Grandioses Stelldichein der Masken

01. Januar 1900 | von

Als 1797 Napoleon Venedig eroberte, bedeutete das nicht das nur Ende der Serenissima, sondern auch das Ende des Karnevals. Der General fürchtete sich vor maskierten Attentätern. Nach fast 200-jährigem Dornröschenschlaf wurde das klassische Fest 1979 von Künstlern und Theaterleuten wiederbelebt.

Internationale Festivität. Aus dem venezianischen Karneval wurde in kurzer Zeit eine internationale Festivität, denn das städtische Touristenbüro hatte erfolgreich die Werbetrommel gerührt. Die Hoteliers und Zimmervermieterinnen profitieren auch heute noch davon: Ihre Betten sind nun auch im Februar und März belegt. Eintagstouristen strömen in Scharen per Zug oder Bus in die Lagunenstadt. Am letzten Wochenende des Karnevals scheint die Stadt zu kollabieren. Durch Einbahngassen werden die Massen zum Markusplatz dirigiert. Die Traghetti sind hoffnungsvoll überfüllt und schwanken beängstigend über den Canal Grande.
Wer den venezianischen Karneval in seiner ganzen Schönheit erleben möchte, dem sei empfohlen, dies am Gioved Grasso, dem Donnerstag vor Aschermittwoch, zu tun. An diesem Tag wird man noch nicht von den wogenden Touristenströmen erdrückt.

Geheimnisvolle Kulisse. Für das einmalige Maskenschauspiel könnte es keine geheimnisvollere Kulisse geben als die Stadt selbst. Hier findet ein leises Fest statt, nicht vergleichbar mit dem Hallo und Helau des deutschen Karnevals. Gäste, die sich mit roten Pappnasen und schrillen Hüten zwischen die kunstvollen Masken mischen, werden bald merken, wie unpassend ihr Aufzug ist.
Die großartigste Bühne der bella Venezia ist der Markusplatz – Napoleon bezeichnete ihn als den schönsten Ballsaal der Welt unter freiem Himmel.
Über sein Parkett schreiten zu Zeiten des Carnevale prachtvoll gekleidete Gestalten. Sie tragen phantasievolle Kostüm-Unikate, die in monatelanger Feinarbeit entstanden. Konfektionsware ist bei diesem grandiosen Maskenaufzug undenkbar.

Historische Masken. Das klassische Kostüm war und ist die Bauta. Sie wurde früher von beiderlei Geschlecht und allen Ständen getragen und garantierte dem Träger auch zu anderen Jahreszeiten Anonymität.
Des Öfteren begegnet einem noch eine andere traditionelle Maske: der Pestdoktor. Eine wahrhaft unheimliche Erscheinung mit seinem langen schwarzen Mantel über dem der charakteristische lange, weiße Schnabel herausragt. Der Überlieferung gemäß trugen die Ärzte zu Pestzeiten solche mit desinfizierenden Kräutern gefüllte Masken, um der Ansteckungsgefahr über die Atemwege zu entgehen. Den direkten Kontakt mit den Patienten mied der Pestdoktor, indem er bei der Visite deren Bettdecke mittels eines langen Stabes lüftete.
Wer sich als Betrachter des Schauspiels nicht hinter einer Maske verstecken möchte, kann sich trotzdem einen zarten Schmuck zulegen: Auf dem Markusplatz bemalen Kunststudenten für eine Hand voll Lire Gesichter mit zarten, farbigen Mustern.

Photographenpulks. Doch nicht nur Studenten und Hoteliers verdienen am Karneval. Der Massentourismus ließ auch alte Handwerkertraditionen überleben, unter anderen den Maskenhersteller. Seine Ware ist das ganze Jahr hindurch ein Souvenirbestseller. Der größte Gewinner des Karnevals ist die Photoindustrie. Fast jeder Tourist arbeitet sich, auf der Suche nach den beeindruckenden Selbstdarstellern des Karnevals, mit einer Kamera gewappnet durch das malerische Labyrinth der Lagunenstadt. Trifft man dann auf eine der geduldig posierenden Masken, sind diese unweigerlich von einem Pulk eifriger Photographen umringt.

Grandezza im ‘Florian’. Zum Ausklang des Tages ist ein Besuch im ältesten Café der Stadt, dem Florian zu empfehlen. Dort kann man sich von den Strapazen erholen und die reichen Eindrücke setzen lassen. Die gute Sicht auf den Markusplatz und gedämpfte Kaffeehausmusik laden dazu ein. Wenn man dann so richtig wohlig bei einer köstlichen heißen Schokolade sitzt, kann es einem passieren, dass man jäh wieder aus der beschaulichen Stimmung herausgerissen wird.
Eine pompöse Rokoko-Maske mit überdimensionalem Reifrock und Puderperücke sucht ihren Auftritt in einem Ambiente, das ihrem Kostüm historisch entspricht und seit fast dreihundert Jahren berühmte Gäste anzieht. Stühle werden eilig zur Seite gerückt, Gäste weichen beeindruckt zurück, als die kokette Schöne sich ihren Weg bahnt. Diese lässt sich schließlich mit Grandezza am Tresen nieder, lüpft Maske und seidige Perücke vom erhitzten Haupt und – so manchem verschlägt es den Atem – das markante Gesicht eines Mannes kommt zum Vorschein. Ein Rollenspiel, das sich perfekt in die Tradition des Carnevale di Venezia fügt. Schon vor 500 Jahren setzten die tollen Tage alle gesellschaftlichen Hierarchien außer Kraft. Arm und Reich, Jung und Alt, Mann und Frau, alle waren durch die Maske gleichgestellt.
Verkleidet mit einem zweiten Gesicht konnten sie so ihre geheimsten Wünsche inszenieren. Das ist bis heute so geblieben...

 

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016