Ich bin mager, also bin ich

01. Januar 1900 | von

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egina ist ein wohlgenährtes und nett aussehendes Mädchen. Eines Tages beginnt sie damit, wenig oder gar nichts mehr zu essen. Anfangs wiegt sie 61 Kilogramm. In der Folgezeit durchleidet sie die Qualen einer Magersucht und Bulimie. Nach wenigen Jahren wiegt sie nur noch 42 Kilo. Sie muss eine Zwangsernährung über sich ergehen lassen. Kaum zu Hause, ist bald wieder alles abgehungert. Es folgt totale Essverweigerung. Am Ende bietet Regina das erbarmenswerte Bild eines Mädchens, das gerade mal 30 Kilogramm wiegt.

Krankhafte Essstörung. Magersucht ist eine schwerwiegende Störung des Essverhaltens, die mit Nahrungsverweigerung, Unterernährung und psychosomatischen Krankheitserscheinungen einhergeht. Damit zusammen hängt die Form der Bulimie: Essen wird heißhungrig hineingestopft und anschließend wieder erbrochen. Magersucht und Bulimie greifen ineinander über. Bei beiden Formen handelt es sich um eine zwangsbedingte Sucht. Eingeschliffene Ess-Störungen sind automatisiert. Sie lassen sich schwer durchbrechen. Betroffen davon sind vorwiegend Mädchen und Frauen.

Körperliche und psychische Folgen. An Magersucht und Bulimie Erkrankte suchen meistens nach den Mahlzeiten die Toilette auf, um zu erbrechen. Stimmungsschwankungen und soziale Isolierungstendenzen treten auf. Sie ziehen sich von ihrem Freundeskreis zurück. Mahlzeiten werden vermieden. Bisweilen kommt es zu totaler Essverweigerung. Die Folgen sind anomale Gewichtsabnahme, gesteigerte Kälteempfindlichkeit, verringerte Belastbarkeit, Knochenschwund, Schädigung von Herz, Leber, Nieren oder Gehirn. Die psychische Symptomatik reicht von Konzentrationsschwäche und Müdigkeit bis zu depressiven Zuständen mit Selbstmordtendenzen. Typisch sind Angst vor Gewichtszunahme, Fressanfälle, Ausbleiben der Regelblutung, das Gefühl wertlos zu sein, Schmerzen in Speiseröhre, Magen- und Darmtrakt, Zahnschmelzzerstörungen und psychische Labilität.

Tiefe Verunsicherung. Viele meinen, Magersüchtige müsse man nur mit kalorienreicher Kost füttern, dann würde wieder alles in Ordnung sein. Doch die Ursachen dieser Suchterkrankung sind weniger in der Kalorienfrage zu suchen als in einem zerstörten Selbstwertgefühl. Eine einzige dumme Bemerkung kann den Drang freisetzen, den Selbstwert radikal zu beweisen. Betroffene setzen sich dann mit unglaublicher Willensanstrengung unter Druck und beginnen zu hungern. Schließlich wird daraus ein konditioniertes Verhalten, eine Sucht, aus der sie nicht mehr herausfinden.
Regina zum Beispiel: Sie wird in der Familie unterdrückt und abgewertet. Bemerkungen wie Das kannst du sowieso nicht und Du bist selbst an allem schuld gehören zu ihrem täglichen Lebensumfeld. Ihr Selbstbewusstsein ist daher äußerst negativ und sie beginnt, sich selbst abzulehnen. Eines Tages macht ihr Lehrer die taktlose Bemerkung: Du bist ein ganz schöner Brummer! Dies ist der Auslöseschock für den totalen Zusammenbruch des Selbstwertgefühls. Daheim stellt sie sich vor den Spiegel und schreit: Ich bin so fett, fett, fett...

Identitätsprobleme. Die Zahl der Menschen mit Identitätsproblemen nimmt zu. Auf der Suche nach Lebenssinn leiten sie diesen von ihrem äußeren Erscheinungsbild ab. Sie klammern sich an ein von der herrschenden Mode vorgegebenes Ideal. Die Sehnsucht, anerkannt und geliebt zu werden, schlägt in das suchthafte Verlangen um, wenigstens dem Schönheitsideal zu entsprechen, mit dem man die eigene Wertigkeit vorzeigen kann. Dies führt zum krankhaften Abhungern von Pfunden. Obwohl hungrig, halten solche Menschen streng an der selbstgewählten Diät fest. Sie meinen, damit ihren Körper kontrollieren zu können. In ihrer Tiefenpsyche verweigern sie das Erwachsenwerden. Kommen sexuelles Mobbing oder Missbrauch mit ins Spiel, wollen Betroffene ein mageres Kind ohne sichtbare Geschlechtsmerkmale werden oder bleiben.

Ohnmächtige Hilflosigkeit. Ein Kind, das in seiner Intimsphäre und in seinem Schamgefühl verletzt wird, beginnt seinen Körper abzulehnen. Dies kann bis zum Selbsthass gehen. Das Gefühl setzt sich fest, kein Verfügungsrecht über den eigenen Körper zu haben. Schwer wirkt sich hier sexueller Missbrauch aus. Körper und Psyche des Opfers werden dabei vergewaltigt. Es verfestigt sich das Erleben ohnmächtiger Hilflosigkeit. Der Beginn von Brechanfällen ist Ausdruck dieser Hilflosigkeit und ein Notschrei nach echter Liebe.
Bei der vierzehnjährigen Gisela beginnt die Bulimie infolge sexueller Belästigung durch einen Musiklehrer. Die Eltern geben ihr die Schuld und unternehmen nichts. Sie verspürt Hass auf ihren Körper, will ihr Spiegelbild nicht mehr anschauen, nicht mehr duschen oder baden. Sie beginnt zu hungern, um weibliche Formen zurückzudrängen, und erbricht Essen auf der Toilette. Im Beratungsgespräch erklärt Giselle, dass Erbrechen ein Ventil ist, ihre aufgestauten Minderwertigkeitsgefühle und Aggressionen hinauszukotzen.

 

Pädagogisch helfen
  • Geduld und bedingungslose Annahme (Grundtherapie).
  • Ausgleich des Mangels an Geborgenheit, Anerkennung, Nähe, Liebe und Verständnis.
  • Aussprachen lösen Verkrampfungen (nicht logisch bevormunden)
  • Verstehen der Gedankenwelt (Denken kreist um Essen, Hunger und Angst vor dem Dickwerden).
  • Tagebuch führen lassen
  • Selbsthilfegruppen organisieren (Erfahrungen und Nöte austauschen; Bindung und Geborgenheit spüren)
  • Vorbeugen von frühester Kindheit an (Liebe, Geborgenheit vermitteln...)
  • Vertrauen schenken (nie enttäuschen)
  • Gefühle verstehen und bewältigen helfen
  • Säuglinge nach Möglichkeit an die Brust nehmen (Geborgenheits-Propädeutik)
  • In schwerwiegenden Fällen Versuch einer Heilung in einer Spezialklinik

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016