Frieden für Jerusalem

05. Mai 2014 | von

Auf den Spuren von Paul VI., dem ersten Nachfolger des Apostels Petrus, der das Heilige Land betreten hat, besucht Papst Franziskus vom 24. bis 26. Mai Amman, Bethanien, Betlehem, Tel Aviv und Jerusalem. Der italienische Journalist Andrea Semplici ist ihm sozusagen nach Betlehem und Jerusalem vorausgereist und bietet den Sendboten-Lesern einen Vorgeschmack dessen, was den Heiligen Vater in der Heimat Jesu erwartet.



Als Pilger kam ich nicht nach Jerusalem. Hier vermengt sich Heiliges, Alltägliches und Absurdes, höchste Schönheit und absurdeste Verrücktheit. Nur ein wenig verstehen wollte ich dieses unentwirrbare Knäuel. „Dies ist der Platz auf der Erde, wo jeder Mensch Gott am nächsten ist“, sagt mir Mahdi Abdul Hadi, siebzig Jahre alt, Präsident des ehrwürdigen Palästinenser-Studienzentrums Passia. „Gott sei Dank sind wir zurück in unserer Stadt, diese Erde wurde uns von Gott gegeben“, höre ich Daniel Luria reden, Präsident der radikalen jüdischen Organisation Ateret Cohanim (Krone der Priester) mit dem Ziel ‚reclaim Jerusalem‘: „Jerusalem gehört jedem einzelnen Juden“, und zwar ausschließlich.

Hierher kommt im Mai der Papst. Franziskus geht die Schritte eines anderen Papstes nach, Paul VI., ein halbes Jahrhundert ist das her. Im Jahr 1964 überraschte er die Welt, weil er nach beinahe zweitausend Jahren in jene Stadt zurückkehrte, wo das Christentum entstanden war. An den weißen Steinen in Jerusalem, dem Nabel der Welt, haftet die Geschichte aller drei ‚Religionen des Buches‘. Eine zum Mythos gewordene, begehrte, gehasste, verehrte Stadt. Hier stieg Mohammed mit dem Erzengel Gabriel zum Himmel empor auf dem Rücken des mythischen geflügelten Pferdes Buraq. Allah wollte ihm das Paradies zeigen. Für die Juden bedeutet diese Stadt alles. Hier liegen ihre biblischen Wurzeln, hier erwarten sie die Wiederkunft des Messias, hier weinen sie ob der Zerstörung des Zweiten Tempels. Für die Christen ist es der Ort der Passion, des Todes und der Auferstehung Christi. Hier wurden die ersten Seiten der Heilsgeschichte geschrieben. Nichts ist leicht in Jerusalem. Für mich wäre es einfacher, lediglich im Labyrinth des Heiligen Grabes der Christen zu beten oder Hand und Stirn auf die riesigen Steinquader des kotel zu stützen, die Westmauer der Juden, oder mich auf den Boden vor der wunderbaren Al-Aqsa-Moschee zu werfen, dem drittwichtigsten Ort des Islam. Doch ich muss von Jerusalem und Betlehem erzählen, wohin Papst Franziskus im heißesten Monat des Jahres kommt.



BETONMAUER UM BETLEHEM

Also suche ich das Heilige abseits von heiligen Orten. In Betlehem, dem ‚Haus des Brotes‘, geht am Freitag, dem Gebetstag der Muslime, eine kleine Gruppe von Männern und Frauen langsam die Mauer am Check Point Nummer 300 entlang. Seit zehn Jahren trennt diese acht Meter hohe Barriere Betlehem, auf der Erde Palästinas, vom Rest der Welt. „Die Drei Könige kämen heute nicht durch bis zur Grotte, in der Jesus gerade geboren wurde“, sagt mir, hinter einem Altartisch mitten unter den Olivenbäumen, Padre Mario Cornioli, ein Priester aus der Toskana hier in Beit Jala, dem großen Vorort der Stadt. 75.000 Palästinenser, eingeschlossen in einem Käfig aus Stahlbeton, der das Stadtgebiet auf ein Zehntel reduziert. Heute ist die Geburtsstadt Jesu, wo der Papst auf einem viel zu kleinen Platz eine heilige Messe feiern wird, fast vollständig von dieser Mauer umgeben.Es ist fünf Uhr nachmittags, die Mauer passt nicht zur Schönheit des Sonnenuntergangs. Ordensschwestern, Christen, manchmal auch muslimische Männer und Frauen, kehren der kriegerischen Architektur des Check Point den Rücken. Sie gehen langsam, berühren die Zementplatten und murmeln in vielen Sprachen den Rosenkranz. Zehn Meter weiter halten schwarz gekleidete Männer des israelischen Sicherheitsdienstes Wache, die Waffen im Anschlag.



GEBETE GEGEN OHNMACHT

Dieses einsame Gebet ist das Heilige von Betlehem. Die Pilger (jährlich kommen Millionen) in den Bussen hören es nicht. Sie sind auch nicht früh um vier Uhr hier, wenn jeden Tag 5.000 Palästinenser (laut World Council of Churches) den Check Point passieren, nach nervtötenden Kontrollen. Sie müssen nach Jerusalem, um Arbeit zu suchen. „Betlehem kann ohne Jerusalem nicht leben“, sagt mir Padre Ibrahim Shomali, 42 Jahre alt, Pfarrer in Beit Jala, wo die Arbeitslosigkeit bei 70 Prozent liegt. Ein Großteil der Familien in Betlehem lebt von Unterstützung. Jeder dritte junge Mann will weg aus der Stadt. Christen, die Verwandte im Ausland haben, ziehen fort. In Australien gibt es mehr palästinensische Christen als im Heiligen Land. Man versteht es sehr wohl: Das Familieneinkommen (im Durchschnitt sind es sieben Personen) liegt bei 270 Euro im Monat. Und Arbeit gibt es nur im zehn Kilometer entfernten Jerusalem, als Tagelöhner, Maurer, Kammerdiener, Gärtner, Straßenkehrer. Doch die Palästinenser dürfen aus Betlehem nur heraus, wenn sie eine Erlaubnis haben, und nur über den Check Point Nummer 300. Dafür brauchen sie Stunden und Stunden. Es kann auch sein, dass man sie nicht durchlässt.

Schwester Donatella Lessio, 47 Jahre alt, klein, zäh, aus der Gegend von Venedig, kam vor zehn Jahren nach Betlehem, als gerade mit dem Bau der Mauer begonnen wurde. Sie lacht: „Unser Gebet war ein Aufbegehren gegen die Machtlosigkeit. Es ist die einzige Waffe, die wir haben. Wir wollen versuchen, den Vater im Himmel müde zu machen. Wir möchten, dass er uns hilft, den Frieden wiederzufinden in dieser Stadt, in der sein Sohn geboren wurde.“ Die Ordensschwestern haben ihre Gebete gezählt: 27.000 Ave Maria in zehn Jahren. „Offensichtlich müssen wir noch lange weiterbeten, ehe das alles zu Ende geht“, lacht Schwester Donatella. Sie weiß, wovon sie redet. Sie arbeitet im Baby Caritas Hospital, dem einzigen Kinderkrankenhaus in Palästina, nur hundert Meter von der Mauer entfernt. Es gibt keine Operationssäle im Baby Caritas Hospital, denn die Krankenhäuser Jerusalems sind ganz nahe, nur dass die Ambulanzen von Betlehem dort nicht einfach hinfahren dürfen. Sie müssen am Check Point warten, bis ein „autorisiertes“ Gefährt kommt. „Jetzt geht es einigermaßen gut, im Schnitt dauert es nur sieben Stunden. Wir haben auch schon Tage auf eine Erlaubnis gewartet, einige Kinder überlebten das nicht“, erinnert sich Schwester Donatella. Papst Franziskus wird von diesem Check Point kaum etwas mitbekommen.



JUDEN MUSLIME CHRISTEN

Ich als Ausländer komme leicht durch die Kontrollen. Sherut Nummer 24 ist der Kleinbus von Check Point 300 zum Damaskus-Tor in Jerusalem, zwanzig Minuten Fahrt. Das israelische Parlament erklärte Jerusalem 1980 zur „ewigen, einzigen und ungeteilten Hauptstadt“ Israels. In den letzten Jahren verschob sich die demographische Zusammensetzung der gut 800.000 Einwohner (laut Jerusalem Institute for Israel Studies): 64 Prozent Juden (mehr als ein Drittel bezeichnen sich als ultra-orthodox; die Frauen dieser religiösen Familien haben eine Geburtenrate von etwa acht Kindern; im übrigen Israel betrachten sich nur neun Prozent der Juden als ultra-orthodox); 32 Prozent Muslime (15 Prozent von ihnen hält sich für „sehr religiös“) und zwei Prozent Christen (im Jahr 1948 waren es noch zehn Prozent). In der Altstadt – ein unentwirrbares Geflecht von Gässchen, Passagen, versteckten Terrassen und unterirdischen Gängen – wohnen etwa 40.000 Menschen. Davon sind 30.000 Muslime, bei einer Bevölkerungsdichte von 90 Personen auf tausend Quadratmetern; weniger als 5.000 sind Christen; 3.300 sind Juden; knapp 1.600 sind Überlebende der armenischen Gemeinschaft.

Die Altstadt ist extrem klein: ein Quadratkilometer, nicht mehr. Vier historische Viertel, hundert Reibungspunkte, tausend Orte, um sich zu treffen. Hier bleibt es nicht aus, dass man sich berührt, anfasst, schubst, drängelt. Einige israelische Fahnen wehen im Viertel der Muslime und der Christen; etwa tausend radikale Juden wohnen in diesen übervölkerten Zonen der Altstadt, geschützt durch Stacheldraht. Die Palästinenser betrachten solches Eindringen als Beleidigung. Schnellen Schrittes eilen orthodoxe Juden durch die Gässchen der Stadt; sie scheinen für niemanden einen Blick zu haben auf ihrem Weg zur Westmauer. Sie haben es immer eilig mit ihren schwarzen Mänteln, breitkrempigen Hüten und langen Schläfenlocken. Unbeeindruckt von den langen Gewehren der Soldaten, spielen Palästinenserkinder. Wenn der Ball gegen die Metallrohre knallt, klingt es, als pralle er von einer Mauer ab. In dieser Stadt teilt man miteinander kleinste Flächen und tut so, als sähe man sich nicht.



SCHLAGSTOCK UND PFEFFERSPRAY

Jeder Stein erzählt von Heiligem und von Blut: Nach 1948 zerstörten die Jordanier im Judenviertel 58 Synagogen. Bei der Eroberung Jerusalems am 10. Juni 1967 machten die Israelis 135 Häuser des Marokkaner-Viertels Maghariba, das damals an die Westmauer stieß, dem Erdboden gleich und verjagten die dort wohnenden 650 Palästinenser. So entstand der große Plaza, der heiligste Platz des Judentums. Die Kuppel des muslimischen Felsendoms mit ihren Goldplättchen überragt die jüdische Mauer. Die Religionen leben in Jerusalem, wie die Menschen, Seite an Seite. Israelische Soldaten halten Tag und Nacht Wache an der dritten Station der Via Dolorosa und am Damaskus-Tor. Am Freitag stehen sie in Zehnergruppen an den Zugängen des Vorplatzes der Moscheen und hindern Männer unter fünfzig Jahren daran, zum Gebet einzutreten. Manchmal wird aus der Spannung Wut. Dann werden Schlagstöcke, Tränengas und das gefürchtete Pfefferspray eingesetzt. Mich selbst hat an einem der Eingänge zur Al-Aqsa-Moschee, etwa fünf Meter vom israelischen Block, mitten im Gedränge eine Gaswolke aus Pfefferspray erwischt; stundenlang hatte ich flammend-entzündete Augen. Wer in der ersten Reihe stand, das bekam ich mit, war besonders schlimm zugerichtet.



STADT DES FRIEDENS?

Man sagt mir, in der Altstadt gäbe es 25 Moscheen, 65 Kirchen und 20 Synagogen. Dies ist eine Stadt der Verrückten. Man sieht Kreuze und Waffen, Torah und Schlagstöcke, Evangelien und Maschinenpistolen. War das nicht Yerushalaim, die Stadt des Friedens? War es nicht al-Kuds, die Heilige? Stadt des Friedens, von wegen! „Jerusalem ist vergiftet von der Religion“, sagt der Schriftsteller Arthur Koestler.

Der Dominikaner Riccardo Lufrani, Archäologe und Bibelwissenschaftler, zitiert die schonungslose Definition des arabischen Geographen Al Muqaddasi aus dem 10. Jahrhundert: „Diese Stadt ist eine goldene Schale, gefüllt mit Skorpionen.“ Riccardo, 49 Jahre alt, unruhiger und aufmerksamer Gelehrter, begrüßt die Studenten seiner Theologie-Kurse an der École biblique et archéologique de Jerusalem mit den Worten dieses antiken Jerusalemer Weisen. „Als junger Mann war ich im Kibbuz, als Ordensmann lebe ich seit sechs Jahren hier und fühle mich immer noch fremd“, gesteht mir Riccardo. Er hat recht: Es herrscht kein Friede in Jerusalem.

Meine eigene Widersprüchlichkeit: Ich fühle mich hier zu Hause, ich kenne die Gerüche, ich würde alles tun für Hummus, die göttliche Creme aus Kichererbsen; ich verehre den Geschmack von za’atar, Thymian mit Sesamsamen und Salz; ich höre die Glocken der Franziskaner, den Ruf des Muezzin, den Klang des jüdischen Shofar-Horns. Wenige hundert Meter weiter herrscht modernes West-Jerusalemer Nachtleben, schimmert das Handelszentrum von Mamilla beim Jaffa-Tor. Zurück in den Gässchen treffe ich kleine Jungen, die mit Gebetsteppichen auf den Schultern in die Moschee eilen, und orthodoxe Juden, die im Schnellschritt nach Me’a She’arim zurückkehren, dem „Viertel der hundert Tore“. Ich trinke einen Minz-Tee, schlürfe in kleinen Schlucken die frische Limonade Mohammeds und bedanke mich, die Hand am Herzen, bei dem Mann mit dem großen Bart, der jeden Morgen Falaffel frittiert, und mir immer eine anbietet… Welcher Reichtum, welche Schönheit!



ZWEIFEL UND HOFFNUNG

Am Abend werde ich auf den erleuchteten Laden eines Barbiers aufmerksam, nur 3 x 3 Meter groß, zwei Schritte vom Heiligen Grab entfernt, fünfzig Meter vom Juden-Viertel, hundert Meter vom Viertel der Muslime und der Armenier. Ein Kunde wartet geduldig im Sessel. Der Barbier hat seinen kleinen Gebetsteppich auf dem Boden ausgebreitet, sich die Schuhe ausgezogen, die Arme über der Brust gekreuzt. Er verneigt sich, kniet sich hin, berührt mit der Stirne den Boden. Er hat seine Arbeit unterbrochen, um zu beten. Der Mann im Sessel ist ruhig. Der Barbier betet in aller Ruhe. Ich stehe draußen. Der Mann, der darauf wartet, dass ihm die Haare geschnitten werden, öffnet mir die Türe und gibt mir das Zeichen zum Eintreten. Da ist kein Platz, ich dränge mich in eine Ecke. Der Barbier unterbricht sein Gebet nicht. Ich höre ihn murmeln. Ich weiß, dass Papst Franziskus hier vorbeikommen wird, dies ist das Ende der Via Dolorosa. Wie wünschte ich, dass er hier hält, um diesen Barbier zu begrüßen. Für einen Augenblick, nur für einen Augenblick, habe ich Frieden gefunden und habe verstanden, warum ich nach Jerusalem gekommen bin.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016