Leidenschaftlicher Spötter wider die Dummheit

01. Januar 1900 | von

 Hier liegt – wenn man euch glauben wollte,

Ihr frommen Herrn! – der längst hier liegen sollte.

Der liebe Gott verzeih´ aus Gnade

Ihm seine Henriade

Und seine Trauerspiele

Und seine Verschen viele;

Denn was er sonst ans Licht gebracht,

Das hat er ziemlich gut gemacht.

 Gotthold Ephraim Lessing: Grabschrift auf Voltairen, 1779

 

Mythenumkränzt. Mit diesem leichtfüßigen Nachruf betrauerte der deutsche Dichter Gotthold Ephraim Lessing seinen großen Zeitgenossen Voltaire – ein treffendes und treffliches Resümee des Lebens eines genialen Unruhegeistes.
Der französische Schriftsteller entzieht sich seinen Biografen, indem er sein Leben mystifizierte. Schon sein Geburtsdatum ist nicht eindeutig belegt: Je nach Quelle kam er entweder am 21. November 1694 in Paris oder am 20. Februar 1694 in Chatenay bei Sceaux als François-Marie Arouet zur Welt. Noch in hohem Alter lästerte Voltaire: „Das Dokument über meine Geburt im November ist eine gedruckte Lüge.“
Voltaires Vater war der königliche Rat und Notar François Arouet, seine Mutter Marie Cathérine, eine geborene Daumart de Mauléon. 

Unbeschwerte Kindheit. In späteren Jahren, nach der bitteren Erfahrung, dass der Stand, nicht das Können den Mann macht, mystifizierte Voltaire auch weiterhin. Er behauptete, nicht der Abkömmling eines königlichen Notars, sondern der Sohn des Abbé de Chateauneuf zu sein, ein anderes Mal nannte er sich einen „Bastard von Rochebrune“. Somit dichtete er seiner Mutter gleich zwei adelige Liebhaber an.

„Zozo“, so der Kosename des schwächlichen Kindes, wuchs recht unbeschwert im Viertel zwischen Königspalast, Justizministerium und Universität der französischen Hauptstadt auf. Hier lag das geistige und politische Zentrum der Grande Nation, hier kam der Bub in Kontakt zu Juristen, Professoren, Finanzleuten und Adligen, die alle im gastfreien Salon der Arouets verkehrten. Dem empfindsamen François blieben Klassenschranken, Standesdünkel oder Intrigen, die im Salon seiner Eltern und auf der Straße gepflegt wurden, nicht verborgen. Er profitierte aber auch von der Lebensart und dem Wissen jener Menschen. Diese Erfahrungen prägten seinen weiteren Lebensweg.
Als er sieben Jahre alt war, starb seine Mutter. Sein Vater brachte ihn darauf am renommierten Louis-le-Grand-Lycée unter. Der Bub blieb bei den Jesuiten bis zu seinem 17. Lebensjahr. Dann äußerte er seinem Vater gegenüber den Wunsch, Schriftsteller werden zu wollen. 

Freidenker mit scharfer Zunge. Der alte Arouet fiel aus allen Wolken. Ein Schriftsteller führte zur Zeit Ludwigs XIV ein kümmerliches Leben; es sei denn, er erregte Aufsehen bei Hofe oder bei reichen Mäzenen, die ihn finanziell unterstützten.
Zunächst jedoch beugte sich Arouet junior erst einmal dem Wunsch seines Vaters und begann mit einem Studium der Jurisprudenz. Während er tagsüber eher lustlos über Büchern brütete, blühte er am Abend regelrecht auf. Zusammen mit seinem Paten, dem Abbé de Chateauneuf, besuchte der Heranwachsende die Gesellschaften und Redezirkel, die Aristokraten und Bürgerliche in privatem Kreis oder in Cafés abhielten.
Die Zirkel prägten den jungen Arouet weiter, schärften sein Urteilsvermögen und das Gefühl für Recht oder Unrecht.
Sein scharfer Verstand suchte ein Betätigungsfeld und fand es prompt. Arouet junior verfasste satirische Gedichte, in denen er sich die Schwächen seiner Zeitgenossen vornahm. Vater Arouet hingegen war weder mit dem Umgang noch mit der Beschäftigung seines Sprösslings einverstanden: Leute wie sein Sohn galten bei Hofe und bei der Polizei als „Libertins“, als Freidenker, die sich über die Monarchie und die Kirche lustig machten. Sie lebten nicht ungefährlich: Denn ihre Lästermäuler konnten sie unversehens in die Zellen der Bastille bringen. 

Gefährliche Polemik. Vater Arouet nahm seinen Sohn aus der Schusslinie: Er sorgte dafür, dass dieser als Page eines Gesandten nach Holland ging. Dort lernte er seine erste Liebe, Olympe Dunoyer, kennen. Olympes Mutter hintertrieb die Verbindung. Der Verliebte wurde nach Paris zurückgeschickt, von wo er seiner Angebeten drohte, sich umzubringen, falls sie ihm nicht folge.
Natürlich machte er seine Drohung nicht wahr. Von seinem Vater zu einem Advokaten in die Lehre gesteckt, schaffte sich sein unterforderter Geist nächtens Luft: Arouet Sohn zog in Satiren und auch Schmähschriften, die er im Kreise seiner Gesinnungsfreunde vortrug, gegen mehr oder weniger hochwohlgeborene Zeitgenossen vom Leder.
Als er auch noch Philipp von Orleans, der für den unmündigen Ludwig XV das Land regierte, Blutschande mit seiner Tochter unterstellte, war das Maß voll: Arouet behauptet zwar, seine Urheberschaft sei lediglich ein Gerücht, trotzdem wurde er aufs Land in das Schloss des Herzogs von Sully verbannt.
Acht Monate später bereits begnadigt, verbrannte er sich wiederum den Mund. Diesmal trafen die Wort-Pfeile, die er gegen andere verschoss, den Schützen selbst: „Herr Arouet Sohn“, wie es im Polizeirapport heißt, wurde am Pfingsttag 1717 nun wirklich in der Bastille eingeliefert.  

Literarische Lorbeeren. Knapp ein Jahr später öffneten sich für den 24-Jährigen die Kerkertüren wieder. Er verspürte wenig Lust, zu den staubtrockenen Akten zurück zu kehren. Statt dessen beendete er die Arbeit an seiner Tragödie Oedipe, die unter dem zum ersten Mal verwendeten Pseudonym „Monsieur de Voltaire“ erschien und an der Comédie Française erfolgreich aufgeführt wurde.
Offensichtlich gefiel das Stück, denn der Regent bewilligte Voltaire bald nach der Uraufführung eine jährliche Zuwendung von 1.200 Livres. Voltaire fühlte sich geschmeichelt und – durch den Ehrensold - zumindest vorläufig aller Geldnöte ledig. Durch den Gebrauch des Pseudonyms Monsieur de Voltaire jedoch, des Anagramms seines Namens Arouet l.(e) j.(eune), also Arouet der Junge, wobei er sich die ähnliche Schreibweise der Buchstaben v und u sowie i und j zu Eigen machte, schuf sich der junge Autor viele Feinde. Sie verübelten ihm, dem Bourgeois, die Führung des Adelsprädikates „de“ und schalten ihn einen Betrüger und Emporkömmling.
Nichtsdestotrotz machte sich Voltaire mit seinem Ödipus einen Namen, wurde er als hoffnungsvolles Talent in adeligen Zirkeln herumgereicht. Dennoch fand er die Zeit, ein Epos über Heinrich IV unter dem Titel Poème de la Ligue herauszubringen, das er heimlich hatte drucken lassen. In dem später Henriade genannten Werk beschreibt Voltaire das Leben eines überaus toleranten Herrschers, mit dessen Namen Glaubensfreiheit unter dem Stichwort „Edikt von Nantes“ verbunden ist. 

Auf der Flucht. Voltaire sonnte sich in seinem Ruhm. Bald jedoch zogen schwarze Wolken über seinem Haupt auf. Er erkrankte auf den Tod an den Pocken, ein adeliger Geck beleidigte ihn, ließ ihn verprügeln und inhaftieren: Das Jahrhundertgenie beschloss, Frankreich den Rücken zu kehren und nach England zu gehen. Dort blieb er für die nächsten drei Jahre, während derer er die Gedankenwelt des englischen Philosophen John Locke kennen lernte. 1729 kehrte er in sein Heimatland zurück. Zwei Jahre später erschien seine Histoire de Charles XII, die das Leben des schwedischen Königs zum Inhalt hat. Es folgten die Tragödie Zaire und die Satire Le Temple du Goût. 1734 wurde es wieder einmal eng für Voltaire: Seine Lettres Philosophiques erregten Unmut bis in höchste Kreise, seiner Verhaftung entzog er sich durch Flucht auf das Schloss Cirey, das für die nächsten 15 Jahre sein Hauptdomizil werden sollte. In jenen Tagen begann der Briefwechsel mit Friedrich II, dem Philosophen auf dem preußischen Königsthron. Er führte Jahre später zur Übersiedlung nach Potsdam, wo Voltaire, bis zum Bruch mit Friedrich, an dessen Tafelrunde von Sanssouci teilnahm.  

Streiter für Gerechtigkeit. 1754 ließ sich der Unruhegeist in Genf nieder, ein Jahr später erwarb er die Villa Les Délices. Im gleichen Jahr erschien ein Raubdruck seiner Pucelle, einer Burleske über Jean d´Arc. Voltaires fruchtbarste Schaffensperiode begann. Es folgten Versuch über die Sitten und den Geist der Nationen (1756), der Roman Candide , die Tragödie Tancrède (1759), ein Traktat über die Toleranz, eine Geschichte des russischen Reiches unter Peter dem Großen (1763), ein Philosophisches Taschenwörterbuch, eine Geschichte der Philosophie sowie zahlreiche weitere Werke und Schriften. Voltaire wurde zum unversöhnlichen Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit, gegen Leibeigenschaft, Zensur, Klerus und Kirche. 
1733 erkrankte das Genie zum ersten Mal schwer an Blasenentzündung und Harnzwang, Hauptursache seines späteren Todes. 1778 kehrte Voltaire nach fast 28 Jahren der Abwesenheit wieder nach Paris zurück, das ihn triumphal feierte. Die Belastungen waren jedoch für den Greis zu viel. Er brach zusammen, bekam einen Blutsturz, hohes Fieber. Am 30. Mai des gleichen Jahres starb er im hohen Alter von 84 Jahren.
Doch nicht einmal im Tod sollte Voltaire seine Ruhe haben. 1814 raubten königstreue Gegner der Französischen Revolution die Leichname Rousseaus und Voltaires aus dem Panthéon und verscharrten sie an einem unbekannten Orte nahe der Seine.

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016