Fenster zu einer anderen Wirklichkeit

01. Januar 1900 | von

Nehmen wir einmal an, es gäbe einen überdimensionalen Film, der die gesamte Geschichte des Lebens bis ans Ende der Zeiten enthält. Auf diesem Film spielt sich auch das Leben aller Menschen ab, die sich gerade in ihrem irdischen Dasein befinden. Sie sind unausweichlich in den strengen zeitlichen Ablauf von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dieses Filmes eingebunden. Zurückliegendes können sie nicht mehr beeinflussen. Ihre Zukunft ist noch nicht eingetreten. Sie liegt auf dem Film noch vor ihnen. Ihrer Wahrnehmungsfähigkeit ist allein das in Raum und Zeit Gegenwärtige erkennbar, aktuelles Reden, Denken und Tun zum Beispiel. So erleben sie ihr persönliches Dasein diesem überdimensionalen Film verhaftet, aus dem ihre begrenzte Sinneswahrnehmung nicht herausgelöst werden kann.

Durchbrechen von Raum und Zeit. Wie aber wäre es, wenn sich jemand vom Eingebundensein in diesen Zeitenfilm lösen und ihn aus der Entfernung betrachten könnte? Aus dieser Distanz wäre es möglich, das gesamte Geschehen aller Zeiten zu überblicken, sowohl Vergangenes wie auch Zukünftiges, Nahes wie auch Entferntes. Anders ausgedrückt: Wer der Raum-Zeit-Schranke verhaftet ist, erlebt den Anfangsteil des Filmes schon abgespult, den anderen Teil als erst weiterlaufend. Dem nicht an die Zeit-Raum-Schranke gebundenen Betrachter ist auch die allerletzte Szene des Weltenfilms im Voraus schon erkennbar.
Es gibt Menschen, welche in verschiedenen Stufen die Fähigkeit haben, die Zeit-Raum-Schranke zu durchbrechen, im kurzen Aufleuchten einer bestimmten Erkenntnis oder in begrenzten Phasen eines übergreifenden Schauens aus der Distanz. Ich kenne solche Menschen. Sie haben zum Beispiel telepathische Erkenntnisse, hellseherische Fähigkeiten, retrospektive (in die Vergangenheit gerichtete) Gesichte oder praekognitive (voraus erkennbare) Visionen.

Fenster zur Unendlichkeit. Zukünftiges auf dem großen Weltenfilm erkennen zu können, bedeutet nicht, dass menschliche Entscheidungsfreiheit ausgeschaltet und unser Tun festgelegt ist. Gott, der Raum und Zeit schuf, souverän über ihnen steht und sie in seinen Händen hält, kennt alle Vergangenheit und Zukunft bis ins winzigste Detail. Er überblickt alle vergangenen und zukünftigen Ereignisse, Gedanken, Worte und Taten der Menschen. Er kennt sie nicht deshalb, weil er sie etwa vorherbestimmt hat, sondern weil er aus zeit- und raumunabhängiger Ewigkeit vorhersieht, wie sich jeder Mensch kraft seines eigenständigen Denkens und Wollens entscheiden wird. Gott steht es frei, manchen Menschen bereits in diesem Leben Möglichkeiten und Fähigkeiten zu eröffnen, mit denen er sie an der Unendlichkeit seiner Erkenntnis in einem von ihm bestimmten Umfang teilhaben lässt. Von daher sind Prophetie, Mystik und Visionen als tatsächlich stattfindendes außersinnliches Erleben erklärbar.

Selektive Wahrnehmung. Die Wahrnehmungsprozesse unserer menschlichen Sinne sind begrenzt. Forschungsergebnisse aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen bestätigen, dass die mit menschlichen Sinnen erfasste Umwelt nicht die ausschließliche Realität ist. Mag dies auch zunächst seltsam erscheinen, weil uns persönlich der Zugang dazu fehlt. Tatsache ist, dass es beispielsweise in der Tier- und Pflanzenwelt Empfangs- und Wahrnehmungsorgane gibt, welche ganz andere Dimensionen der Wirklichkeit erschließen. Das menschliche Auge vermag nur bestimmte Wellenbereiche des Lichts zu empfangen und versagt bei Ultraviolett und Infrarot. Unser Ohr entschlüsselt nur Töne innerhalb einer bestimmten Spannweite von Frequenzen. Es nimmt Signale des Ultraschalles nicht mehr wahr, die Hund oder Fledermaus mit ihren Sinnesorganen empfangen. Jedes Lebewesen nimmt seine Umwelt selektiv (nur in Ausschnitten) auf Grund der ihm angeborenen Empfangsstruktur wahr und lebt so in seiner individuellen Begrenztheit.

Verborgene Realität. Realität ist also nicht nur das, was wir mit unseren gewohnten Sinnen erfassen. Nehmen wir ein Beispiel: Es ist Nacht. Ein Wanderer nähert sich einem Dorf. Er versucht, mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen, um zu erfahren, was es dort gibt. Trotz konzentrierter Anstrengung gelingt es ihm nur, Menschen und Dinge in nächster Nähe zu erkennen. Was dahinter ist, bleibt ihm verborgen. Er könnte jetzt sagen: Dort gibt es nur das, was ich sehe. Etwas anderes ist nicht existent. Da tritt ein weiterer Wanderer hinzu. Er besitzt ein Infrarot-Fernglas. Mit dessen Hilfe erkennt er weitere Personen, Tiere, Bewegungen und Geschehnisse, die der andere Wanderer nicht wahrnimmt. Ähnlich wie das Infrarot-Glas eine Möglichkeit bietet, Unsichtbares sichtbar zu machen, besitzen manche Menschen bislang noch unerforschte Wahrnehmungs-Fähigkeiten, mit deren Hilfe außersinnliche Erkenntnisse gelingen. Darf man da grundsätzlich behaupten, solcherart Wahrgenommenes sei unwirklich? Nein. Wir dürfen davon ausgehen: Es gibt diese reale und zugleich verborgene transzendente Wirklichkeit. Und es gibt Menschen, denen ein Spalt geöffnet wird, durch den sie diese wahrnehmen.

Mystische Visionen. Auf Grund solcher Überlegungen glaube ich auch den Aussagen christlicher Mystik, die schon immer von Menschen berichtet, welche in ihren Visionen die Raum-Zeit-Schranke durchbrachen. Ich habe zum Beispiel die Texte von Anna Katharina Emmerich, Therese Neumann und Maria Valtorta kritisch gelesen. Dabei gewann ich die Überzeugung, dass es sich bei deren Visionen zweifelsohne um eine Raum und Zeit überwindende außersinnliche Schau handelt. Sie berichten von außersinnlichen Erfahrungen des Sehens, Hörens, Riechens und Fühlens. Zugleich machen sie genaue und konkrete Angaben über geschichtlich und geografisch nachweisbare Einzelheiten, die nur historischen oder archäologischen Fachleuten bekannt sein können. Manche ihrer visionären Erkenntnisse waren so neu, dass sie erst im Nachhinein durch wissenschaftliche Nachforschungen bestätigt wurden. Auch die Aussagen der heiligen Bernadette von Lourdes und der Seherkinder von Fatima halte ich für echte Visionen. Bei diesen wird der Inhalt von Botschaften teilweise in Form symbolhafter Mitteilung verdichtet und veranschaulicht. Wir sollten daher gerade bei religiösen Visionen unterscheiden: Es kann sich einerseits um eine außersinnliche Schau vergangenen, zukünftigen oder aktuell räumlich entfernten Geschehens handeln, andererseits um die Übermittlung konkreter Botschaften oder Mitteilungen, die überwiegend Bildcharakter (Kardinal Ratzinger) tragen.

Adressaten des Außersinnlichen. Meist tritt visionäres Erleben unvorbereitet und völlig überraschend auf. Therese Neumann zum Beispiel erlebte mit einem Mal im Zusammenhang mit ihrer Stigmatisierung Schauungen des Leidensweges Christi. Von dieser Zeit an hatte sie vor allem biblisch-historische Visionen verschiedener Art.
Bernadette und die Kinder von Fatima wurden ähnlich überraschend von Erscheinungen der Muttergottes ergriffen und mit außersinnlichen Botschaften sprachlicher wie bildlicher Art bedacht.
Bei Anna Katharina Emmerich trat bereits in früher Kindheit die Gabe der Visionen auf, in denen sie Ereignisse des Alten und Neuen Testaments schaute. Sie nahm wie selbstverständlich an, ihre Mitmenschen würden das auch so sehen.

Inneres Erfülltsein. Maria Valtorta bot sich im Alter von 27 Jahren der Barmherzigen Liebe zum Opfer an und erneuerte diese Hingabe täglich. Bald begann sie die Anwesenheit Jesu in den eigenen Worten und im eigenen Tun zu spüren. Aus diesem Erfülltsein schrieb sie in wenigen Jahren unter unsagbarem körperlichen und psychischen Leiden fünfzehntausend Heftseiten voll von Berichten dessen, was sie visionär erlebte und ihr sprachlich eingegeben wurde. Der historisch-biblische Inhalt ihrer Texte frappiert durch umfassende geografische Beschreibungen des Heiligen Landes, detaillierte Abläufe des Geschehens, der Dialoge, Wunder und Exorzismen aus dem Leben Jesu sowie durch einen glänzenden und bestechenden Sprachstil. Ihre Aussagen, die ihr aus der Hand flossen, veranschaulichen und konkretisieren die Texte des Neuen Testamentes. Ich bin überzeugt davon, dass diese ganz andere Art visionärer Schau und schriftlicher Dokumentation bei Maria Valtorta echtem retrokognitiven Erleben entstammt, das ihr auf übernatürliche mystische Weise vermittelt und eingegeben wurde.

Ich schwebte empor. Aus der Fülle von Erfahrungsberichten über Austritts-Erlebnisse aus dem Körper greife ich zur Veranschaulichung zwei heraus. In Kalifornien lebte eine junge Frau, die von früher Kindheit an Erlebnisse hatte, bei denen sie sich außerhalb ihres Körpers wusste. Der Psychologe Ch. Tart von der Universität von Kalifornien machte mit ihr ein Experiment. Die junge Frau wurde im Labor durch medizinische Apparaturen ans Bett gefesselt. Eine fünfstellige Zahl auf einem Zettel war zuvor auf ein Regal hoch über ihrem Kopf gelegt worden. Während sie im Labor lag und schlief, sollte sie diese Zahl erkennen. Als sie aufwachte, nannte sie die richtige Zahl. Ich schwebte empor und las die Zahl, berichtete sie über ihr Erleben.
Kürzlich unterhielt ich mich mit einem Freund, von dessen Wahrhaftigkeit ich voll überzeugt bin. Nach einem Herzinfarkt bemerkte er, wie er sich auf der seinem Bett gegenüberliegenden Seite des Krankenzimmers befand und beobachten konnte, wie sich Arzt und Pflegepersonal um seinen Körper bemühten. Der aber lag seltsamer Weise im Bett.

Seelische Erlebenskräfte. Ohne Zweifel handelt es sich in solchen Beispielen um Austritts-Erlebnisse. Aber wie geht das? Was tritt da aus? Was ermöglicht die geheimnisvolle Fähigkeit, den Körper zu verlassen, Raum-Zeit-Schranken zu überwinden? Eine Analyse der Phänomene außersinnliche Wahrnehmung und Vision oder Sterbeerlebnisse führt zu dem Schluss, dass es die Seele des Menschen ist, welche solches ermöglicht. Die Überwindung raum-zeitlicher Dimensionen im Rahmen retrokognitiven, telepathischen oder praekognitiven Wahrnehmens kann nicht zufriedenstellend mit einem unbekannten Siebten Sinn erklärt werden. Es spricht vielmehr alles dafür, dass die jedem Menschen von Gott zugeeignete Seele ungeahnte Möglichkeiten und Fähigkeiten besitzt, unter anderem eine von Raum und Zeit unabhängige Wahrnehmungsfreiheit. Sterbeerlebnisse haben dies inzwischen bestätigt.
Der Seele, dem immateriellen und unzerstörbaren personalen Ich des Menschen, sind infolge ihrer (spätestens beim Tod eintretenden) Materieunabhängigkeit keine Grenzen von Raum und Zeit gesetzt. Berichte beweisen: Die Seele kann aus dem Körper austreten, dabei wahrnehmen und denken. Die Folgerung liegt nahe, dass die Fähigkeit zu außersinnlicher Wahrnehmung und Visionen in der Seele begründet liegt. Dies geschieht zum einen auf Grund vorübergehender Befreiung seelischer Erlebenskräfte vom Eingebundensein in körperliche Raum-Zeit-Bedingungen, zum anderen auf Grund von Gott ermöglichtem und ausgewähltem visionären Erleben und Erfahren.

Sehnsucht nach dem Emotionalen. Wie nie zuvor hat den Menschen heute die drängende Sehnsucht gepackt, die Flucht in eine irreale Welt der Träume anzutreten. Psychologen erkennen darin Reaktion und Antwort auf die Dominanz des Rationalen und die Vernachlässigung emotionaler Sehnsüchte, vor allem auf religiösem Gebiet. Die gegenwärtige Theologie, so Kardinal Ratzinger, drängt das Emotionale in das Irrationale ab. Diese Entwicklung zeigt, wie viel im Leben der Kirche ausgerechnet in dem Augenblick ausgefallen ist, in dem man glaubte, die gesamte Frömmigkeit des zweiten christlichen Jahrtausends als belanglos beiseite schieben zu können. Im Gegenzug erleben Horoskope einen kommerziellen Boom. Wahrsager erfreuen sich wachsenden Zulaufs. Im Untergrund der Großstädte breiten sich Geheimbünde, spiritistische Zirkel und Satanskulte aus. Viele präsentieren gefährliche Botschaften aus dem Jenseits. Solche Botschaften und Erlebnisse haben nichts mit der Ernsthaftigkeit religiös-mystischer Visionen zu tun, schon eher mit dämonischer Irreführung. Vor ihnen muss eindringlich gewarnt werden. Außersinnliches darf das eigene Denken und Tun nur dann beschäftigen, wenn kein Zweifel darüber besteht, dass der Ursprung und die Absicht der damit zusammenhängenden Mitteilung in Gott gründen.

Zum Thema Visionen erschien von Prof. Dr. Reinhold Ortner das Buch Die Berge werden erbeben: Außersinnliche Wahrnehmungen, Visionen, Prophezeiungen im Christiana Verlag, Stein am Rhein (1985).

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016