Im Angesicht der anderen Wirklichkeit

01. März 2018 | von

Dass die Begegnung mit dem berühmten Grabtuch von Turin nicht nur eine historisch-kritische Auseinandersetzung sein muss, sondern auch eine gläubige Erfahrung sein kann − das zeigt die Autorin unseres fastenzeitlichen „Thema des Monats“ im folgenden Beitrag.

Yves Delage war 48 Jahre alt und stand auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Als Professor für Anatomie an der Pariser Sorbonne hatte der Arzt, Forscher und bekennende Agnostiker sich ein beträchtliches Ansehen erworben. Und er hätte sich niemals träumen lassen, dass er genau dies in einer einzigen Vorlesung nachhaltig ruinieren würde. Dabei hatte Delage, als er am 21. April 1902 einen Vortrag in der Pariser Akademie der Wissenschaften hielt, die besten Absichten. 

Jesu tatsächliches Leinentuch
Denn er teilte mit seinen Zuhörern, was ihn selbst bei der Erforschung des Bildes des Turiner Grabtuches, das Secondo Pia vier Jahre zuvor, im Jahr 1898, erstmals fotografiert hatte, so sehr elektrisiert hatte und was ihm selbst zur festen Überzeugung geworden war: Die Wunden, die auf der Fotografie von Secondo Pia sichtbar waren, entsprachen so exakt dem, was die Evangelien über die Kreuzigung Jesu Christi berichten, dass er allein aufgrund der Analyse der Verletzungen, die das Foto zeigte, schloss, dass es sich beim Grabtuch von Turin wirklich um jenes Leinentuch handeln müsse, in das der Körper Jesu Christi nach seinem Tod am Kreuz gehüllt worden war. Die Reaktion auf seinen Vortrag fiel jedoch ganz anders aus, als Delage dies erwartet hatte. Denn die Mitglieder der Akademie für Wissenschaften bezweifelten nicht nur die Richtigkeit der Schlussfolgerung des renommierten Forschers, sondern leider auch seine Kompetenz als Anatom. Sogar die Veröffentlichung seines Vortrags, sonst eine übliche Folge der wissenschaftlichen Präsentationen an der Akademie, wurde ihm verweigert. Damit hatte Delage, agnostisch wie er nun einmal war, nicht gerechnet. Für ihn war sein fachlicher Blick auf das Foto eine rein sachliche Angelegenheit gewesen, ein Forschungsauftrag, den er nach bestem Wissen und Gewissen ausführte und aus dessen Ergebnissen er mit kühlem Intellekt, wenngleich durchaus mit Begeisterung darüber, dass seine topaktuelle Forschung sich mit einem so besonderen Thema verbinden ließ, die möglichen Schlüsse zog. Für seine ebenso aufgeklärten wie unangenehm aufgestörten Kollegen wurden genau sie jedoch zur Gretchenfrage.

Wie hast du‘s mit der Religion?
Ihre aus seiner Sicht nicht sachgemäßen und, was für Delage als wissenschaftlich denkender Agnostiker noch viel ärgerlicher war, sogar unlogischen Reaktionen analysierte der Anatom mit dem selben geistigen Scharfsinn, mit dem er auch die Aufnahmen Secondo Pias untersucht hatte.
„Eine religiöse Frage wurde unnötigerweise mit einem Problem vermischt, das an sich vollkommen wissenschaftlich ist – mit dem Ergebnis, dass Emotionen hochkochten und der Verstand beiseitegelassen wurde. Wenn es anstelle von Christus um irgendeine Person wie Sargon, Achilles oder einen der Pharaonen gegangen wäre, würde niemand irgendwelche Einwände erhoben haben. Ich habe diese Frage treu, gemäß dem wahren Geist der Wissenschaft, behandelt, war nur an der Wahrheit interessiert und nicht im Mindesten darum besorgt, ob dies die Interessen irgendeiner religiösen Gruppierung berühren würde. Ich erkenne Christus als historische Person an und sehe keinen Grund, warum irgendjemand darüber empört sein sollte, dass immer noch Spuren seines irdischen Lebens existieren,“ erklärte er in einem Brief an seinen Freund Charles Richet, den Herausgeber der Zeitschrift Revue Scientifique. In seinem Schreiben bringt Delage auf den Punkt, was den Umgang mit dem Grabtuch von Turin zu einer so spannenden Begegnung macht, die kaum jemanden kalt lässt. Wer sich mit diesem besonderen Stück Stoff auseinandersetzt, kommt um die damit verknüpfte existenzielle Anfrage nicht herum, mit der bereits Jesus selbst seine Jünger konfrontiert hatte: „Für wen halten die Leute den Menschensohn?“ (Mt 16,13) fragte er sie und erhielt schon damals sehr unterschiedliche Antworten. „Die einen für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für Jeremia oder sonst einen Propheten.“ Jesus kommentiert diese Antwort nicht. Stattdessen fragt er weiter: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ 
Wer sich mit dem Grabtuch von Turin, den Forschungen und Debatten rund um diese „Ikone des Heiligen Antlitzes“, wie Papst Benedikt XVI. es in kluger Konzentration auf das Wesentliche nannte, beschäftigt, sollte sich bewusst sein, dass viele Hypothesen und Forschungsergebnisse von einer im Seelengrund der sie aufstellenden und präsentierenden Menschen mitklingenden Grundfrage beeinflusst sind. Dies wiederum ist eine wissenschaftliche Erkenntnis. Beobachtung beeinflusst Realität, und im Fall des Turiner Grabtuches öffnet sich mit dem, dessen Antlitz wir begegnen, eine ebenso zeitlose wie mittelbare Gegenwart, das Fenster in eine andere Wirklichkeit.

Fließende Grenzen
„Materie ist Geist, der nicht als Geist erscheint,“ sagte Werner Heisenberg und machte damit deutlich, wie fließend die Grenzen zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt aus Sicht der Physiker sind. Die Gläubigen haben damit manchmal Probleme. Einigen von ihnen, besonders jenen, die sich zugutehalten, aufgeklärt und rational zu glauben, wird das Grabtuch von Turin ebenso zum Ärgernis wie den aller mystischen Erfahrung abgeneigten Mitgliedern der Pariser Akademie der Wissenschaften im 19. Jahrhundert. Sie sind überzeugt, keine greifbaren Zeichen zu benötigen und blicken nicht selten auf diejenigen herab, deren innerer Funke sich in der Begegnung mit Reliquien, der Verehrung der Heiligen oder eben dem Grabtuch von Turin entzündet. Und sie haben Recht. Streng genommen bräuchten wir das alles nicht. Gott allein würde genügen. Er hätte nicht Mensch zu werden brauchen, sichtbar, hörbar, berührbar für uns. Wir hätten ihn auch finden können, ohne dass sein Sohn für uns Weg, Wahrheit und Leben geworden wäre. Aber dann wären wir, ebenfalls streng genommen, gar nicht da als sein Leib, die Kirche. Und das wäre wirklich ein Verlust für die Welt. Vielleicht ist an dieser Stelle Raum für jene Toleranz, die Origines den scharfsinnigen und scharfzüngigen Angriffen des heidnischen Schriftstellers und Philosophen Celsus entgegensetzte, als er über die Begegnung mit Jesus Christus schrieb, dass der Herr „jedem in der Gestalt, die seinem Vermögen und seinem Heil angemessen ist“, erscheine. 
Ich persönlich bin sehr glücklich darüber, Teil einer Kirche zu sein, die mich dazu einlädt und anleitet, mit allen Sinnen zu glauben. Kernpunkt dieses Glaubens ist die Begegnung von Angesicht zu Angesicht. Und hierbei kann das Grabtuch von Turin eine echte Hilfe sein. „Ich schaue ihn an und er schaut mich an. Das ist genug“, antwortete ein Bauer der Gemeinde von Ars auf die Frage seines Pfarrers Johannes Maria Vianney, was er denn genau mache, wenn er vor dem Allerheiligsten kniet. Sein Schauen war nicht „informativ“, sondern „performativ“, wie Erzbischof em. Dr. Karl Braun in seinem Vortrag anlässlich der Ausstellungseröffnung zum Turiner Grabtuch am 8. September 2017 in der Nagelkapelle des Bamberger Domes sagte. Diese Art der das Leben umgestaltenden Schau ist eine Form der Nachfolge, denn „je intensiver wir auf das Antlitz Jesu blicken, desto mehr nehmen wir auch teil an seiner Sendung für die Menschen“, so Braun. Gewandelt durch seinen Blick erkennen wir ihn, der für uns gelitten hat, in den Gesichtern unserer Mitmenschen und werden so befähigt, „ihnen helfend und heilend zu begegnen“.

Fälschung − oder nicht?
Ob Sie oder ich das in Turin verwahrte Leinentuch für das Grabtuch Jesu Christi halten, wird eine Glaubensfrage bleiben. Denn alle Fakten, wie gut begründet sie auch immer sein mögen, können den Glaubensakt nicht ersetzen. 
Dennoch ist es spannend, wie präzise man inzwischen nachweisen kann, dass das Grabtuch tatsächlich im 1. Jahrhundert n. Chr. entstanden ist und keineswegs das Werk eines Künstlers sein kann. Auch dann nicht, wenn der mutmaßliche Fälscher des Grabtuches den in jeder Hinsicht bemerkenswerten Abdruck mit dem Körper eines Verstorbenen erzeugt hätte. Denn dafür hätte er detaillierte Kenntnisse über Anatomie, Fotografie und die Form der Kreuzigung zur Zeit Jesu haben müssen, die im Mittelalter, der von den Bestreitern der Echtheit des Grabtuchs genannten Entstehungszeit, nicht vorlagen. Versuche haben gezeigt: Direkte Abdrücke von Lebenden oder Verstorbenen erzeugen ganz andere Bilder als jenes, das auf dem Turiner Grabtuch zu sehen ist. 
Und selbst dann, wenn es einem Fälscher im Mittelalter gelungen sein sollte, mit elementaren Mitteln eine Camera Obscura zu konstruieren und ein Lichtbild zu erzeugen, was zumindest theoretisch denkbar ist, wäre es höchst unwahrscheinlich, dass das Experiment angesichts langer Belichtungszeiten, möglicher Bewegungen des Körpers durch Nachgeben der Fixation und wechselnder Lichtverhältnisse dasselbe Ergebnis hervorgebracht hätte, wie das Abbild auf dem Grabtuch es zeigt. Gegen eine Entstehung im Mittelalter spricht auch das Tuch selbst, dessen komplexe Webtechnik für das 1. Jahrhundert n. Chr. in Ägypten und Israel nachweisbar ist. Im Mittelalter beherrschte man diese „Fischgrätmuster“ genannte Form des Webens aber ebenso wenig wie man die Fähigkeit hatte, Webrahmen von jener Größe zu bauen, wie sie für das Turiner Grabtuch nötig gewesen wären. Für eine Entstehung des Tuches in Jerusalem sprechen auch die Pollen, die Forscher auf dem Tuch nachweisen konnten. Aus ihrer Auswertung lässt sich gewissermaßen ein Itinerar erstellen, das die Reisewege des Tuches nachzeichnet. Einige dieser Pollen stammen von Pflanzen, die nur in der Gegend rund um Jerusalem zu finden sind und deren Blütezeit mit dem Zeitpunkt der Kreuzigung Jesu übereinstimmt. Auch aus der Gegend von Edessa und Konstantinopel, aus Frankreich und Italien finden sich Pollen und verweisen darauf, dass das Grabtuch an diesen Orten verwahrt worden ist.

Logik für Faktenchecker
Doch warum, so fragen die Skeptiker, setzten die schriftlichen Belege für die Existenz einer so bedeutenden Berührungsreliquie so spät ein? Warum findet sich, wie schon Bischof Henri von Poitiers, ein profilierter Gegner der Annahme der Echtheit im 14. Jahrhundert fragt, in den Evangelien kein Hinweis auf die Verehrung des Grabtuches? 
Hier hilft ein Blick in die Mentalitätsgeschichte weiter, deren volle Bedeutung den Historikern erst in den letzten Jahren klar geworden ist. Für Juden ist der Körper eines Verstorbenen unrein. Das gilt auch für alles, was mit diesem Körper in Kontakt gekommen ist. Ein mit Blut und Körperflüssigkeiten eines Toten bedecktes Tuch würde kein Jude gern berührt, geschweige denn öffentlich vorgezeigt und verehrt haben. Deshalb spricht einiges dafür, dass der Jünger Thaddäus das Grabtuch, dessen Bedeutung die Apostel nach der Auferstehung zweifellos gespürt haben, mit nach Edessa nahm, in eine Stadt, deren Herrscher dem Christentum gegenüber offen war und der als Heide kein Problem mit jüdischen Reinheitsvorschriften und der Verehrung von Bildern hatte. Denn auch dies ist zu bedenken: Das Abbild des göttlichen Antlitzes auf dem Grabtuch war für Juden kein Hingucker. Sie waren seit Jahrhunderten darin geübt, sich von Götterbildern abzuwenden. In Edessa hingegen sah man kein Problem darin, das kostbare Tuch genau dort zu verwahren, wo zuvor der Stadtgott seinen Platz gehabt hatte, in einer Nische über dem Torbogen, die mit einer Marmorplatte verschlossen wurde, auf der anstelle des heidnischen Gottes nun das Angesicht Jesu zu sehen war. Dass man das Grabtuch dann für längere Zeit vergaß, ist der Rückkehr der Herrscher Edessas zum Heidentum geschuldet. Bemerkenswert ist, was der Historiker Ian Wilson in seinen Forschungen herausgearbeitet und in seiner wissenschaftlichen Monografie über das Grabtuch schlüssig dargelegt hat: In dem Moment, wo man das Tuch wiederentdeckte, änderte sich die ikonografische Darstellung Jesu grundlegend und stimmt seitdem mit jenem Antlitz überein, das uns vom Turiner Grabtuch aus so eindrucksvoll anblickt.

Die Autorin

Barbara Stühlmeyer, Jahrgang 1964, studierte Kirchenmusik, Musikwissenschaft, sowie Theologie und Philosophie. Mit summa cum laude wurde sie zum Dr. Phil. promoviert. Ihre Forschungsschwerpunkte mit zahlreichen Veröffentlichungen sind Hildegard von Bingen, Theologie und Kirchengeschichte des Hochmittelalters. Neben ihrer Arbeit als Autorin ist sie als wissenschaftliche Beraterin von CD-Produktionen für Musik des Mittelalters und internationalen Ausstellungsprojekten tätig.

Zuletzt aktualisiert: 01. März 2018
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