Menschen brauchen Rituale

01. Januar 1900 | von

Jeder Mensch pflegt - bewußt oder unbewußt - bestimmte Rituale. Das sind feste Übungen, die sich wiederholen, die den Tages-, Wochen- und Jahresablauf strukturieren. Rituale eignen sich gut, das persönliche Leben, die Arbeits- und Berufswelt, die Freizeit zu ordnen und in einen festen Rahmen einzubinden. Mit anderen Worten bedeutet das: Der Einzelne lebt nicht einfach in den Tag hinein, er nimmt die Dinge dann nicht so, wie sie gerade kommen - heute so, morgen anders -, sondern es geht um feste Übungen, um bewußte Verhaltensweisen, die dem Tun eine gewisse Tiefe, einen Sinn und eine Ordnung geben.

Wenn der Rahmen fehlt. Viele Menschen werden heute von diffusen Ängsten begleitet; vor allem schleichen sich viele Ängste ein, wenn jemand formlos in den Tag hineinlebt. Es ist Angst zu versagen, Angst, den Job nicht zu bekommen, Angst, die Prüfung nicht zu bestehen, Angst, das Leben könnte nicht gelingen und nicht zuletzt, die Angst um den Verlust der Gesundheit. So suchen sie nach Hilfen, die diese Angst abbauen können. Dazu bedienen sie sich verschiedener Rituale, mit denen sie bereits gute Erfahrungen gemacht haben.

Heilsam. So entwickeln beispielsweise Schüler und Studenten ihre eigenen Rituale, um die Angst vor einer Prüfung zu entschärfen. Die einen lesen morgens nochmals einen Teil des Stoffes durch, andere versuchen die eigene Mitte zu finden durch Meditation, wieder andere beten und geben sich ganz in Gottes Hand, einzelne schwören auf die Verwendung des gleichen Kugelschreibers, andere halten sich an einem Talisman fest, der ihnen Glück bringen soll.

Auch bei Spitzensportlern lassen sich vor Leistungswettbewerben häufig die Anwendung gleicher Rituale feststellen. Sie machen die gleichen sportlichen Übungen, ziehen die gleichen Kleider an und jeder hat für sich das gleiche Ritual, wenn er zu Bett geht. Ihnen ist bewußt, daß davon der Sieg nicht abhängt, aber es scheint, ihre Energie zu fördern und die unerträgliche Spannung zu lindern.

Man könnte hier anmerken, daß es sich hier um Verknöcherung, um mangelnde Flexibilität handelt, die den Einzelnen einengt. Es gibt so viele Situationen unseres täglichen Lebens, die sich ständig wiederholen und die eines festen Rahmens bedürfen. Letztlich geht es um Lebenskultur, um die Kunst eines gesunden, geordneten Lebens.

Vom Wert der Rituale. Nach dem Psychologen Carl Gustav Jung bieten Rituale folgende Hilfen:

  • Sie formen die Lebensenergie um in geistige Energie. Sie können aus dem Glauben heraus eine Hilfe sein, um mit den eigenen Gefühlen und Leidenschaften und mit den Verunsicherungen des Lebens, die aus dem Unterbewußten auftauchen, mit den Chancen aber auch mit den Gefährdungen der eigenen Psyche besser umgehen zu können.

  • Sie können Sinn stiften. Sie können uns helfen, unser Leben für Gott zu öffnen und Gottes heilenden und befreienden Geist in unseren Alltag eindringen zu lassen. Rituale können uns helfen beim Strukturieren unseres Lebens, sie können unserem Leben einen Sinn geben und Lust am Leben wecken.

  • Rituale haben eine heilende Wirkung und vermitteln Kraft. Auch können sie zu Möglichkeiten und Methoden geistiger Hygiene werden.

Alles unter Kontrolle? Es gibt heilende Rituale, aber auch solche, die krank machen können. Heilend können Rituale nur wirken, wenn sie bewußt vollzogen werden und in Freiheit geschehen. Sie sind heilend, wenn sie nicht aus unbewußter Angstabwehr gepflegt werden und keinen Zwang zur Leistung beinhalten.

Krankmachend sind sie dann, wenn der Tag wie ein Uhrwerk abläuft und der Mensch in seinen Ritualen erstarrt. Rituale vertragen keinen Zwang. Wenn sie aus einem inneren Zwang geschehen, engen sie ein, verstärken die Angst und lassen keinen freien Raum für das Leben. Rituale werden für zwanghafte Menschen ein Weg, ihr ganzes Leben zu kontrollieren und nichts mehr dem Zufall zu überlassen. Sie verkrampfen immer mehr. Diese Menschen sind von einer ständigen Angst begleitet, Gott könne sie befragen, weil sie irgend etwas denken oder tun könnten, was Gott nicht gefällt.

Nach diesen allgemeinen Anmerkungen ist es sicher hilfreich, einzelne Rituale besonders zu betrachten. Eine entscheidende Weichenstellung ist, wie man seinen Tag beginnt und wie man ihn beschließt. Deshalb sollen hier einige Morgen- und Abendrituale beleuchtet werden.

Weichenstellung für den Tag. Morgenrituale entscheiden, ob wir den Tag selbst leben oder ob wir gelebt werden, ob wir dem Tag eine Struktur geben oder uns bestimmen lassen von den Dingen und Ereignissen. Jeder Mensch sollte für sich persönlich überdenken, wie er seinen Morgen sinnvoll und für ihn wohltuend beginnen kann. Das kann also auf keinen Fall bedeuten, in letzter Minute aus dem Bett zu springen, das Nötigste zu tun, um dann zur Arbeit zu hetzen. Erfahrungsgemäß ist dieser Tag bereits vorprogrammiert und nichts will so recht gelingen.

Ein gutes Morgenritual besagt, daß ich mir Zeit lasse, daß ich nach dem Aufwachen erst einmal nachspüre, wie die vergangene Nacht war. Hatte ich eine erholsame Nacht? Habe ich Erinnerungen an Träume, Traumfetzen? Welche Bilder fallen mir dazu ein? Träume können mir mitteilen, wie es eigentlich um mich steht, was mich in der Tiefe meines Herzens bewegt. Manchmal hinterlassen sie auch ein beklemmendes Gefühl. Dann kann das ein Hinweis sein, doch einmal näher hinzusehen, was ich da möglicherweise verdrängt habe. Andererseits können Träume auch ein Gefühl von Freiheit und Weite vermitteln, was mich dann zu Freude und innerer Sicherheit führt - so kann der kommende Tag freudig gestimmt erlebt werden.

Ein Morgenritual kann auch bedeuten, daß ich nach dem Aufwachen erst einmal in den Tag hineinhöre, daß ich kurz überdenke, was heute auf mich zukommt. Welche menschliche Begegnungen werde ich haben, welche Entscheidungen habe ich zu treffen? Ich halte meine leeren Hände Gott entgegen und bitte ihn um seinen Segen für diesen Tag.

Ein weiteres Morgenritual könnte sein, daß ich die frische Luft am offenen Fenster ganz bewußt und tief in meinen Körper hineinströmen lasse und den kommenden Tag mit all seinen Überraschungen und Unwegsamkeiten, aber auch mit seinen Freuden aus Gottes Hand annehme.

Ganz sicher gehört zu einem guten Morgenritual, daß ich zeitig aufstehe, um mich in Ruhe zu duschen und anzukleiden, mit Genuß und Zeit ein Frühstück einzunehmen.

Vielleicht gehört zu meinem Morgenritual ein Augenblick der Stille. Das kann ein Morgengebet sein, eine stille Zeit, in der ich den kommenden Tag überdenke und ihn Gott anvertraue. Es kann auch sein: Das Beten eines Psalms oder eines Bibeltextes, der mich anspricht, Beten des Stundengebetes, Hören meditativer Musik oder aber auch schweigendes Verharren vor einer brennenden Kerze oder einer Ikone. So kann ich den inneren Raum des Schweigens in mir entdecken. Das Morgenritual kann auch in einem Kreuzzeichen bestehen, das ich mache, wenn ich das Haus verlasse. Damit läßt sich bereits der Leistungsdruck relativieren, unter dem viele Menschen schon am Morgen stehen, wenn sie an ihre Arbeit denken. Das Kreuzzeichen ist Ausdruck dessen, daß ich von Gottes Liebe berührt bin und unter seinem Segen stehe. Es drückt weiter aus, daß ich Gott gehöre und nicht der Welt, sie also keine Macht über mich hat.

Den Tag vollenden. Auch Abendrituale haben eine wesentliche Bedeutung für unser Leben. In der Familie sehen diese natürlich ganz anders aus, als wenn jemand alleine lebt. In der Familie gilt es, Rituale zu entwickeln, welche die Kinder einbeziehen. Ich denke zum Beispiel an ein festes Ritual, das der Vater einplant, um sich seinen Kindern zu widmen. Das kann darin bestehen, mit den Kindern zu spielen oder sie zu Bett zu bringen, mit ihnen das Abendgebet zu sprechen und ihnen etwas vorzulesen. Das ist dann besonders hilfreich, wenn es zum täglichen Ritual wird. Den Kindern wird so Sicherheit vermittelt und das Gefühl, daß der Vater Zeit für sie hat. Es ist unbefriedigend für beide Seiten, wenn die Kinder darum betteln müssen und keine Regelmäßigkeit aufkommt.

In vielen Familien bestimmt der Fernseher das Abendritual und nicht selten werden bereits die Mahlzeiten vor laufendem Fernseher eingenommen. Das entspricht einer passiven Berieselung und macht auf Dauer unzufrieden und träge. Den Kindern raubt der Fernseher Phantasie und Spontaneität, die Erwachsenen verstummen. Auch hier gilt es, Rituale zu pflegen, indem man eine Auswahl von sinnvollen Sendungen trifft und danach tatsächlich abschaltet. Dies hinterläßt ein sehr gutes Gefühl, nämlich, daß wir das Gerät beherrschen und nicht umgekehrt.

Auch für Alleinstehende ist der Fernseher eine große Versuchung. Es ist die einfachste Art, sich abends zu beschäftigen. Es ist interessant, einmal zu testen, was man alles zustande bringt, wenn man nicht fernsieht. Dann erscheint die Zeit vor dem Fernseher wirklich zu schade. Es ist ernsthaft zu überlegen, welche Rituale man dagegen setzen kann: an einem Abend Musik hören, an einem anderen lesen oder kreativ werden. Je nach Interesse kann man ein Theater, Konzert oder Kino besuchen, mit Freunden ausgehen oder sich mit Dingen beschäftigen, auf die man gerade Lust hat. Sobald ich meine Abende aktiv gestalte, wird sich kaum das Gefühl breitmachen können, mir falle die Decke auf den Kopf.

Wider den Single-Frust. Für Alleinstehende ist es besonders wichtig, gesunde Rituale zu entwickeln, damit sie ein positives Lebensgefühl haben. Sie vermitteln ein Stück Heimat und Geborgenheit. Sie sind Ausdruck einer Lebenskultur. Und für sie ist die Entwicklung einer Lebenskultur sinnvoll, um sich heimisch zu fühlen. Für sie sind feste Rituale noch aus einem anderen Grund wichtig: Sie haben keine Kontrolle durch den Partner und so unterliegen sie um so mehr der Gefahr, sich treiben zu lassen und gelebt zu werden. Ich kenne Singles, denen es zur Gewohnheit geworden ist, schwierigen Situationen auszuweichen, indem sie sich ins Bett verkriechen und die Decke über den Kopf ziehen, und so eine Art Vogel-Strauß-Politik betreiben. Das bringt letztlich Frustrationen und Schuldgefühle.

Rituale für den Lebensabend. Aber auch für pensionierte Ehepaare ist es unabdingbar, wenn sie Spannungen und Konflikte vermeiden wollen, neue Rituale einzuüben. Dabei ist zu bedenken, daß jeder Partner auch genügend Raum hat, für sich alleine zu sein, andererseits sollen Gemeinsamkeiten gefunden und ritualisiert werden. Wenn ältere Ehepaare ihre Zeit nicht neu strukturieren, werden sie oft einander zur Last. Ideal ist es, wenn sie bereits vor der Pensionierung neue Rituale ausprobieren, die für ihren Lebensabend passend und frohmachend sind, damit sie dann, wenn es soweit ist, etwas miteinander anfangen können.

Gesunde Distanz. Das Abendgebet ist ein weiteres wichtiges Ritual, mit dem ich eine gesunde Distanz zu den Ereignissen des Tages schaffe. Meine Frustrationen, meinen Ärger halte ich Gott entgegen und kann damit diese belastenden Situationen wenigstens ein Stück loslassen. Ich danke für Gelungenes und übergebe Gott den vergangenen Tag mit dem, was weniger gut war. Wenn ich den Tag im Abendgebet bewußt loslasse, beschließe ich ihn und so wird er zu meinem Tag. Gehe ich einfach müde ins Bett, so habe ich das Gefühl, in einer Tretmühle zu sein und von den Terminen getrieben zu werden. Es entsteht Lustlosigkeit und Ermüdung.

Rituale brauchen Disziplin. Disziplin ist der Weg, das Leid des Lebens zu verringern. Ich wähle diesen mühsamen Weg, um das größere Übel, wie Einbrüche und Abgründe in meinem Leben zu verringern oder ganz zu vermeiden.

Wenn ich beispielsweise im Tiefsten meines Herzens weiß, daß mir mein Morgenritual der stillen Zeit gut tut, darf ich es nicht von meiner Lust und Laune abhängig machen, ob ich es halte oder nicht. Ob ich den Vorsatz ausführe oder nicht, hängt nicht nur von meiner Willensstärke ab, sondern auch von meiner Klugheit. Wenn ich weiß, eine Übung tut mir gut, sollte ich sie ausführen und zwar regelmäßig, denn jede Übung braucht Treue.

Nach einer gewissen Zeit werde ich feststellen, wie sehr ich dieses Ritual brauche und ich werde alles daransetzen, es täglich wahrzunehmen.

Rituale haben eine belebende Wirkung und geben dem Menschen ein Gefühl der Sinnhaftigkeit. Jeder muß ausprobieren, was ihn zum Leben führt, was ihn innerlich froh macht und ihn in Einklang bringt mit sich selbst. Dieser Spur gilt es dann zu folgen.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016