Mehr als ein Schatten

01. April 2019 | von

Eine Geschworenen-Jury in Australien hält Kardinal George Pell einstimmig des Missbrauchs an einem minderjährigen Messdiener für schuldig. Mittlerweile sitzt er im Gefängnis. In Lyon wird Kardinal Philippe Barbarin wegen der Vertuschung eines Missbrauchsfall zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Er bietet dem Papst seinen Rücktritt an. Nicht erst in den letzten Wochen und Monaten erschüttern immer neue Nachrichten zu Tätern und Opfern nicht nur die kirchliche Öffentlichkeit. Ein Skandal ohnegleichen. Unser Thema des Monats versucht, sich diesem großen Thema zumindest unter einigen Aspekten zu nähern.

Meine Erinnerung ist noch ziemlich lebendig. Aschermittwoch 2010. Eine Konferenz von Ordensleuten, bei der es um Zukunftsfragen gehen soll, um die Freude an unserer Berufung, um unser Ziel, neue Schwestern und Brüder für die klösterlichen Gemeinschaften zu finden. Zu Beginn „droht“ ein ebenfalls teilnehmender Jesuit, die dazu vorgesehene Tagesordnung zu sprengen. Sein Hintergrund: P. Klaus Mertes SJ, damals Rektor des Jesuitengymnasiums Canisius-Kolleg in Berlin, hatte an etliche Hundert Absolventen der Einrichtung einen Brief geschrieben, nachdem sich ihm mehrere ehemalige Schüler als Missbrauchsopfer anvertraut hatten. Dieser Brief schließt mit den Worten: „Seitens des Kollegs möchte ich dazu beitragen, dass das Schweigen gebrochen wird. In tiefer Erschütterung und Scham wiederhole ich zugleich meine Entschuldigung gegenüber allen Opfern von Missbräuchen durch Jesuiten am Canisius-Kolleg.“
Die Mehrzahl der anwesenden Ordensleute wehrt sich damals, am 17. Februar 2010, die Tagesordnung zu ändern. Ich bin einer von ihnen und fest davon überzeugt, dass dieses Thema in meiner Gemeinschaft keines wäre. Wie sehr ich mich geirrt habe!

Skandal ohne Ende
Seit mittlerweile neun Jahren ist das Thema „Missbrauch und Kirche“ in der deutschen Öffentlichkeit massiv angekommen. Was man bis dato immer nur von ähnlichen Skandalen in den USA lesen konnte: Nun hat es uns voll erwischt. Der Trierer Bischof und Beauftragte der Deutschen Bischofskonferenz für Fragen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger im kirchlichen Bereich, Stephan Ackermann, sollte wohl recht behalten, als er schon im März 2010 feststellte, dass nun „eine Tür geöffnet“ sei. Er meinte, dass eine „bisher vorherrschende Sprachlosigkeit überwunden“ wäre. Doch ist sie das?
Täter wurden aus dem Verkehr gezogen, Opfer wurden betreut und „entschädigt“, Strukturen wurden geändert, Präventionsmaßnahmen durchgeführt. Gleichzeitig haben sich immer neue Opfer gemeldet, die teils vor vielen Jahrzehnten zu Opfern von Missbrauchstätern wurden. Aber längst handelt es sich nicht nur um die Aufarbeitung der Vergangenheit. Bis in die Gegenwart hinein treiben kirchliche Mitarbeiter/innen ihr Unwesen: Menschen werden zu Opfern sexueller Gewalt und sexueller Grenzverletzungen. Das Thema scheint – weltweit betrachtet – ein Fass ohne Boden zu sein. Nach zahlreichen Pädophilieskandalen erschüttert ein weiterer Vorwurf die katholische Kirche: Ordensfrauen wurden in vielen Ländern der Erde und über Jahrzehnte hinweg von Klerikern missbraucht – bis hin zur Zwangsprostitution. Und selbst wenn nur die Hälfte der jüngst im seriösen TV-Sender Arte ausgestrahlten Dokumentation „Gottes missbrauchte Dienerinnen“ stimmen sollte: Mir wurde beim Anschauen so schlecht, dass ich nach gut der Hälfte des Beitrags umschalten musste.

Persönliche Betroffenheit
Selbst wenn ich seit 2012 als Mitglied der Provinzleitung meiner Gemeinschaft immer wieder mit dem Thema Missbrauch konfrontiert wurde, glaube ich sagen zu müssen, dass ich die ganze Dimension dieses Verbrechens noch immer nicht zu fassen vermag. 
Ich habe feststellen müssen, dass ich mit Tätern unter einem Dach gelebt habe ohne etwas gewusst, geschweige denn geahnt zu haben. 
Ich habe gespürt, wie das Misstrauen gegenüber uns jüngeren Ordensleuten wächst. Wie wir unter den Verbrechen anderer Brüder leiden und in unserem pastoralen Dienst eingeschränkt sind. 
Ich habe zumindest ansatzweise begriffen, dass Opfer – gerade bei einem Missbrauch durch Kleriker – sich nicht einfach zu wehren vermögen und dass selbst ein Kuss, den man vielleicht als vermeintlich „harmlos“ abtun möchte, einen massiven Übergriff darstellen kann, unter dem ein Opfer zeitlebens leidet. 
Ich habe die Hilflosigkeit von Verantwortlichen gespürt, die überlegen, wie sie mit Tätern umgehen können, die ja doch irgendwie Teil der Gemeinschaft bleiben und selbst bei einem Ordensausschluss das Problem nicht aus der Welt geschafft wäre. 
Und ich habe miterlebt, wie das ganze Thema nach wie vor verharmlos und vertuscht werden kann. Dann haben beispielsweise nur die Medien Schuld oder es wird allzu rasch auf Sportvereine und Familien verwiesen, in denen das Missbrauchsthema ja mindestens ebenso ein Problem darstellen würde. Täter werden von A nach B versetzt in der irrigen Annahme, der Fall wäre damit erledigt.
Und ich habe gemerkt, wie schwer es ist, über das Thema zu sprechen und wie schnell Opfer noch einmal zu Opfern gemacht werden.

Opfern Glauben schenken
Die Deutsche Bischofskonferenz dokumentiert auf ihrer Internetpräsenz umfangreich, was seit 2010 getan wurde, um das Missbrauchsproblem zu konfrontieren. Festgestellt wird: „Seit 2010 hat ein Perspektiven- und Paradigmenwechsel stattgefunden. Nicht mehr das unbeschadete Ansehen der Kirche steht im Vordergrund, sondern der Blick auf das Leid der Opfer. Es gilt, dass man ihnen grundsätzlich glaubt, sie müssen keine Beweise für die Tat vorlegen. Lediglich die Plausibilität ihres Tatberichts wird abgefragt. Eine Kultur der Achtsamkeit etabliert sich allmählich.“
Jenseits der strukturellen Ebene war für mich eindrücklich eine Dokumentation, die im Bayerischen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Der Wiener Kardinal Christoph Schönborn hatte auf seine Initiative hin ein Gespräch mit Doris Wagner geführt. Wo viele Missbrauchsopfer immer wieder darüber klagen, in Bistümern und Ordensgemeinschaften kein Gehör zu finden, ist das ein echtes Signal. Als Mitglied der Gemeinschaft „Das Werk“ war Doris Wagner selbst missbraucht worden. Mit den Schilderungen ihres Erlebens wurde sie zum Sprachrohr für viele andere Opfer. In der für mich berührendsten Passage des Gesprächs sagt Doris Wagner: „Ich möchte aber, weil mir das unendlich viel bedeutet, von Ihnen hören, was ich bis jetzt noch von niemandem in der Kirche in einer Verantwortungsposition gehört habe, dass Sie mir glauben. Ich habe so oft meine Geschichte erzählt mittlerweile, ich habe das in meiner Gemeinschaft von niemandem gehört: „Wir glauben dir, und das hätte dir nicht passieren dürfen. Könnten Sie mir das sagen?“ – Pause. – „Ich glaube Ihnen das, ja“, antwortet Kardinal Schönborn. 

Umfassende Datenerhebung
Wiederum jenseits persönlich-individuell herausgehobener Schicksale hat die Veröffentlichung der MHG-Studie im frühen Herbst 2018 für Erschütterung gesorgt. An dem von der Deutschen Bischofskonferenz initiierten Forschungsprojekt waren das Zentralinstitut für seelische Gesundheit (Mannheim), das Institut für Kriminologie der Universität Heidelberg, das Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg und die Professur für Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug an der Universität Gießen beteiligt.
Übergeordnetes Ziel, so erklärt der fast 400-seitige Bericht, war „die Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Diözesanpriester, Diakone und Ordenspriester im Gestellungsauftrag im Verantwortungsbereich der Deutschen Bischofskonferenz zu ermitteln, die Formen sexuellen Missbrauchs zu beschreiben und kirchliche Strukturen und Dynamiken zu identifizieren, die das Missbrauchsgeschehen begünstigen könnten.“
Für die Jahre 1946 bis 2014 wurde (unter anderem) festgestellt:
•  In den Akten von 38.156 Klerikern fanden sich bei 1.670 Diakonen/Priestern Hinweise auf Beschuldigungen des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger. Die Verfasser der Studie betonen allerdings: „Diese Zahl stellt eine untere Schätzgröße dar; der tatsächliche Wert liegt aufgrund der Erkenntnisse aus der Dunkelfeldforschung höher.“
•  3.677 Kinder und Jugendliche wurden den beschuldigten Klerikern als Opfer zugeordnet. Beim ersten Missbrauch waren über die Hälfte der Betroffenen maximal 13 Jahre alt. 
•  Beschuldigte waren bei ihrer Ersttat im Schnitt etwa 40 Jahre alt. Sie geschah im Mittel ca. 14 Jahre nach der Diakonen- bzw. Priesterweihe. Dokumentierte Hinweise auf eine homosexuelle Orientierung der Täter lagen mit etwa 15% deutlich höher als in Vergleichsgruppen aus schulischem Täterumfeld. 
•  Bei etwa einem Drittel der Beschuldigten wurde ein dokumentiertes kirchenrechtliches Verfahren eingeleitet. Ebenso viele Täter wurden bei den staatlichen Behörden angezeigt, dabei 19,4% durch kirchliche Repräsentanten. Kirchenrechtlich drastische Sanktionen wie Entlassung aus dem Priesterstand oder Exkommunikation sind nur in geringer Zahl verzeichnet. 
Die MHG-Studie insgesamt hat auch zahlreiche Kritik erfahren, doch die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs stellt fest, dass sie eine „gute Basis für die katholische Kirche geschaffen [hat], um Reformen auf den Weg zu bringen und konsequent umzusetzen.“ Niemand könne sich mehr mit dem Verweis auf Einzelfälle aus der Affäre ziehen. „Wichtig für Betroffene und für die gesamte Gesellschaft ist,“ so die Kommission in ihrer Stellungnahme, „dass damit eine eindeutige Anerkennung der Schuld und der Verantwortungsübernahme der Kirche einhergeht.“

Missbrauchsgipfel in Rom
Die MHG-Studie war gewiss nicht der primäre Grund, weshalb Papst Franziskus alle Vorsitzenden der nationalen Bischofskonferenzen für den 21.-24. Februar 2019 zu einer Sonderkonferenz „Treffen zum Schutz Minderjähriger in der Kirche“ eingeladen hatte, wohl aber mit eine Ursache dafür, dass besonders in der deutschen Öffentlichkeit die Erwartungshaltung groß war. 
Klare Worte wurden bei der Konferenz gebraucht. Als „Werkzeug des Satans“ bezeichnete Papst Franziskus Priester, die Kinder missbrauchen. Solche Worte stoßen freilich nicht überall auf Zustimmung. Der Schweizer Jean-Maria Fürbringer, der als Missbrauchsopfer während der Konferenz viel Zeit auf dem Petersplatz verbrachte, nannte es „pastorales Blabla“, dem Teufel die Schuld zu geben. 
Der Vertreter der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, stellte fest: „Der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ist zu einem nicht geringen Teil auf den Machtmissbrauch im Bereich der Verwaltung zurückzuführen. (…) Akten, die die furchtbaren Taten dokumentieren und Verantwortliche hätten nennen können, wurden vernichtet oder gar nicht erst erstellt. Nicht die Täter, sondern die Opfer wurden reglementiert und ihnen wurde Schweigen auferlegt. Festgelegte Verfahren und Prozesse zur Verfolgung von Vergehen wurden bewusst nicht eingehalten, sondern abgebrochen oder außer Kraft gesetzt.“ Deutliche Worte des Münchner Erzbischofs und eine eindeutige Schlussfolgerung: „Nachvollziehbarkeit und Transparenz sind alternativlos.“
Papst Franziskus versprach denn auch, jeden Fall mit „äußerster Ernsthaftigkeit“ zu verfolgen: „Kein Missbrauch darf jemals vertuscht – so wie es in der Vergangenheit üblich war – oder unterbewertet werden, da die Vertuschung von Missbrauch die Verbreitung des Übels begünstigt und zusätzlich eine weitere Stufe des Skandals darstellt.“ In Wut und Enttäuschung der Menschen gegenüber der Kirche sieht er „den Zorn Gottes, der betrogen und beleidigt wurde von schlechten Priestern und Ordensleuten.“

Fiasko oder Chance
Wo der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, das Treffen „ein wichtiges Signal“ nannte, waren Opfervertreter enttäuscht, dass keine konkreteren Maßnahmen ergriffen wurden. Aus der Schlussansprache konnten sie – wieder – nur Absichtserklärungen erkennen. Der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller bezeichnete das Treffen und insbesondere die Schlussrede des Papstes als „Fiasko“ und „vertane Chance“. Der SZ-Journalist Heribert Prantl, der im Vorfeld die Konferenz als „eine der wichtigsten Konferenzen der Kirchengeschichte“ bezeichnet hatte, gar als „Jahrtausend-Konzil“, zeigte sich enttäuscht von den „Ansammlungen von Selbstverständlichkeiten“ im päpstlichen Schlusswort. 
Ob man von einer gerade einmal viertägigen Versammlung andere, konkretere Ergebnisse überhaupt hätte erwarten können? Etliche Bischöfe betonten, dass es nun darauf ankomme, was vor Ort tatsächlich umgesetzt werde. 
Positiv zu konstatieren ist gewiss, dass das Missbrauchs-Thema spätestens jetzt auf kirchenoffizieller Seite nicht mehr geleugnet werden kann. Die Brisanz scheint so klar wie nie zuvor – ebenso die Verantwortungsbereitschaft gegenüber den Opfern. 

Wie weiter?
Die Sorge um die Opfer sollte wohl an erster Stelle stehen, gleich wie die Bestrafung der Täter und das Bemühen, alles dafür zu tun, dass sie ihre Taten nicht wiederholen. 
Für die Diskussion um die Erforschung der Gründe, die zum Missbrauch führen, täte sicherlich ein bisschen mehr an Besonnenheit gut. Allein das Zölibat und die Homosexualität dafür verantwortlich zu machen, greift mit Gewissheit zu kurz. Die MHG-Studie äußert sich im Blick auf die Zölibatsverpflichtung kritisch differenziert, verweist auf mögliche sexuelle Unreifen und ein teils homophobes Klima in der katholischen Kirche bei zugleich abgewehrten homosexuellen Tendenzen, stellt aber auch fest: „Weder Homosexualität noch Zölibat [sind] eo ipso Ursachen für sexuellen Missbrauch von Minderjährigen.“ Zunehmenden Raum in der Gründediskussion nimmt das Thema „Klerikalismus“ ein. Gegen die „Selbstherrlichkeit von Amtsträgern in der Kirche“ fordern die deutschen Bischöfe ein „neues Miteinander“. 
Wir müssen wohl insgesamt damit rechnen, dass das Thema noch lange nicht durch ist und dass jedes Opfer, das irgendwann den Mut findet, über den Missbrauch zu sprechen und den Täter anzuzeigen, eine Hilfe ist, damit sich die Kirche dem Thema stellt und ihrer Verantwortung gerecht wird. Und letztlich ist jeder einzelne Mensch gefragt. Unter dem Motto „Augen auf – hinsehen und schützen“ stehen die Bemühungen der deutschen Bistümer um Prävention. Jede und jeder Einzelne ist gefragt: Augen auf, Unrecht benennen, wachsam bleiben, Tätern keine Chance geben.

Zuletzt aktualisiert: 01. April 2019
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