Kirche zwischen Konsens und Kontrast

28. November 2003

Marktförmige Religion oder religionsförmiger Markt? Der eine Gott ein verwech-selbarer Gott, einer, der seine Konturen, sein Profil verloren hat im Vielerlei von “Gottesangeboten“? Provozierende Fragen und ein paar Überlegungen zu zwei Kirchenkonzepten: in der Welt oder fernab der Gesellschaft...

In einer pluralen und vielschichtigen auch religiös vielgesichtigen Welt muss der Glaube der Christen, müssen Kirche und biblischer Gott sich ihr Eigenprofil in der Vielfalt von Sinn- und Glücksangeboten bewahren oder ein neues suchen - ein heute zugespitztes, aber keineswegs ganz neues Problem. Man erinnere sich nur an diese Szene in der Apostelgeschichte: Paulus in Athen. Im Meinungs- und Religionswirrwarr der antiken Metropole gibt es Spuren echter Gottessuche. An die knüpft Paulus an. Schritt für Schritt wird das eigene und unverwechsel-bare Profil der christliche Botschaft deutlicher. Funktioniert dies heute noch? Und wie? Fragen wie diese treiben viele um – nicht zuletzt den Papst und viele Theologen, aber auch die Christen und Christinnen vor Ort in Gemeinden und (neuen) geistlichen Bewegungen. Zwischen der Kirche als Kontrast zur umge-benden Gesellschaft und der Kirche, die möglichst viele Anschlüsse an die Fra-gen, Probleme und Hoffnungen der Menschen sucht, laufen die Linien, die sich manchmal wie Fronten anfühlen.

Werbung in Gottes Namen. Ein paar lose Eindrücke und Überlegungen sollen diese Fragen zu Beginn etwas deutlicher machen. Gerade in der vorweihnachtli-chen Zeit springt es ja förmlich ins Auge: Bestandteile christlichen Brauchtums, Partikel aus der Tradition einer liturgisch geprägten Zeit werden zur verkaufs-fördernden Stimmungsmache umgemünzt. Die säkulare und ökonomisch struk-turierte Welt macht sich etwas zunutze, was vorgeblich in den Bereich der Kir-che gehört. Aber ist das nicht ein Roll-back? Hat nicht Kirche zu Beginn Orte und Festtermine “getauft“, übernommen und mit eigenen Inhalten gefüllt. Schon da kommen wir an eine komplexe und manchmal verwirrende Geschichte heran. Aber es gibt weit mehr Phänomene: Banken und Versicherungen werben mit religiös gefärbten Begriffen (Vertrauen, Werte fürs Leben – gemeint sind dann Aktien – usw.), Popbands und Kultfilme bedienen sich im Repertoire religiöser Bilder, Metaphern und Vorstellungen. Aber es geht auch andersherum: Kirche wirbt mit professionell-pfiffigen Werbekampagnen für Priesterberufe, beschäf-tigt Management-Beratungen, inszeniert kirchliche Großereignisse -Katholikentage, Weltjugendtreffen, ja sogar Papstmessen - wie weltliche Me-dien-Events. Nicht wenige Kapläne und pastorale Mitarbeiter beklagen den Druck durch die Erwartungshaltung, dass Kinder-, Jugend- oder andere Gottes-dienste die Vorgängerveranstaltung “toppen“ müssen, weil sonst die Leute weg-bleiben. Damit erreichen wir bereits “Kernkompetenzen“. Da geht es nicht mehr um Brauchtum. Die Fragen ließen sich fortführen bis hin zu der zentralen Frage nach Wandel und Verwechslungen im Gottesbild. Zentraler geht es nun nicht mehr. Ist Gott personal – und vor allem: Wie viele Christen glauben das selbst noch? Glauben an Menschwerdung des Gottessohnes, an Auferstehung, an Le-ben nach dem Tod? Doch es geht zunächst nicht um schnelle Verurteilungen und Wertungen, sondern um Wahrnehmungen und ein paar Spuren, die daraus folgen.
Also, was übernimmt die Kirche aus der Welt, was nimmt sich die Welt zurück? Was gewinnen Kirche und Glaube daraus? Was verlieren sie? – Und was ge-winnt “Welt“ daraus?
 
Salz der Erde. Hinter diesem Thema steht eine intensive Diskussion, die seither nicht abgerissen ist. Ausgelöst wurde sie zum Beispiel durch Veröffentlichungen der Brüder Gerhard und Norbert Lohfink, zweier bedeutender Bibelwissen-schaftler, in den 80er Jahren. Sie fordern von der Kirche, sich nicht auf die Funktion der Kontingenzbewältigung reduzieren zu lassen. Im Blick auf die Bergpredigt ist “mit zwingender Notwendigkeit ein Realisierungsbereich“ ge-fordert, “der nicht mit der Gesamtgesellschaft identisch ist, der aber so struktu-riert ist, dass in ihm die gesellschaftliche Dimension der Bergpredigt öffentlich gelebt werden kann“, so Gerhard Lohfink. Als Pate für die neue Gesellschaft steht der klassische Begriff der “societas perfecta“, der mit “voll ausgestatteter Gesellschaft“ wiedergegeben wird. Biblische Metaphern für diese neue voll aus-gestattete Gesellschaft sind das “Salz der Erde“ und die “Stadt auf dem Berge“.
Diese Konzeption hat selbstverständlich auch Auswirkungen auf christliche Weltverantwortung. Das Gegenüber zur bisherigen Auffassung der christlichen Gesellschaftslehre wird deutlich. “Trennung von der bisherigen Gesellschaft“ und “Entstehen einer neuen Gesellschaft“ sind Leitworte. Der beste Dienst, den die Christen der Welt leisten können, ist deshalb der Aufbau lebendiger Ge-meinden, in denen die Bergpredigt gelebt und die Aufforderung Jesu zum Ge-waltverzicht wörtlich genommen wird. In der deutlichen Abgrenzung spiegelt sich eine durchgehend kritische Haltung gegenüber den gesellschaftlichen Gruppen und dem Staat wider. Die Gemeindeform darf sich nicht die ihr vom Staat übertragene Funktion der kontingenten Sinnbewältigung zuweisen lassen. Vielmehr muss sie “ein Organismus von ‘Gemeinden’ sein, die alle ihrer Größe zukommenden gesellschaftlichen Funktionen“ übernimmt. Die menschlichen Probleme finden ihre Lösung zuerst in der Beziehung zu Gott. Wird die Gesell-schaft der Welt direkt angezielt und ist sie auf (angebliche) Humanität hin kon-struiert, kann sie in diesem Verständnis nicht gelingen, sondern muss notwendig immer wieder in bloße Humanität abgleiten, während das volle Humanum, die richtige Gesellschaft, den Menschen da geschenkt wird, wo nicht sie, sondern Gott angezielt wird.

Kontrastgesellschaft. Es geht bei der Kritik am Konzept der Kirche als Kon-trastgesellschaft nicht um Pauschalkritik. Die zahlreichen Reaktionen auf dieses Konzept wären nicht denkbar, wenn in ihm nicht ein Stück Faszination liegen würde. Auf zwei Einwände wird besonders hingewiesen:
Die Kirche-Welt-Beziehung. Der erste Kritikpunkt bezieht sich auf die durchge-hend negative Betrachtung der Welt im Konzept der Kirche als Kontrastgesell-schaft. Dabei wird übersehen, dass Gott Schöpfer dieser Welt ist. Selbstver-ständlich nimmt die Theologie wahr, dass die Situation der Welt ambivalent ist – mit positiven und negativen Erfahrungen. “Ohne die Beziehung zu Gott als dem Schöpfer (ist sie) letztlich nicht zu denken; um dies heilsgeschichtlich noch weiterzuführen: in Jesus Christus und seiner Inkarnation ist die Angenommen-heit der Welt durch Gott, der universale Heilswille, zu sich selbst gekommen“, so die katholische Sozialethikerin Ursula Nothelle-Wildfeuer. Die An- und Ernstnahme der Eigenstruktur der Welt ist notwendig. Wenngleich die Welt als Schöpfung Gottes von der Sünde geprägt ist, so ist sie nicht durch und durch sündhaft. Deshalb ist ein Engagement des Christen in dieser Welt notwendig.
Diese Sichtweise findet sich auch in der Beziehung von Kirche und Staat. Aber vom neutestamentlichen Befund her wird man keineswegs ein ausschließlich negatives Bild von Staat zeichnen können. Wichtig ist, dass es zum einen im Neuen Testament keine explizite politische Ethik gibt, zum andern aber doch Hinweise, die auf das soziale und politische Handeln des Christen hinweisen. Selbstverständlich gibt die Bibel keine allgemein gültige Antwort, wie die Kir-che sich in unterschiedlichen staatlichen und gesellschaftlichen Situationen zu verhalten hat. Damit verbunden ist keineswegs eine Ablehnung des Institutionel-len, das zum menschlichen Leben unabdingbar hinzugehört. Ein weiterer kriti-scher Punkt ist der geforderte Aufbau von modellhaften Alternativgesellschaf-ten. Dass dies zu einer Überforderung christlicher Gemeinden führen kann und darüber hinaus gerade die Autonomie der irdischen Sachbereiche in Frage stellt, die das II. Vatikanische Konzil (vgl. etwa Gaudium et Spes 36) betont hat, muss wohl festgestellt werden.
Die Weltverantwortung: Die Kontrastgesellschaft will nicht um ihrer selbst wil-len da sein, sondern bewusst für andere. Darin ist auch die Sendung der Kirche begründet. Gerade weil die Kirche nicht für sich selbst, sondern ganz und aus-schließlich für die Welt da ist, darf sie nicht zur Welt werden, sondern muss ihr eigenes Gesicht behalten. Falls sie ihre Konturen verliert, ihr Licht auslöscht und ihr Salz schal werden lässt, kann sie die übrige Gesellschaft nicht mehr ver-ändern. Dann hilft kein noch so betriebsames gesellschaftliches Engagement nach außen hin mehr“, so G. Lohfink. Andere (etwa Hans-Joachim Höhn) halten dem entgegen, dass dieses Bild der “Kontrastgesellschaft Kirche“ eher optimis-tischem Wunschdenken als einer realistischen soziologischen Zeitdiagnose ent-springt. Dazu gehört auch, dass sich eine solche Kontrastgesellschaft nicht völlig von vorgegebenen Staats- und Gesellschaftsform abkoppeln kann. Umgekehrt kann sie auch nicht von der herrschenden Organisationsform domestiziert wer-den.

Anfragen. Die gegenseitige Beziehung bleiben angesichts der Komplexität der gegenwärtigen Gesellschaft differenziert und vielfältig. Aus einer sozialethi-schen Sicht sind noch weitere Anfragen an das Konzept der Kirche als Kontrast-gesellschaft zu richten. Wie steht es mit der Übernahme politischer Verantwor-tung? Hat nicht die Kirche auch eine sittliche Verantwortung für die menschli-che Gesellschaft? Das Bemühen um eine durch die Vernunft zu verantwortende Sozialethik für “alle Menschen guten Willens“ erweist sich als genuin christli-che Aufgabe, die gleichwertig und ursprünglich zu einem vom Christen zu ver-langenden Ethos gehört, das unter den Bedingungen der angebrochenen Gottes-herrschaft steht. Der missionarische Aspekt auch im sittlichen Bereich fehlt in der Konzeption der Kirche als Kontrastgesellschaft.
Gerade aus soteriologischer Perspektive ist zu bedenken, dass Gott in dieser konkreten Welt Mensch geworden ist. Der Weltdienst der Kirche hat von diesem heilsgeschichtlichen Datum auszugehen und nur so kann die Kirche “sacramen-tum mundi“ sein. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass christliches Handeln angesichts menschlichen Versagens und Scheiterns immer hinter dem Anspruch Jesu zurückbleibt. Dies gilt auch für das Handeln des Menschen in einer alternativen Kontrastgesellschaft.
 
Keine einfachen Konzepte. Zum einen geht es um das Verständnis der Kirche in der pluralistischen Welt. Zu diesem “in der Welt sein“ der Kirche kann nicht nur ein Modell gehören: die Kirche als Stadt auf dem Berge im Sinne der Kon-trastgesellschaft. Gerade eine pluralistische Gesellschaft benötigt auch unter-schiedliche Formen der Präsenz. Zu dieser Präsenz gehört selbstverständlich auch der Kontrast. Soziologisch, kirchlich und theologisch ist das Konzept der Kirche als Kontrastgesellschaft nicht völlig unzulässig, sondern sogar berechtigt, wenn damit nicht notwendig der Anspruch der Normativität für die Gesamtkir-che verbunden ist.
Derzeit scheint für die Kirche beides schwierig zu sein: Kirche in der Welt zu sein, aber es ist nicht leichter, Kirche als Kontrastgesellschaft zu sein, wenn man damit nicht eine sektenähnliche Ghettomentalität meint. Medard Kehl setzt sich ebenfalls kritisch gegenüber dem Begriff der Kontrastgesellschaft ab, ermutigt aber zum Kontrast im Einzelnen. “Ein gezielter Kontrast in einzelnen, ganz be-stimmten Bereichen, scheint mir für Kirche und Gesellschaft hilfreicher zu sein als der Aufbau einer Kirche im Sinn einer generell kontrastierenden Gesell-schaft, was innerhalb unserer ‚nachchristentümlichen‘ Gesellschaft auch kaum zu realisieren sein dürfte.“
Die Eingangsfrage: Kirche als Kontrastgesellschaft oder Kirche in der Welt dürfte nicht einlinig zu beantworten sein. Hinter dieser Frage verbirgt sich auch eine Anfrage an das persönliche sittliche Verhalten.

Frag‘ nach bei Paulus! Wie so oft erinnert uns der heilige Paulus daran, dass diese Fragen nicht so völlig neu sind. Zwei Sätze aus zwei Briefen de Völker-, des Weltapostels  spannen den Bogen: “Prüft alles, behaltet das Gute! (1Thess 5,21) und “Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und erneuert  euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist (Röm 12,2). Was ist das anderes als die Polarität zwischen Konsens und Kontrast! Paulus kennt “seine“ Welt – sie ist fabelhaft, von Gott geschaffen, spannend und kreativ, von Jesus Christus erlöst – und sie ist kritikwürdig, angeschlagen, leidschaffend ...

Denkwürdig. Karl Homann (München), renommierter Sozialethiker und -philosoph (mit starker kirchlicher Bindung) unterstreicht: “Eine christliche Ver-kündigung, die sich grundsätzlich polemisch gegen die ganz anders gearteten Sozial- und Denkstrukturen der modernen Welt in Stellung bringt und sie offen und verdeckt im Verfallsparadigma auslegt, verrät die Inkarnation.“ Umgedreht gilt aber auch: Eine Welt, die ihre Modernität für das Non-plus-ultra hält, verrät auch einiges (unter Umständen die Menschlichkeit).
Der Trendforscher und -setter Matthias Horx (er ohne ausschweifende kirchliche Bindungen) meint: “Bei konsequenter ‚Markenführung‘‚ prophezeie ich dem Traditionsprodukt aus dem Hause ‚Kirche‘ eine glorreiche Zukunft.“ Kontrast oder Konsens? Einmal mehr könnte sich auch ein “katholisches Grundaxiom“ – das “Et ... et“, das “Sowohl als auch!“ Und das ist kein billiges “Jein“, sondern ein mühevoll gefundenes “Ja“ an der richtigen Stelle und ein nicht weniger mü-hevolles “Nein“ an der richtigen Stelle.
Genau so spannend ist Denken und Handeln aus dem Glauben ...!

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016