Glück: Traum oder Wirklichkeit

22. November 2004 | von

Wenn ich manchmal bei den Ehevorbereitungsgesprächen die jungen Paare betrachte und erfahre, wie achtsam und rücksichtsvoll, wie feinfühlend sie in den Gesprächen aufeinander eingehen, wie sie sich gegenseitig anstrahlen, dann erkenne ich einen Funken von jener Wirklichkeit, die ich als Glück bezeichnen möchte. Es hat spontan etwas zu tun mit dem Wort, das so abgedroschen ist und oft missbraucht wurde, das aber auch die tiefste Wirklichkeit des Lebens wiedergibt: Liebe. Damit ist schon gesagt, in welche Richtung wir unsere Fühler ausstrecken sollten, wenn wir – zunächst gedanklich – dem Glück nachspüren wollen.

Ein zerbrechlich’ Ding. Es ist mir bewusst, dass die erste Zeit der jungen Liebe nicht ewig blühen kann, dass das in diesem besonderen Abschnitt des Lebens empfundene Glück später dem Grau des Alltags und allzu oft auch der grausamen Langeweile der Gewohnheit weicht. Das Glück hat man nicht ein für allemal, es lässt sich nicht einfangen oder kaufen, nicht pachten oder aufbewahren. Das Glück ist, so sagt ein Sprichwort, ein “gar zerbrechlich Ding“. Ich denke, wir alle haben das erfahren. Wir wissen, dass die Momente des Glückes, der Hochstimmung und der Hochgefühle meistens schnell vergehen.

Wie es erhaschen? Was haben die Menschen seit Beginn der Zeitrechnung nicht schon alles getan und versucht, um ihr Leben angenehmer zu gestalten, um glücklicher zu werden. Manchmal habe ich das Gefühl, alles was der Einzelne tut, macht er nur, um glücklicher zu werden, um die tiefe Sehnsucht in seinem Herzen nach Harmonie und Zufriedenheit zu erfüllen. Der Mensch besingt das Glück, beschwört das Glück, jagt ihm nach und sucht es überall. Der Glückshunger ist unersättlich: Wir machen bei der Lotterie mit und kaufen eine Menge Lose, bleiben dabei meistens glücklos. Wir suchen auf der Wiese nach dem vierblätterigen Kleeblatt und träumen vom Glück. Trotz aller Glückwünsche gelingt im Leben nicht alles, wie wir es wollen. Nicht alle sind Glückspilze und können im Glückstaumel schwelgen. An Rezepten für ein glückliches Leben fehlt es wahrlich nicht. Schokolade erzeugt Glücksgefühle – das ist kein Werbespot der Schweizer Schokoladenindustrie, sondern wissenschaftlich bewiesen. Allerdings frage ich mich, warum dann der Durchschnittsschweizer nicht glücklicher ist, als er es ist, sondern eher übergewichtig.

Um jeden Preis? Der Mensch macht auf der Suche nach Glück jedoch so manches falsch und erzeugt viel Leid und Not. Einigen schenken Drogen ein so grosses Glücksgefühl, dass ihnen für einen Augenblick der Himmel auf Erden erscheint. Was von diesem Glück bleibt, ist nicht nur irgendein schwarzer Kater, der bald wieder davonläuft, sondern oft eine traurige Abhängigkeit. Immer wieder, wenn es dem Mensch ein bisschen besser geht, will er noch mehr und noch mehr - und ist unzufrieden. Er schafft nur neue Sehnsüchte und stellt sich so selbst dem Glück in den Weg. Der Philosoph Blaise Pascal schrieb einmal: “Alle Menschen suchen glücklich zu sein, selbst diejenigen, die hingehen und sich erhängen“.

Viele Gesichter. Fragen Sie hundert Menschen, was das Glück für sie sei, und Sie werden hundert verschiedene Antworten erhalten. Das Glück hat viele Namen und viele Gesichter. Es ist ein schillernder Begriff. Jeder Mensch hat da sehr persönliche Vorstellungen. Wenn er momentan ausgeglichen und offen ist, nennt er schon eine Kleinigkeit Glück. Kürzlich war ich während des Abendverkehrs im überfüllten Zug und musste im Gang stehen. Da hörte ich eine Dame neben mir, die zu ihrer Nachbarin sagte: “Jetzt habe ich aber Glück gehabt, noch einen Sitzplatz zu finden“. So wenig braucht es also für ein bisschen Glück? Manchmal genügt nur ein Augenblick der Stille für dieses Hochgefühl.
 
Definitionsfrage. Nicht umsonst handeln die meisten Märchen vom Glück. Hans im Glück oder der Froschkönig, Prinzen und Prinzessinnen: alle werden sie am Ende glücklich. Märchen wollen ja auch eine tiefe Aussage machen über uns Menschen, über unsere Bestimmung, sie wollen eine Lebenshilfe sein, ähnlich wie die Gleichnisse von Jesus, die uns auch das Glück schildern. Ich weise nur auf das himmlische Hochzeitsmahl hin. Letztlich kann wohl keiner von uns genau sagen, was nun genau Glück ist. Der Schriftsteller und Pädagoge Jean Jacques Rousseau meinte: “Glücklichsein: ein gutes Bankkonto, eine gute Köchin und eine gute Verdauung.“ Ganz anderer Ansicht ist da Epikur: “Ohne Freundschaft gibt es kein vollkommenes Glück“. Wir selber erfahren die Beziehung zu einem Menschen als Glück, und nur Monate später kann sie für uns eine Belastung sein. Wir alle empfinden nicht die gleiche Situation, das gleiche Erlebnis als Glück oder Unglück. Ein Blinder kann sich durchaus strahlend vor Glück freuen, wenn er eine schöne Musik hört, die einem andern überhaupt nicht zusagt.
Nur ein Zufall? Tatsächlich hat das Glück diesen Aspekt der Zufälligkeit, der Kurzlebigkeit und der Einmaligkeit. Und schon die alten Römer wussten, dass es kein vollkommenes Glück für uns Menschen gibt (Horaz). Aber trotzdem sind die Glückserwartungen ganz tief in unserer Seele verankert. Die Werbung nützt das schamlos aus. Sie verspricht das Glück nicht nur durch Ferien auf einer Trauminsel in der Karibik, sondern auch zu Hause, mit dem neuen Waschpulver. Selbst Sekten und Religionen, politische Parteien und Klubs werben mit dem Begriff Glück, versprechen es auf ewige Zeiten. Die Erfahrung im Alltag weist eher darauf hin, dass Glück unerwartet kommt und nur von kurzer Dauer ist. Es ist eine Frage des Augenblicks. Eine einmalige Gelegenheit, ein Aufruf zur Entscheidung, den man verpassen kann. Wir können auf das Glück warten, und wenn es kommt sind wir nicht zu Hause. Wir leben von Illusionen und Vorstellungen, die mit der Wirklichkeit des Alltags nicht zu tun haben. Wenn wir diesem Gerede vom Glück in der Werbung glauben oder meinen, es falle uns einfach zu, wie ein reifer Apfel vom Baume, werden wir das Glück wohl nie wirklich finden.
Wir erliegen in der heutigen materialistischen Welt allzu oft der Illusion, dass Glück eben nur möglich ist mit einem dicken Bankkonto. Wir verkürzen es  auf die rein materielle Ebene, den Konsum, den Reichtum, den Genuss, den Besitz. Aber das allein kann das Glück nicht ausmachen. Wir spüren zutiefst, dass es mehr geben muss, als nur eine Menge “besitzen“. Wir wissen zu gut, wie schnell materielle Güter verloren gehen können. Unser Glück kennt neben dem Haben noch tiefere Dimensionen, die in den “Seins-Bereich“ gehören, in den Bereich der Innerlichkeit, eben dorthin, wo uns kein Dieb das Glück stehlen, keine Motte es zerstören kann.

Glück in der Beziehung. Es braucht für uns Menschen eine gute Portion Offenheit, dass wir unser Leben nicht verschlafen, dass wir nicht einfach die Hände in den Schoss legen und untätig auf das Glück warten. Gerade im Umgang mit Menschen liegt es auch an uns, dem Glück die Türen zu öffnen. Die weitere Dimension des Glückes ist die mitmenschliche Beziehung, unsere Offenheit den Menschen gegenüber. Wenn das jung vermählte Ehepaar seine Flitterwochen hinter sich hat, werden sie bestimmt ein Lied über diese Dimension des Glückes singen können. Sie fühlen sich angenommen vom Partner, verstanden, oft sogar auf den Händen getragen. Sie erfahren Geborgenheit und echte Freundschaft. Es wird ihnen bewusst, dass sie für den Partner wichtig sind. Daraus entsteht die Einsicht, dass ihr Leben einen Sinn hat, dass sie andere Menschen zufrieden machen können. Da blüht der Mensch auf, wird innerlich bereichert und hat die Kraft, auch Durststrecken in Kauf zu nehmen.
Zu diesem Beziehungsglück, das unser Leben angenehm und lebenswert macht, trägt auch eine gesunde, natürliche Sexualbeziehung bei. Es ist kein Geheimnis, dass die Sexualität eine grössere Rolle im Leben spielt, als wir oft wahrhaben wollen. Ich sage bewusst eine gesunde, natürliche Beziehung, die nicht krankhaft ist oder süchtig macht, die nicht egoistisch und nicht flatterhaft ist wie ein Schmetterling, der von Blume zu Blume fliegt. Das wäre eher eine Art Konsumhaltung, ohne jegliche Verantwortung und Bindung. Diese Haltung bringt auf längere Sicht kein Glück. Aber eine verantwortungsvolle, ausgeglichene und auf Dauer angelegte Beziehung, die ihren letzten Ausdruck auch in der Vereinigung, in der hingebenden Liebe findet, eine solche Beziehung ist wahrhaft eine tiefe Quelle des Glückes. Wir Menschen leben von der Beziehung, sind aufeinander angewiesen und werden nur im Austausch mit einem Du zu vollen, reifen Menschen.
Beziehungen aber müssen gepflegt werden. Sie dürfen nicht einseitig sein. Sie sind wie eine Pflanze, die man manchmal schützen muss, dann wieder begiessen und sie dem Wetter aussetzen, um sie zu stärken. Es braucht eine gute Dosis Fingerspitzengefühl, um zu erahnen und herauszufinden wie viel Nähe der Mitmensch in der Beziehung braucht, damit er sich wohl und geborgen fühlt, und wie viel Distanz nötig ist, damit er nicht erdrückt wird und sich frei  entfalten kann. Nur in dieser Harmonie zwischen Distanz und Nähe, Geborgenheit und Freiheit wird das Glück wohnen können. Wo ich mich um die Beziehung kümmere, im Gespräch bleibe, sie auch hinterfrage, ohne jedoch sie zu zerreden, da ist guter Nährboden für das Glück vorhanden. Hermann Hesse drückt das konzentriert aus, wenn er sagt: “Glück ist Liebe, nichts anderes. Wer lieben kann, ist glücklich“.

Und was bleibt? Dazu kommt nun eine letzte Dimension, die Ausrichtung auf das Bleibende. Wir wissen alle, dass uns der Tod liebe Menschen entreißen kann. Was bleibt dann? Ist damit das Ende jeglichen Glückes gekommen? Da Glück Liebe ist, wie Hermann Hesse sagt, und da unser Glaube klar sagt, dass Gott Liebe ist, so ist Gott unser Glück. Diese Dimension des Glückes geht ins Unendliche, ins Unvergängliche, weil sie Anteil gibt an dieser bleibenden, immerwährenden Liebe Gottes. Persönlich bin ich überzeugt, dass wir einst hinein genommen werden in diese unfassbare, unaussprechliche, unendliche Liebe Gottes. Daher wird selbst der Tod das Glück des Menschen nicht beenden, sondern ihm das Tor zur dauerhaften Beziehung zu Gott öffnen. Und wer weiter hier auf Erden lebt und um diese Sicht der Liebe weiss, der wird dem Verstorbenen das Glück gönnen, er wird letztlich aus diesem Glauben heraus den Schmerz des Todes und des Abschiedes überwinden und zurückfinden in ein Glück, das ihm gar niemand nehmen kann.
Daher ist die letzte Dimension des Glückes unser Glaube, unsere Überzeugung, unsere Einstellung dem Leben überhaupt gegenüber, einem Leben, von dem wir glauben, dass es nie endet, weil Gott selber Leben ist und Leben schenkt. Anteil an Gott erhalten bedeutet schlechthin, Anteil am Leben haben. Mit dieser Überzeugung können wir das Glück im Herzen aufbauen, jenes Glück, das weder an materielle Güter gebunden ist noch von zerbrechlichen Beziehungen abhängig ist, sondern einzig und allein auf unserer persönlichen Beziehung zu Gott gründet.
Diese Sicht des Glückes ist nicht nur ein philosophischer Gedanke, er ist biblisch begründet. In der Bergpredigt zum Beispiel ist vom Glück die Rede. Die Seligpreisungen sind eine Art Verheißung, weisen auf das, was kommen wird. Es geht um eine Frohe Botschaft, die uns zugesagt ist, um die Seligkeit, die Glückseligkeit. Was Jesus da sagt, geht über die Vergänglichkeit hinaus. Es geht um eine ganz klare Grundhaltung zum Leben. Der Mensch muss sich nicht um das Glück kümmern, es suchen, sondern die richtige Einstellung dazu haben.
Glücklich ist, so könnte man sagen, wer nie ganz dem vergänglichen Glück vertraut. Glücklich nach der Bibel ist nur der Mensch, der in seinem Innern die tiefe Sehnsucht nach Leben, nach Gott nicht unterdrückt und sich der grossen Dimension der Unendlichkeit öffnet. Der Glaube stellt uns also ein Glück vor Augen, das weit über die irdischen Grenzen hinausgeht und erst in der Gegenwart Gottes seine endgültige Erfüllung findet. Im Psalm 16,2 steht: “Du bist mein Herr, mein ganzes Glück bist du allein“.

Kinder Gottes. Diese Grundeinstellung ist es, die der Evangelist Johannes in seinem ersten Brief erwähnt, wenn er sagt: Wir sind Kinder Gottes (vgl. 1. Joh. 3,1). Da haben wir eine Antwort auf die Grundfrage: Wer sind wir? Alles, was ich bin, was ich habe ist Gottes Geschenk. Ihm kann ich ganz vertrauen. Vor ihm bin ich arm. Ich brauche nichts mehr. Die Freude seiner Nähe genügt mir. Das Wissen, von ihm angenommen und gehalten zu sein, ist Grund zu Vertrauen und Freude. Es schenkt Hoffnung, Zuversicht und Ausblick auf immerwährendes Glück. Wer sich auf Jesus und seine Botschaft einlässt und alles von Gott erwartet, der ist schon glücklich und weiß, dass Gott das letzte Wort haben wird. Glücklich ist, wer sich in der Liebe Gottes geborgen weiß.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016