Eine Gangsterbande vor Gericht

30. Oktober 2015 | von

Die sogenannten Nürnberger Prozesse schrieben völkerrechtliche Geschichte. Erstmals wurden Vertreter eines souveränen Staates für ihr Handeln zur Rechenschaft gezogen. Was ab November 1945 in Nürnberg geschah, wurde zum Wegbereiter der UN-Kriegsverbrechertribunale und des Internationalen Strafgerichtshofs.




Im Tagebuch von Robert Jackson steht unter dem 27. April 1945 der Eintrag: „Außerordentlich erfreut über das Angebot und herausgefordert von der Schwierigkeit der Aufgabe habe ich die Sache in meine Obhut genommen.“ Wenige Tage später wird der ehemalige US-Justizminister und amtierende Richter am Supreme Court per Präsidentenerlass von Harry S. Truman zum amerikanischen Chefankläger des noch zu gründenden Internationalen Militärtribunals ernannt. 





Ein Novum der Geschichte



Robert Jackson soll die Anklage der Naziführung wegen der Einleitung eines Angriffskrieges und der kriminellen Verschwörung organisieren. Und als am 8. Mai 1945 die Kapitulation von Nazi-Deutschland in Kraft tritt, greift man  entgegen der üblichen Praxis einer blutigen Vernichtung des Besiegten durch den Sieger oder der inszenierten Abhaltung eines Schauprozesses in den Wochen rund um das Kriegsende eine am 13.01.1942 im Londoner St. James’s Palace verabschiedete Erklärung wieder auf. Damals hatten neun von Deutschland unterworfene Staaten gefordert, bei einer möglichen Niederlage Hitlers einen ordnungsgemäßen völkerrechtlichen Prozess zu führen. Schon im Vorfeld allerdings gibt es Schwierigkeiten zu Hauf. Weil die systematische Verfolgung der Juden nach dem damaligen Stand des Völkerrechts – juristisch betrachtet – keinen illegalen Akt darstellte, meint der Washingtoner Historiker Christopher Simpson: „In der Praxis wäre es danach auch fast jedem Nazi mit einem fähigen Rechtsbeistand möglich gewesen, nach dem Krieg der Bestrafung zu entgehen, vorausgesetzt, er würde überhaupt gefangen und angeklagt werden.“ Der Kriegsverbrechen aber hatten sich dann auch andere Nationen schuldig gemacht: Oder wie sollte man den unverhältnismäßigen Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki beurteilen? Und dann war da das nicht unwesentliche Problem mit dem Stichwort „ex post facto“. Eiserner Grundsatz des Strafrechts ist, dass man nicht im Nachhinein für eine Tat angeklagt und bestraft werden kann, für die es zum Zeitpunkt der Tat noch gar keine Strafe gab. Neben all diesen grundsätzlichen Fragen muss man dann noch darin übereinkommen, nach welcher Prozessordnung das Gericht tagen soll – die Alliierten haben hier durchaus unterschiedliche Vorstellungen und Gewohnheiten.







Prozessvorbereitungen



Die Charta von London, von den Alliierten unterschrieben am 8. August 1945, wird zur Rechtsgrundlage für den Prozess. Zur Anklage kommen sollen von Deutschland begangene Verbrechen gegen den Frieden (d. h. das Einleiten eines Angriffskriegs), Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Zu verantworten haben sich die jeweiligen Führer. 



Mit Heerscharen von Anwälten und Unterstützern macht sich Chefankläger Jackson auf den Weg nach Europa, um im ausgebombten Deutschland nach belastbaren Beweisen zu suchen. Kein leichtes Unterfangen, oft noch einmal erschwert durch den dilettantischen Umgang mit sichergestellten Akten und den Mühen, alles mehrfach übersetzen zu müssen. Parallel zur Anklageschrift wird der Prozessort vorbereitet. Eröffnen wird man den Prozess in Berlin, sich dann aber nach Nürnberg vertagen. Der Justizpalast in der ehemaligen „Stadt der Reichsparteitage“ ist weitgehend unbeschädigt. Dort richtet man den „Saal 600“ als Verhandlungsort her. Das benachbarte Gefängnis ist groß genug, um die angeklagten Hauptkriegsverbrecher, darunter Nazis wie Reichsmarschall Hermann Göring, Hitlers Stellvertreter in der NSDAP Rudolf Heß und der Reichsminister für Bewaffnung und Munition Albert Speer, dort aufzunehmen. 







In den Mühlen der Justiz



Am 20. November 1945 eröffnet der Vorsitzende Richter Sir Geoffrey Lawrence die Verhandlung. Der Hauptkriegsverbrecherprozess kann beginnen. Chefankläger Jackson liefert in seiner 65-seitigen Anklageschrift ein flammendes Plädoyer: „Die Untaten, die wir zu verurteilen und zu bestrafen haben, waren so ausgeklügelt, so böse und von so verwüstender Wirkung, dass die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann, sie unbeachtet zu lassen.“ Über 16.000 Protokollseiten und schier endlos scheinende Debatten und Übersetzungen wird es dauern, bis am 30. September und 1. Oktober 1946 die Urteile verkündet werden können. Die Mehrzahl der Angeklagten hatte zugegeben, dass grauenhafte Verbrechen begangen worden waren, behauptete aber, nur Befehle befolgt zu haben oder nicht richtig informiert gewesen zu sein. Doch wie ist mit der Schuld umzugehen? Hannah Arendt schreibt: „Göring zu hängen, ist zwar notwendig, aber völlig inadäquat. Das heißt, diese Schuld, im Gegensatz zu aller kriminellen Schuld, übersteigt und zerbricht alle Rechtsordnungen.“ Die meisten der Hauptangeklagten werden zum Tod durch den Strang verurteilt, einige zu mehrjährigen bzw. lebenslangen Haftstrafen, für wenige endet der Prozess mit einem Freispruch. Hermann Göring tötet sich auf nach wie vor ungeklärte Weise durch eine Zyankali-Kapsel in der Nacht vor der Hinrichtung selbst. Dem Nürnberger Hauptprozess folgen noch zwölf weitere Prozesse gegen NS-Kriegsverbrecher.


Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016