Ein langer Tag und alte Bräuche

08. Juni 2018 | von

Passend zum Monat liefert unser aktuelles Thema eine kleine Geschichte der Sommersonnenwende.

Am 21. Juni ist es wieder so weit. Der längste Tag des Jahres ist gekommen. Und auch, wenn man es zu diesem Zeitpunkt noch nicht sofort merkt, wird es von nun an langsam wieder dunkler, bis genau ein halbes Jahr später, am 21. Dezember, die längste Nacht des Jahres gekommen ist. Dank unserer Möglichkeiten, die Nacht so hell zu erleuchten wie den Tag, haben viele Menschen heute das Gespür für diese natürlichen Rhythmen verloren. Aber sie sind wichtig, denn sie prägen uns nicht nur, auch wenn wir von ihnen keine Ahnung mehr haben, sie machen uns auch deutlich, dass wir, wie Thomas Morus zu Recht betont, ein Teil der Natur sind, weshalb Redewendungen wie „Mensch und Natur“ eigentlich eher entlarvend als hilfreich sind.

Leben im Rhythmus der Natur
Schaut man sich die alten Jahreskreisfeste an, markieren vier von ihnen den Verlauf der Sonne. Die Wintersonnenwende zeigt an, dass von nun an die Tage langsam heller werden. Die Frühjahrstagundnachtgleiche markiert den Tag, von dem an das Licht über die Dunkelheit siegt. Die Sommersonnenwende am 21. Juni ist der Tag, von dem an es schrittweise wieder dunkler wird, und um den 21. September herum ist mit dem Datum der Herbsttagundnachtgleiche für einen kurzen Zeitraum wieder das Gleichmaß von Licht und Dunkelheit erreicht. Die vier Sonnenfeste kann man sich wie vier Speichen in einem Rad vorstellen. Und damit man auf die nächste Feier garantiert nicht mehr als sechs Wochen zu warten braucht, wird zwischen den Sonnenfesten jeweils ein weiteres, am Verlauf des landwirtschaftlichen Jahres orientiertes Fest gefeiert. Am 1. Februar, Imbolcfest genannt, oder am 2. Februar, Mariä Lichtmess, werden in vielen Regionen die ersten Lämmer geboren und das Vieh darf wieder aus dem Stall hinaus auf die Weide. Am 1. Mai, in früheren Zeiten Beltaine genannt, wurde das offenkundige Grünen und Blühen in der Natur mit einem Fruchtbarkeitsfest begangen, an Lughnasadh am 1. August, auch Lammas oder Mabon genannt, feierte man den Beginn der Ernte und an Samhain am 1. November denkt man an die Verstorbenen.

Alte Rituale neu entdeckt
Die Feier der Jahreskreisfeste ist nicht nur gut für alle, die sich wieder stärker bewusst werden, dass sie ein Teil der Natur sind, es macht auch großen Spaß, die alten Rituale neu zu entdecken. Ein Blick in die Geschichte zeigt, was die Menschen sich früher zur Tagundnachtgleiche haben einfallen lassen. In Schottland war es beispielsweise üblich, dass sich die Frauen des Dorfes zur Feier des Frühjahrsequinoxes zum Tanz um ein Steinmal versammelt haben, um die im Winter schwerfällig gewordenen Körper wieder mit neuer Energie zu erfüllen. In viktorianischer Zeit war es in Wales guter Brauch, einen mit Blumen geschmückten Stuhl ums Haus zu tragen. Für dessen Transport waren die Männer der Familie zuständig. Die Frauen hingegen durften nacheinander Platz nehmen und sich hoch in die Luft heben lassen, wobei ihre Füße mit einem in Wasser getauchten Blumenstrauß besprengt wurden. Der Tau, der auf diese Weise symbolisiert wurde, ist ebenfalls ein Zeichen der wiederkehrenden Fruchtbarkeit. Wer die Zeit der hellen Tage festlich begehen will, kann auch heiße kreuzförmige Brötchen, die sogenannten Hot Cross Buns, essen. Dieser Brauch wurde je nach Region am Karfreitag und in der Osterzeit geübt. Seine Wurzeln reichen aber wesentlich weiter zurück. Denn schon die alten Römer erfreuten sich an kreuzförmigen Brötchen, die die vier Jahreszeiten repräsentierten, und pflegten einige von ihnen zu Ehren der Mondgöttin Diana zu vergraben. Wie so viele schöne Bräuche wurde auch dieser von den Christen übernommen. Der eine oder andere bekam für diese erfolgreiche Inkulturationspolitik aber auch schon mal Ärger. So musste der schottische Pfarrer, der die Frauen seiner Gemeinde zum Tanz um den stehenden Stein eingeladen hatte, im 13. Jahrhundert einer Einladung seines Bischofs folgen, der unbedingt näheres über diesen bemerkenswerten Brauch erfahren wollte. Dass die Weitergabe der Sonnenwend- und Equinoxbräuche ansonsten aber reibungslos klappte, kann man an den kreuzförmigen Brötchen ablesen, die von den alten Römern bis heute auf keinem Tisch fehlen dürfen. Dass manch alter Brauch, der ursprünglich mit der Tagundnachtgleiche verbunden war, heutzutage eher an Ostern gefeiert wird, hat mit dem engen Zusammenhang zwischen der Lichtsymbolik und der Auferstehung zu tun. Wenn das Licht am Tag des Frühjahrsequinox endgültig über die nächtliche Dunkelheit gesiegt hat, passt das natürlich wunderbar zum Glauben an die Auferstehung Jesu von den Toten, die immer am Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond gefeiert wird. 

Warum die Tage länger werden 
Dass unsere Tage nicht alle gleich lang sind, wie gleichbleibende Arbeitszeiten und künstliche Beleuchtung uns suggerieren, hat seine Gründe. Denn die Sonne geht zwar jeden Tag im Osten auf, aber keineswegs immer genau an derselben Stelle. Und auch die Bahn, die sie beschreibt, ist nicht an jedem Tag dieselbe. Um den 21. Juni herum erreicht sie in jedem Jahr ihren mittäglichen Höchststand über dem Horizont. Jedenfalls dann, wenn man sie auf der Nordhalbkugel beobachtet. Auf der Südhalbkugel hingegen ist es genau umgekehrt. Dort steht sie um diese Zeit am tiefsten und das Winterhalbjahr beginnt. Der Sonnenwendtag fällt allerdings nicht immer auf den 21. Juni, es kann auch der 20. oder 22. sein. Allerdings ist das eher selten und die letzte Sonnenwende an einem 20. Juni fand 1896 statt. Aber die nächste liegt im Jahr 2020 umso näher. Dafür werden die meisten von uns wohl kein Sonnenwendfest an einem 22. Juni mehr erleben, denn in diesem Jahrhundert wird sich das Phänomen an diesem Datum nicht mehr ereignen.

Erst Licht, dann Wärme
Was viele überrascht: Der längste Tag des Jahres ist nicht überall gleich lang. In Hamburg währt er beispielsweise eine ganze Stunde länger als in Zürich, weil die im Norden Deutschlands gelegene Hansestadt näher am Polarkreis liegt und deshalb näher an jener Zone, wo die Sonne fast ein halbes Jahr lang selbst um Mitternacht nicht untergeht, sondern immer noch knapp über dem Horizont zu sehen ist. Unterschiede gibt es auch im Zeitpunkt. Während der Wendepunkt der Sonne bei uns am 21. Juni in Berlin um 12:07 Uhr Mitteleuropäischer Sommerzeit erreicht ist, ist es auf der Weihnachtsinsel Kiritimati erst am 22. Juni um 00:07 Uhr so weit. Bemerkenswert ist außerdem, dass am 21. Juni bei uns zwar der längste Tag anbricht, der früheste Sonnenaufgang des Jahres aber schon einige Tage vor der Sonnenwende stattfindet und der späteste Sonnenuntergang sich an den auf den Sonnenwendtag folgenden Abenden ereignet. Die Ursache für dieses Phänomen ist die Neigung der Erdachse und die elliptische Umlaufbahn, die die Erde um die Sonne beschreibt. Sie sorgt dafür, dass die Sonnenposition sich jeden Tag ein wenig verändert und auch der Sonnenlauf einem scheinbar unterschiedlichen Tempo folgt und sie mal langsamer, mal schneller über den Himmel zu ziehen scheint. Auch wenn man es vermuten könnte, ist der Sommersonnenwendtag zumeist nicht der wärmste Tag des Jahres. Das hängt damit zusammen, dass die Erde noch nicht genug Sonnenenergie gespeichert hat und die Atmosphäre deshalb noch nicht so machtvoll erwärmen kann wie in den späteren, zwar lichtärmeren, aber eben doch sommerlicheren Tagen.

Treffpunkt Stonehenge
Wer zur Zeit der Sommersonnenwende 130 Kilometer westlich von London in Stonehenge ist, wird feststellen, dass es eine große Anzahl an Menschen gibt, die das alte Fest wieder so feiern, wie es zur Zeit der Erbauung dieses sagenhaften Monumentes begangen worden ist. Vor allem für Druiden, also Heiden, Christen oder Angehörige anderer Religionen mit naturspiritueller Ausrichtung, deren Anzahl in den letzten Jahren wieder ansteigt, ist dieser Festtag besonders wichtig. Im bäuerlichen Jahreslauf spielte der Gang der Sonne eine große Rolle und deshalb waren nicht nur die Sonnenwend- sondern auch die Equinoxtage große Feste, an denen die gesamte Gemeinschaft zusammenkam. Bedenkt man die technischen Möglichkeiten unserer Vorfahren, ist es schier unglaublich, über welches Wissen sie verfügten, um Kunstwerke wie die Himmelsscheibe von Nebra oder Steinsetzungen wie Stonehenge zu schaffen. Schließlich mussten sie nicht nur die Kraft aufbringen, um die schweren Sarsensteine über weite Entfernungen heranzuschaffen, sondern sich mit dem Sonnenlauf so präzise auskennen, dass sie sie auch korrekt aufstellen konnten. Denn in Stonehenge kann man tatsächlich an bestimmten Tagen des Jahres, zum Zeitpunkt der Sommer- und Wintersonnenwende, die Sonne an einer genau definierten Stelle beobachten. Wer nicht ganz so weit reisen möchte, kann sich die Besonderheiten der Sonnenkonstellation auch am Rande des Eggegebirges auf den Externsteinen ansehen. Besonders intensiv wird die Sommersonnenwende in Schweden gefeiert, wo sich an Mittsommer die Familien und ganze Ortschaften zusammenfinden und mit Blumenkränzen im Haar bei Hering, Rotfisch, Kartoffeln und so manch einem Getränk, in dem der Fisch dann auch schwimmen kann, die helle Sommernacht miteinander verbringen.

Er muss zunehmen, ich aber muss abnehmen
Wie viele andere vorchristliche Feste wurden auch die Tage der Sommer- und Wintersonnenwende im Laufe der Zeit mit neuen Inhalten gefüllt. Es ist ja kein Zufall, dass die Geburt Christi zu einem Zeitpunkt gefeiert wird, an dem man schon Jahrhunderte zuvor die Wiedergeburt des Lichtes festlich begangen hat. Und genauso planvoll wird auch das Fest der Geburt Johannes des Täufers, des Vorläufers Jesu Christi, sechs Monate später am 24. Juni gefeiert; dann also, wenn sich die Sonnenwende vollzogen hat. Dass die Geburt eines Heiligen gefeiert wird, ist sehr ungewöhnlich und trifft nur auf die Gottesmutter Maria und Johannes den Täufer zu, während sonst der Todestage gedacht wird. Bemerkenswert an der Inkulturation der alten Sonnenwendfeiern in christliche Zeit ist, dass sie gewissermaßen chiastisch, also gegenläufig angeordnet sind. Denn das Geburtsfest des Vorläufers, der von sich gesagt hat: „Er muss zunehmen, ich aber muss abnehmen“, wird genau dann begangen, wenn die lichtärmer werdende Zeit wieder beginnt. 
Der Johannestag ist fest mit dem alten Sommersonnenwendenbrauchtum verknüpft. So wird heute noch an vielen Orten nach dem Gottesdienst das Johannesfeuer entzündet. Im Volksglauben verband man mit dem Johannesfeuer die Hoffnung, in den nun zunehmend dunkler werdenden Tagen die Dämonen fernzuhalten. Wer eine Strohpuppe ins Feuer warf, ein Brauch, der auf den Namen Hanslbrennen hört, verband damit die Hoffnung, Hagelschäden von seinem Anwesen und seinen Feldern fernzuhalten. Der traditionelle Sprung über das Feuer soll eine reinigende Wirkung haben und Krankheiten fernhalten und wenn ein künftiges Paar den Feuersprung wagt, ist auch der Schritt in die Ehe nicht mehr fern. Die Zeit um die Sommersonnenwende gilt auch als günstig für das Sammeln von Kräutern, die um diese Zeit eine besonders große Heilkraft haben sollen. Die Johannessträuße bestehen aus sieben Kräutern. Auch das Binden von Kräuterkränzen verbindet sich mit dem Johannestag. Er ist zudem ein alter Lostag, an dem gemäß den überlieferten Bauernregeln Voraussagen über das Wetter der kommenden Wochen getroffen wurden. Das Wort Los ist in diesem Zusammenhang als „Geschick“ zu verstehen. Nicht mehr gebräuchlich ist das Abhalten der Dingtage am Johannesfest. Diese alten Gerichtstage, die sich vermutlich vom nordischen Wort „Thing“ ableiten, waren feste Termine, an denen im Zusammenhang mit Märkten und Messen Streitfälle gerichtlich ausgetragen wurden.

Hans Dampf in allen Gassen
Wie an vielen Feiertagen wird natürlich auch am Sonnenwendtag gern und viel gegessen und getrunken. Zu den traditionellen Gerichten gehören ein noch warmer Johanneskuchen, der dampfend umhertragen wird, woher die alte Redewendung vom Hans Dampf abgeleitet wird. Ebenfalls sehr beliebt sind dank des alten Namens Holdertag für die Sonnenfeiern die sogenannten Hollerküchel, also Holundergebäck mit den leckeren, Vitamin-C-haltigen Beeren dieser Saison.

Zuletzt aktualisiert: 08. Juni 2018
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