Kalender - nur eine Zeitansage?

01. Januar 1900 | von

Auf der Suche nach der kleinen Köstlichkeit zur Versüßung des Abends strebt ein Mann, müde vom Achtstundentag, den Regalzeilen mit Schokoriegeln, Pralineschachteln, Gummibärchen und Konsorten zu. Er klappert das verlockende Spalier kurz vor der Kasse ab und – hält irritiert inne. Wo ist sie abgeblieben, die Leckerei mit dem fruchtig-spritzigen Kern? Die Saison des temperaturempfindlichen, sanftknackenden Gehäuses der Piemontkirsche war doch endlich wieder angebrochen. Abgeschoben an den Rand, verdrängt von Lebkuchen, Gewürzherzen, Spekulatius, Christstollen, entdeckt er die gesuchte Leckerei und wirft im Geiste einen Blick in seinen Taschenkalender: 25. September.

Verschobene Zeiten, verkehrte Welt. Wer von uns hat sich noch nicht über die von Geschäftsleuten unbotmäßig nach vorn in den Spätsommer hinein verlegte Weihnachtszeit geärgert. Anfang November vergangenen Jahres platzte einigen Kanadiern der Kragen: Aus Verärgerung über frühzeitig Weihnachtsdekoration in den Geschäften verwüsteten sie unter dem Decknamen Gegen Weihnachten, bevor es Zeit ist neun Geschäfte. Die Begründung der Tat hinterließen sie in einem anonymen Brief: Wir werden nicht zulassen, dass Sie den Herbst zerstören. Die Welt weiß, dass Weihnachten vor der Tür steht.
Wüsste sie es wirklich, wenn sie auf die erschlagenden, zeitpervertierenden Signale der Konsumindustrie verzichten würde? Ist den meisten modernen Menschen nicht längst das Gefühl für die Feste des Kirchenjahres abhanden gekommen? Macht sich der bewusst areligiöse Mensch überhaupt noch Gedanken über Werden und Vergehen im Kreislauf der Natur? Drehn wir nicht noch zusätzlich mutwillig am Jahreszeitenkreis indem wir an Weihnachten den Tannenbaum mit Palmen vertauschen und dem Sommer beim Snowboarden am Gletscher eine eisige Note verpassen?

Orientierung Naturjahr. In früheren Jahrhunderten war es für den Menschen lebensnotwendig, sich in den naturgegebenen Lauf des Jahres einzufügen. Alte Bauernkalender geben davon beredte Kunde. Einfache Merkverse kommentieren den Jahresverlauf und orientieren sich an den christlichen Festen. Sie geben, basierend auf jahrhundertelanger Beobachtung von Wetter, Flora und Fauna, Vorhersagen, bisweilen Empfehlungen für Aussaat und Ernte. Heilig Drei König sonnig und still, Winter vor Ostern nicht weichen will – eine solche Aussage ließ den Bauer im Frühjahr mit dem Ausbringen des Saatgutes länger warten. Sonnenschein an den so genannten Lostagen wurde nicht nur auf den Ernteverlauf bezogen, sondern auch auf Zwischenmenschliches. War der 1. Januar ein sonniger Tag, so rechnete man fest mit saftigen Viehweiden, zeigte sich am 27. Januar das Wetter heiter, kam man zu folgender Deutung: Streitigkeiten kommen auf. Der Blick in den Kalender war also lebensnotwendig und gab eine gewisse Sicherheit, was die Einschätzung der näheren Zukunft anbelangte.

Leben ohne Rhythmus. Der Blick in den Kalender, vielmehr Filofax, elektronischen Terminkalender, PC-Planer, was sagt er uns heute? Wann der nächste Termin ansteht, ob der kommende Tag noch ein Arbeitsessen mit dem Vorstandsvorsitzenden der Firma X hergibt, wie in die nächste Woche ein möglichst großes Arbeitspensum gestopft werden kann? Vielleicht erscheint auch der ein oder andere private Termin – unumgänglich, dazwischengeschoben. Und damit auch schon genug.
Die Zeit ist zu einem linearen Kontinuum geworden, zu einer gleichförmigen Abfolge von Terminen, die meist von Arbeit und Freizeitaktivitäten bestimmt werden. Hauptsache der Tag, die Woche, der Monat ist ordentlich ausgefüllt.
Denn sonst könnten wir unter Umständen entdecken, dass unser Inneres durch die unablässigen Aktivitäten des Alltags zugeschüttet und verkümmert ist, dass wir von den übergreifenden Wirtschaftsstrukturen zu einer profitablen Einheit zurechtgestutzt wurden, die in einem künstlichen und ungesunden Rhythmus funktioniert. Der globale Kapitalismus verlangt nach flexiblen Arbeitskräften, die am besten rund um die Uhr zum Einsatz kommen. Rastlos tätig sein, so heißt das Ziel mit dem unsere Zeiteinheiten angefüllt werden. Rastlos Geld machen – Online-Banking und -Broking machen’s möglich – rastlos konsumieren in Internet- und Tankstellenshops. In Zukunft könnten wir auch unsere freien Sonntage mit ausgedehnten Einkaufs-Sessions in schicken Malls anfüllen – die Vorlagen zur Änderung des Ladenschlussgesetzes liegen in den Schubladen der Ministerien bereit.
Wohin das Leben gegen den naturgegebenen Rhythmus im Wechsel von Arbeit und Ruhephasen im Extremfall führt, zeigt das japanische Phänomen Karoshi. Seit Beginn der 90er Jahre sterben zunehmend mehr japanische Arbeitnehmer (schätzungsweise mehr als 10.000) einen plötzlichen Tod, der auf chronische Übermüdung und Überarbeitung zurückzuführen ist. Quer durch alle Berufssparten geht inzwischen diese Vernichtung des Menschen durch Arbeit, jüngstes prominentes Opfer: der japanische Ministerpräsident Keizo Obuchi. Über ein Jahr hatte er sich keinen Urlaubstag mehr gegönnt. Ein Leben, das keinen Rhythmus mehr kannte.

Befremdliche Zäsuren. Ganz so schlimm ist es bei uns in Europa nicht, werden viele sagen. Zugegeben, unsere biologische Uhr missachten auch wir durch Schichtdienste, Überstunden und Nightlife, aber das Bedürfnis nach Orientierungspunkten, nach Inseln der Heimat im Ablauf der Zeit ist noch vorhanden. Befremdlich allerdings, bei welchen Zäsuren Halt in der beliebig gewordenen Zeit gesucht wird. Neben dem Terminplaner hat sich das Fernsehprogramm als Zweitkalender etabliert. Immer wieder sonntags – die Lindenstraße zeigt’s an, irgendeine andere Comedy-Serie oder Talkshow markiert den Montag, Dienstag... Das Highlight, ach was, die täglichen Highlights zwischen Arbeit und Bett von Verbotene Liebe über Big Brother bis hin zur Harald-Schmidt Show lassen uns regelmäßig so etwas wie Geborgenheit durch Gewohnheit erleben, freilich ohne unserem Leben auch nur ein Quäntchen Sinn zu schenken. Wer die Sehnsucht nach dem Geheimnis des Lebens noch nicht ganz abgegeben hat, wird versuchen, bestimmten Zeitabschnitten und Daten durch Horoskop oder Mondkalender eine eigene Qualität abzugewinnen, die auch auf die Lebensführung übertragen wird. So empfiehlt der lunare Lebensplaners beispielsweise am 12. Januar Fenster zu putzen oder eingewachsene Nägel zu korrigieren. Angestrebt durch einen solchen Zeitplaner ist die Rückbesinnung auf ein Leben im Rhythmus der Natur. Ein Leben im Einklang mit der individuellen inneren Uhr soll auch die Befolgung des Biorhythmuskalenders bringen – Vorhersagen, die in ihrer Willkür an Horoskope erinnern.

Sinn des Kalenders. Doch wie sehen Kalender aus, die dem Menschen wirklich nutzen, die sich heilsam auf sein Leben auswirken. Der Blick zurück zu den Ursprüngen, in eine Zeit, bevor die Zeit von ökonomischer Zweckrationalität vereinnahmt wurde, zeigt welche Bedürfnisse an einen Kalender herangetragen wurden. Die Zeit bestimmen und einzuteilen, um die Vergangenheit zu überschauen und die Zukunft zu planen ist ein uraltes Bedürfnis des Menschen. Spätestens mit der Entwicklung höherstehender Kulturen, die Ackerbau, Viehzucht und Handel betrieben, waren die Menschen auf präzisere Zeitmesssysteme angewiesen. Im alten Ägypten lebten die Bauern in Abhängigkeit von den alljährlichen Überschwemmungen des Landes durch den Nil. Für sie war es lebensnotwendig, den Zeitpunkt der Überflutung möglichst genau zu bestimmten, um sich rechtzeitig auf die Feldarbeiten vorzubereiten. So wurde bereits im 4. Jahrtausend v.Chr. ein Kalender verwendet, dem ein Jahr von 365 Tagen zugrunde lag und der von der tatsächlichen, der tropischen Jahreslänge um nur 0,2422 Tage abwich. Die Berechnung des Jahreszyklus richtete sich nach dem Aufgang des Fixsternes Sirius (Sothis) im Rahmen des jährlichen Erdkreises um die Sonne. Neben solchen Kalendern, die sich auf die Beobachtung des Sonnenstandes im Verlaufe der Jahreszeiten stützten, orientierten sich andere frühe Hochkulturen (Babylonier, Chinesen) am Mondumlauf, der für die Menschen leicht nachvollziehbar war. Die Ausbildung des jeweiligen Zeitsystems stand auch im Zusammenhang mit der religiösen Verehrung des jeweiligen Gestirnes (in Ägypten der Sonnengott Re).

Festkalender – lebensbestimmend. Von Einfluss auf die Zeitrechnung war auch die Festsetzung der Zeit alljährlich wiederkehrender religiöser Feste, die mit den Jahreszeiten in Verbindung gebracht wurden, also agrarischen Charakters waren. Wie sehr das für den jüdischen Kalender zutrifft, formulierte der jüdische Philosoph und Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808-1888): Der Juden Katechismus ist sein Kalender. In biblischer Zeit hatte der am Mondumlauf orientierte Kalender eine enorme gesellschaftliche und religiös-kultische Bedeutung. Die großen Feste waren zunächst am Ablauf des Naturjahres angelehnt, wie das Fest der ungesäuerten Brote sowie das Ernte- und Lesefest. Später wurden sie mit Ereignissen aus der Geschichte des Volkes, die es als Heils- und Rettungstaten Gottes verstand, in Zusammenhang gebracht. Die Zeit erschöpfte sich fortan nicht mehr in ständig wiederkehrenden Zyklen, sie gewann eine neue Qualität: durch den Bund mit Gott nahm sie einen unwiederholbaren Fortgang an, wurde als Heilsgeschichte hin zu künftiger Vollendung erfahren. In ihren Festen erinnerten sich die Menschen der Großtaten Gott, nahmen diese aber auch als Zeichen der Hoffnung und gegenwärtig wirksames, heilsames Geschehen wahr.

Fülle der Zeit. Diese anamnetische Grundstruktur des jüdischen Festkalenders findet sich auch im Kirchenjahr wieder. In den Festen des liturgischen Jahreskreises feiern die Christen Gottes Taten durch den Sohn Jesus Christus, der durch seine Menschwerdung Dreh- und Angelpunkt der Geschichte wurde. Dadurch hat sich das Zeitverständnis des Christen verändert, ist die Fülle der Zeit (Gal 4,4) angebrochen. Mit Christi Kommen in die Welt nahm das Reich Gottes seinen Anfang und geht seither der Vollendung entgegen. Die Zukunft Gottes ist fern und nah zugleich. Aus dieser spannungsvollen Formel ergibt sich eine entsprechende Glaubenskultur: Wir erinnern uns der einmaligen Heilstaat Jesu Christi, nehmen ihre Wirkung in unsere Gegenwart mit hinein und sehnen uns nach dem Kommenden. Die frühen Christen waren von diesem Bewusstsein derart erfüllt, dass sie sich in einer umfassenden Festzeit verankert sahen, die keinen eigenen Festkalender mehr benötigte. Ihr Glauben kreiste allein um das Ostergeheimnis. So feierten sie nur das jüdische Passah-Fest als christlich geprägtes Gedächtnis des Todes und der Auferstehung Jesu und den Sonntag, als den Tag der Auferstehung. Die Bestimmung des genauen Festtermins – ursprünglich sehr uneinheitlich in den verschiedenen Gemeinden geregelt - war für die wachsende Christenheit daher von großer Bedeutung. Erst 325 n.Ch. einigte man sich auf dem 1. Konzil von Nicäa, Ostern am ersten Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond zur Frühjahrstagundnachtgleiche zu feiern.

Heilsames Kirchenjahr. Zu dieser Zeit setzte der Ausbau des christlichen Festkreises ein. Man hatte erkannt, dass Feste den Menschen halfen, ihren Glauben besser zu verstehen und sie zugleich Sinn und neue Kraft zur Lebensbewältigung stifteten. Unsere säkularisierte Welt mit ihren eigenen Zeitsystemen hat dieses Erkenntnis weitgehend verloren. Das Gespür für die Kraftquelle Kirchenjahr muss wieder geweckt werden, um die Menschen aus ihrer Verlorenheit angesichts einer erkalteten, eindimensionalen Welt zu reißen. Feste und Festzeiten sollen wieder zu Orientierungspunkten im Alltag werden, die Zeit strukturieren, uns über uns selbst hinaus führen.
Wir leben zu sehr im Bewussten und verdrängen unsere unbewussten Gedanken und Gefühle. Diese könnten wieder durch das Einschwingen in den liturgischen Festkreis zur Sprache kommen. Der Psychiater Carl Gustav Jung ist aufgrund seiner Analyse von Träumen, Mythologien und religiösen Riten zu dem Schluss gekommen, dass zwischen den Bildern der Bibel, den heiligen Handlungen und den Bildern der Seele eine innere Verwandtschaft besteht. Im Kirchenjahr mit seinen Riten sieht er ein System, das den Menschen heilen und ihn gleichsam in die Kunst des Lebens einführen kann. Die Bilder und Symbole des Kirchenjahres heben unsere verschütteten Gedanken und Gefühle ins Bewusstsein und stellen ihnen Vokabeln zur Verfügung, mit denen sie sich artikulieren können. Der Festkreis bringt in seinen verschiedenen Stationen und Zeiten die Themen zur Sprache, die unser Leben im Innersten berühren.

Sehnsüchte der Seele. Gleich zu Beginn des Kirchenjahres, in der Adventszeit, wird der Gläubige angerufen, sich seines persönlichen Menschseins und damit seiner Glaubensgeschichte bewusst zu werden. Das Thema ist das Kommen des Herrn, das zu einer Erschütterung der alten Welt führt, der Aufruf zur wachsamen Erwartung. Nicht umsonst wurde diese Zeit in die kalte und dunkle Jahreszeit gelegt – ein Bild für den Zustand der alten Welt und unseres erkalteten Seelengrundes. Auch wir sollen aufgerüttelt, sensibel werden für das, was uns, aber auch die Menschen denen wir begegnen, zuinnerst bewegt. Was liegt unter dem hastig gewobenen Teppich aus scheinbar wichtigen Dingen, die unsere Tage füllen, aus oberflächlichem Getue und Getrumpfe, mit dem wir den Erdrutsch im seelischen Untergrund durch blitzende Fassaden wieder wettmachen wollen? Wir sollen Einkehr halten, in unserem innersten Wesenskern ankommen. Wenn uns das gelingt, wird in uns eine Ahnung aufbrechen, dass menschliches Leben noch eine andere Dimension hat, werden wir erkennen, dass unsere Sehnsüchte keine Illusionen sind, sondern die Verheißung einer Welt, in der Gottes Liebe Wärme und Licht verbreitet.

Weg zu wahrem Menschsein. Die nächste Station des liturgischen Jahreskreises, Weihnachten, bringt uns die Erfüllung dieser Sehnsüchte. Im Kreislauf des Naturjahres markiert es die Zeit kurz nach der Wintersonnenwende, die Talsohle der Dunkelheit ist durchschritten, das Tageslicht nimmt zu. Wir feiern die Geburt Christi in Bethlehem und damit die Geburt Gottes in uns. Wenn wir dem göttlichen Funken in unserem Innern nachspüren, kann das Wunder geschehen, dass er unser ganzes Leben ergreift. Das wäre der Anfang der eigenen Menschwerdung. Wenn wir uns auf das Kirchenjahr einlassen, wird bei jedem Fest ein anderer Teil unserer Seele angesprochen und zur Sprache gebracht. Jeder Tag und jedes Jahr kann uns so unserer inneren Wahrheit, unserer wahren Heimat ein Stück näher bringen. Auf diesem spiralförmigen Weg des Wachstums ist Zeit nicht länger der feindselige Diktator, der mit zunehmendem Alter immer schneller den Takt angibt, sondern eine Option zu mehr Lebensqualität, hin zu wahrem Menschsein.

 

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016