten Alvaneu auf dem Lenzer Friedhof. Er erklärte, er sei der letzte Vertreter einer Dorfschmiede-Familie, die seit dreihundert Jahren dieses Handwerk in Alvaneu ausübe. Er zog ein Skizzenbuch hervor, das seine Vorfahren um 1730 herum erstellt hatten. Darin fanden sich acht Kreuze, welche auf unserem Friedhof stehen.“ So steht’s im Friedhofsführer der Pfarrgemeinde von Lenz (oder Lantsch, wie der Ort auf rätoromanisch heißt).

Was hat es mit diesen Grabkreuzen auf sich? Wer den berühmten Friedhof betritt, sieht lauter gepflegte Gräber – und über jedem ein schmiedeeisernes Kreuz, die sich alle auf den ersten Blick ähnlich sehen. Bei näherem Betrachten jedoch bemerkt man die feinen Unterschiede und erkennt plötzlich archaische Symbole. Was nicht weiter wundert, wenn man bedenkt, dass dieser Ort schon in vorchristlicher Zeit als Begräbnisstätte benutzt wurde.

 

Antike Anleihen

Auf fast allen gotischen Grabkreuzen findet sich im Schnittpunkt der beiden Kreuzstäbe eine umrandete, meist kreisrunde Scheibe oder ein Ring. Scheibe und Ring sind offensichtlich Sonnensymbole. In der Antike galt die untergehende und am folgenden Tag wieder aufgehende Sonne als Hinweis auf das Weiterleben nach dem Tod. Begreiflich daher, dass der römische Sol invictus, der unbesiegte Sonnengott, schon in der frühen Christenheit mit dem Auferstandenen identifiziert wurde.

Ebenfalls schon auf gotischen Grabkreuzen, vermehrt aber zur Zeit der Renaissance, erscheint statt der Sonnenscheibe oder dem Sonnenrad ein giebel- oder gewölbeförmiges Schild, das ursprünglich unbeschriftet war. Zur Kennzeichnung der Bestatteten diente vielmehr ein am unteren Kreuzesschaft angebrachtes Wappen. Das haus- oder giebelförmige Schild im Schnittpunkt der Kreuzstäbe indessen hat eine zweifache Bedeutung. Einerseits weist es auf das Tor hin, das ins Jenseits führt. Nach mythischer Vorstellung hat das Himmelsgewölbe zwei Tore, nämlich das Tor der Helle im Osten und das Tor des Dunkels im Westen. Davon sprechen nicht nur zahlreiche Texte der alten Völker, sondern auch die Bibel. „Die Pforten des Morgens und des Abends lässt du jubeln“, heißt es im Psalm (65,9). Gleichzeitig versinnbildlichen die giebelförmigen Schilder das „Haus der Toten“, was auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass manche von ihnen mit verschließbaren Flügeltürchen versehen sind. Oft sehen wir am unteren Kreuzesschaft statt des Wappens ein herzförmiges Gebilde. Gelegentlich findet sich dieses auch an der Schnittstelle der beiden Kreuzstäbe. Bemalt sind diese Schilde manchmal mit dem durchbohrten Herzen Jesu. Eine schlüssige Deutung ergibt sich, wenn wir uns daran erinnern, dass die lateinischen Wörter cor (Herz) und cardo (Angelpunkt) stammverwandt sind. Das Herz ist gleichsam der Angelpunkt der Schöpfung. Im Altertum war der Glaube verbreitet, dass das Herz eines Menschen das zuerst lebende und zuletzt sterbende Organ sei. In der mittelalterlichen Mystik wird das Herz Jesu zum Zufluchtsort nicht nur der Lebenden, sondern auch der Verstorbenen.

 

Zeichen für neues Leben

Ein weiteres aussagekräftiges Zeichen ist der sogenannte Dreilapp in Form einer verblühenden Feuer- oder Jakobslilie, die daran ist, Samen anzusetzen. Die damit verbundene Botschaft ist unschwer zu entschlüsseln. Wie ein Same wird der Tote der Erde anvertraut, damit er zu neuem Leben erwache. Ausgedrückt wird dies zudem mit dem Grabhügel, der ursprünglich daran erinnerte, dass die Mutter Erde schwanger geworden ist. Darauf verweisen im Altertum auch jene Gräber, in denen die Toten in Mesopotamien, aber auch in Mitteleuropa und in Südamerika in der Zeit von 18.000 bis 5.000 v. Chr. in Hockstellung beigesetzt wurden. Diese Position des Leichnams erinnert an die Fötusstellung, in welcher die Verstorbenen von der Mutter Erde „ausgetragen“ und schließlich neu geboren werden. Diesem Mythos ist es zu verdanken, dass die aufgeschütteten Grabhügel auf dem Lantscher Friedhof keine Einfassung aus Stein oder anderem Material aufweisen dürfen.

Mehrere Eisenkreuze sind an den Armenden des Kreuzes mit Weidenzweigen (sogenannten „Spindelblumen“) bestückt. Dieses Symbol führt uns ebenfalls in eine vorchristliche Bildwelt zurück. Im Altertum glaubte man fälschlicherweise, Weiden und Ulmen würden ihre Blüten abwerfen, bevor sie Frucht ansetzen, sich also nicht durch Besamung, sondern durch ihre eigene Lebenskraft fortpflanzen. Im Christentum wurde der Weidenbaum deshalb zu einem Symbol für das von Jesus verheißene neue Leben. Dazu kommt, dass die Spindel das Attribut der Schicksalsgöttinnen ist, die dem Menschen ihre Lebenszeit zumessen. Daher ist es nur folgerichtig, wenn auf manchen Grabkreuzen auf dem Lantscher Friedhof auch das Gewebe der Lebensfäden eingearbeitet ist.

 

Getaufte Symbolsprache

An nicht wenigen Grabkreuzen ist unten ein kleiner Tragarm für ein Weihwasserkesselchen angebracht. In katholischen Gegenden ist es nach wie vor üblich, bei der Beisetzung den Sarg oder die Urne mit Weihwasser zu besprengen. Dabei spricht der Priester die Worte: „Im Wasser und im Heiligen Geist warst du getauft. Der Herr vollende in dir, was er in der Taufe begonnen hat.“ Das Weihwasserbecken zeigt, dass die uralten, in den Grabkreuzen überlebenden Symbole von den Gläubigen wohl übernommen, gleichzeitig aber in einen neuen, nämlich christlichen Sinnzusammenhang eingeordnet wurden.

Zuletzt aktualisiert: 23. November 2017
Kommentar