Inklusion pro und kontra

26. August 2013 | von

Kinder mit Behinderungen besuchen Sonderschulen. So ist es in Deutschland seit Jahrzehnten üblich. Dies soll sich künftig jedoch ändern. Kinder mit und ohne Handicap sollen zusammen die Schulbank drücken. Eine schöne Idee – aber kann das funktionieren?



Seit rund drei Jahren wird in Deutschland über „Inklusion“ debattiert, also um den Einschluss behinderter Kinder in das reguläre Schulwesen. Zunächst ein schöner Gedanke, Schulen zu schaffen, in denen alle Kinder, ob behindert oder nicht, zusammen lernen und so auch sozial zusammenrücken. Eben weil sie trotz mancher Unterschiede gemeinsam haben, dass sie alle Menschen sind.

Diesen Gedanken hat die Weltgemeinschaft zum Ziel erhoben, im Artikel 24 der Konventionen über die Rechte von Menschen mit Behinderung festgeschrieben und vor sechs Jahren von den Vereinten Nationen verabschiedet. Im Bundestag wurde diese Vereinbarung im März 2009 ratifiziert: „Menschen mit Behinderung“, heißt es im Artikel 24, sollen „gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an der Grund- und weiterführenden Schule haben.“



ANSTELLE VON INTEGRATION

Während Integration die Eingliederung behinderter Menschen in die Gesellschaft der Nicht-Behinderten anstrebt, will Inklusion vielmehr eine Gesellschaft schaffen, der alle Menschen angehören. Inklusion ist somit zu einem Menschenrecht avanciert, das nun in Landesgesetze umgeformt wird.

Durch die neuen Paragraphen ist jedoch der Begriff Inklusion mittlerweile zu einem Reizwort zwischen jenen Kritikern, die weiterhin auf einer Trennung zwischen behinderten und nicht behinderten Kindern bestehen, und jenen Befürwortern, die sie künftig zusammen in einem Klassenzimmer sehen möchten, geworden. So weckt Inklusion nicht nur Begeisterung und Aufbruchsstimmung, sondern auch Sorge und Ärger darüber, was den Politikern da wieder eingefallen sei. Behinderte Schüler, welcher Art auch immer, sollen nun in den Regelklassen ganz einfach mitmachen und erhalten keinen Spezialunterricht mehr. „Unmöglich“, meinen die Kritiker. „Kein Problem“, sagen die Befürworter. Der zusätzliche Förderbedarf wird ganz einfach mit verstärktem Lehrerpersonal abgedeckt.



EINIGE ZAHLEN

In Deutschland besuchen derzeit rund 365.000 Heranwachsende (zwei Drittel männlichen Geschlechts) eine der etwa 3.300 Förderschulen, die früher Sonderschulen hießen. Etwa 43 Prozent der knapp 400.000 Förderschüler gehen in eine Schule für Lernstörungen, 16 Prozent besuchen eine Schule speziell für geistig Behinderte, acht Prozent eine Schule mit dem Förderschwerpunkt Sprechen, zwölf Prozent eine Schule für Verhaltensauffällige, sechs Prozent eine Schule für Körperbehinderte, jeweils rund drei Prozent eine Schule für Gehörlose/Schwerhörige oder für Sehbehinderte.

Sie alle sollen nun in das reguläre Schulwesen inkludiert werden, egal ob mehrfach behindert, sehbehindert, taubstumm, physisch oder psychisch behindert, sprach- oder verhaltensauffällig. Wie das funktionieren kann, sagt weder die Konvention noch die jeweilige Schulbehörde. Es besteht weder ein wohldurchdachtes Konzept, noch sind bundesweite Standards ausgearbeitet.



FÖRDERSCHULEN DISKRIMINIERT

Wie und in welchem Umfang sollen behinderte Kinder in Regelklassen aufgenommen werden? Welche Art von Fortbildungen sollten Lehrer für Inklusionsklassen durchlaufen? Was wird das Ganze kosten?

All diese wichtigen Fragen sind bisher ungeklärt, dennoch hat die Umsetzung schon begonnen: In Niedersachsen haben Eltern ab dem 1. August das Recht, ihre behinderten Kinder auf eine Regelschule zu schicken. In Hamburg und NRW ist es längst schon Gesetz. Wohlgemerkt, Eltern haben das Recht, nicht die Pflicht. Von daher wird es auch weiterhin Förderschulen geben. Doch Anhänger der Inklusion hoffen darauf, dass die Förderschulen bald nur noch Geschichte in der Schullandschaft sein werden.

Allerdings wird zu oft übersehen, dass die UN-Konvention keinen Passus enthält, in dem die Beschulung in Förderschulen als Diskriminierung betrachtet würde. Vielmehr spricht der Artikel 5 (4) der UN-Konvention davon, dass „besondere Maßnahmen ... zur Beschleunigung oder Herbeiführung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderung“ nicht als Diskriminierung gelten. Auch im Artikel 24 steht nichts von einem inklusiven einheitlichen Schulwesen. In diesem Sinne hat die Kultusministerkonferenz (KMK) 2010 eindeutig geäußert, dass „die Behindertenkonvention keine Vorgaben darüber macht, auf welche Weise gemeinsames Lernen zu realisieren ist. Aussagen zur Gliederung des Schulwesens enthält die Konvention nicht“. Trotzdem verhalten sich viele – etwa ganze Bundesländer – so, als sei die Existenz der Förderschulen ein Verstoß gegen die UN-Konvention. Dass die UN-Konvention allerdings gar nicht die Schließung der Förderschulen verlangt, wird leicht übergangen.



DIFFERENZIERTE BESCHULUNG

Fakt ist auch, dass 75 Prozent aller Förderschüler keinen Abschluss erreichen und dementsprechend erschütternd dezimierte Berufsaussichten haben. Indes existiert keine Studie, die belegt, dass sich das Schicksal der Förderkinder in Inklusionsklassen so schnell oder überhaupt verbessern würde. Besonders bezeichnend ist hierbei der wissenschaftliche Bericht, den die „Arbeitsstelle Integration“ am Institut für Behindertenpädagogik der Universität Hamburg über das Modell „Die integrative Grundschule im sozialen Brennpunkt“ erstellte. Die 1998 veröffentlichte Untersuchung zerstört viele Hoffnungen: „Auch im IR-System (Integrative Regelklassen) ist es trotz der sonder-

pädagogischen Ressourcen nicht gelungen, das Auseinanderklaffen der Leistungsschere aufzufangen.“ Und weiter heißt es dort: „Es muss konstatiert werden, dass die Integration im Schulversuch nicht zur Reduzierung des sonderpädagogischen Förderbedarfs nach Ende der Grundschulzeit geführt hat.“

In vielen Fällen ist also die differenzierte und höchstindividuelle Beschulung eines behinderten Kindes in einer spezialisierten Förderschule gegenüber einem inklusiven Ansatz überlegen. Warum nun die hochdifferenzierten, individuell fördernden und von hochprofessionellem Lehrpersonal geführten Förderschulen schließen? Kann man ernsthaft davon ausgehen, dass die meisten behinderten Kinder einen ähnlichen oder sogar selben Erfolgsweg wie Helen Keller bestreiten? Das hochbegabte Mädchen aus dem letzten Jahrhundert, das blind und taubstumm war und sogar promovierte. Im Gegensatz zu vielen anderen Behinderten hatte Helen Keller eine individuelle Betreuung in jedem Klassenzimmer, bei jeder Prüfung und in jedem Vorlesungssaal. Eine solche Eins-zu-eins-Betreuung ist für jeden behinderten Menschen wünschenswert, jedoch unbezahlbar.



BEGEGNUNG BRINGT GEWINN

Jede Behinderung muss für sich betrachtet werden. Jede Behinderung ist anders und es wäre nur allzu fatal, einen Weg für alle, ob an der Förderschule oder in der inklusiven Klasse, vorzuschreiben. Auf differenzierte Diagnostik und Entscheidung kann und darf nicht verzichtet werden. Ein Kind mit Trisomie 21 benötigt einen völlig anderen Förderbedarf als ein seh-, hör- oder motorisch beeinträchtigtes Kind. Es ist richtig, dass Nicht-Behinderte und Behinderte einen Gewinn von ihrer Begegnung haben. Diese Begegnungen sollten in allen gesellschaftlichen Bereichen zu einem Mehr an Gemeinsamkeiten und zu einem stärkeren Zusammenhalt führen.

Auch im Bildungswesen ist dies mehr als wünschenswert. Die Wege der Inklusion müssen aber vom Kindeswohl ausgehen. Ziel und Weg sind voneinander klar zu differenzieren. Kann eine Behinderung oder Beeinträchtigung durch technische oder bauliche Mittel oder mit Hilfe zusätzlicher Fachkräfte kompensiert werden, steht dem Weg für eine Inklusion nichts im Wege. Bei kognitiv beeinträchtigten Schülern gestaltet sich dieser Weg jedoch steiniger und komplizierter.



NICHT AUSREICHEND VORBEREITET

Lehrer müssen sich jeden Tag neu den Herausforderungen im Klassenzimmer stellen – Schüler, die schlecht Deutsch sprechen, aus sozial benachteiligten Elternhäusern stammen, über Tische und Bänke gehen – sie sollen nun auch Kinder mit extremem Förderbedarf mitziehen!? Eine repräsentative Umfrage des Instituts Allensbach, in der bundesweit gut 500 Lehrer zum Thema Inklusion befragt wurden, ergab, dass nur jeder zwanzigste der Befragten seine Schule auf das veränderte System vorbereitet sieht. 41 Prozent gaben hierbei eine „ungenügende Ausbildung“ der Pädagogen, gefolgt von einem Mangel an Fachkräften, wie beispielsweise Sozialarbeitern, sowie zu große Klassen an.

Fortbildungen, ein verändertes Studium sowie mehr Geld sind notwendig, um diese Probleme zu stemmen. Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) setzt bei der Eröffnung auf einer Tagung zum Thema Inklusion im Juni dieses Jahres auf die „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“, für die der Bund von 2014 an über zehn Jahre eine halbe Milliarde Euro bereitstellen will. Hochschulen sollen sich mit innovativen Konzepten für die Ausbildung von Pädagogen bewerben, eben mit dem Schwerpunkt Inklusion. „Inklusion braucht Profis“, bestätigt die Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW Marlis Tepe.



ZWEITER LEHRER NÖTIG

Mehr Investitionen sind daher notwendig: „Eins geht nicht, die Umsetzungen der Inklusion einfach bei den Pädagogen abzuladen.“ Nach einer Untersuchung des Bildungsökonomen Klaus Klemm sind bis 2020 etwa 10.000 neue Lehrer nötig. Zwar würden Stellen frei werden, wenn die Sonderschulen schließen, da aber in gemeinsamen Klassen die Lern-Niveaus stark variierten, sei eine individuellere Betreuung unerlässlich, so etwa durch einen zweiten Lehrer. Die Idee von herumreisenden Förderlehrern, die in einer Art Gastrolle den Bedarf an Stunden abdecken, klingt hingegen pädagogisch wenig durchdacht. Zumal alle Kinder in den ersten Schuljahren feste Bezugspersonen benötigen.

Auch in der Carl-von-Ossietzky-Oberschule in Bremerhaven, die als erste Schule im Bundesland im Jahr 2010 Kinder mit geistigen oder körperlichen Behinderungen, Lernschwächen, auffälligem Verhalten oder anderen Einschränkungen in regulären Klassen aufgenommen hat, bemängeln die unterrichtenden Lehrer, dass in der Praxis oft ein zweiter Lehrer fehle. „Man ist in diese Reform eingestiegen und hat viele Voraussetzungen nicht bedacht“, so Heiko Frerichs, Lehrer an der Carl-von-Ossietzky und zugleich Vorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE). Weiterhin meint er, „es reiche nicht, die Lehrer von den Fördereinrichtungen an regulären Schulen zu versetzen und darauf zu vertrauen, dass die Schülerzahlen sinken und damit mehr Lehrer frei werden für die Aufgabe“.



NUR MIT ÜBERDACHTEM KONZEPT

Jens Böhrnsen (SPD), Bremens Bügermeister, hat nach Protesten von Lehrern und Eltern zugesagt, dass es mehr Geld für Bildung geben soll. Ob jedoch wirklich mehr Lehrer eingestellt werden, bleibt fraglich. Lehrer und Eltern müssen also die Inklusion alleine stemmen. Aufgrund der fehlenden zusätzlichen Betreuung können die Lehrer an der Carl-von-Ossietzky-Oberschule auch die leistungsstarken Schüler nicht mehr intensiv fördern wie bisher. „Ich kann die Begabten nicht mehr so fördern wie früher. Der Fokus liegt auf den Schwachen“, sagt Frerichs.

Dennoch, die Carl-von-Ossietzky-Oberschule zeigt als Vorreiter-Schule, dass gemeinsamer Unterricht von behinderten und nicht-behinderten Schülern keine Sache der Unmöglichkeit trotz aller Schwierigkeiten darstellt. Wo früher Schüler ausgesiebt wurden, Klassen wiederholen mussten oder auf Sonderschulen geschickt wurden, muss der Pädagoge heute fördern. Die Schulleitung erarbeitete in Teamarbeit ein völlig neues Konzept – Leistungen werden nun anders bewertet, die herkömmliche Klassenarbeit wurde abgesetzt, die bekannten Noten durch ein Punktesystem ersetzt, klassenübergreifendes Lernen eingeführt, der alte Frontalunterricht gestrichen und mit Hilfe von Sonderpädagogen Einzeltraining im Klassenzimmer üblich. In der Carl-von-Ossietzky gilt, Inklusion ist grundsätzlich gut, aber nur mit überdachten Konzepten und nicht von Knall auf Fall.



Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016