Mit Abraham unterwegs

30. Juli 2012 | von

Der Wunsch nach Veränderung findet seinen Ausdruck in Aufbrüchen und Reisen. Aufbrüche im wirklichen Leben werden erfahrungsgemäß oft lange hinausgeschoben. Der Weg bis zum Ziel ist dann oft sehr weit, dabei kann es Unfälle und Rückfälle geben, zudem sind mit jeder Neuorientierung auch Risiken verbunden. Doch unser Leben besteht eben nicht nur aus Höhenflügen, sondern auch aus Wüstenerfahrungen und Durststrecken. Die aber sind nicht in jedem Fall negativ zu bewerten. Oft handelt es sich vielmehr um Anzeichen dafür, dass manches Gewohnte nicht mehr trägt, und dass Veränderungen nötig sind.



In vielen Märchen ist davon die Rede, wie erfahrungshungrige Menschen sich auf Fahrt begeben. Dabei geht es allerdings nicht um Geografie, sondern um Psychologie. Sie machen sich auf die Suche nach einem kostbaren Schatz, nach einem verwunschenen Schloss, nach einem reichen Prinzen oder nach einer schönen Königstochter. Sie ziehen hinaus in die Welt, um Wissen zu erwerben und das Leben zu probieren. Wagemutige durchstreifen ferne Gegenden und fremde Länder in der Absicht, dort ihr Glück zu machen. Andere ziehen aus, um endlich das Fürchten zu lernen. Auf ihren Expeditionen werden sie mit mancherlei Schwierigkeiten konfrontiert; oft müssen sie geradezu unglaubliche Hindernisse überwinden, unerwartete Gefahren meistern, furchterregende Abenteuer bestehen. Wenn sie schließlich am Ziel ihrer Wünsche sind, finden sie fast immer etwas ganz anderes vor, als sie sich vorgestellt haben und das sie doch unbewusst immer schon suchten: nämlich sich selbst, aber verändert. Psychoanalytisch gesehen steht das Symbol der Reise für den Wunsch nach Veränderung.



AUFBRUCH INS UNGEWISSE

Aufbruchsgeschichten finden sich auch in der Bibel. Noch im Alter von 75 Jahren macht sich Abraham mit seiner Sippe auf in ein unbekanntes Land, einer ungewissen Zukunft entgegen. Das Volk Israel flieht vor seinen Unterdrückern aus Ägypten, um in Kanaan eine neue Existenz aufzubauen. Tobits Sohn Tobia reist in eine ferne Stadt; bei dieser Gelegenheit macht er nicht nur mit dem Engel Rafael Bekanntschaft, sondern lernt auch seine zukünftige Frau kennen. David irrt monatelang umher, bald als Flüchtling, bald als Anführer einer Bande von Abenteurern, bevor er Jerusalem im Handstreich nimmt und zur Hauptstadt ausbaut. Die ersten drei Evangelisten (Matthäus, Markus und Lukas) schildern Jesu Wirken im Rahmen einer Wanderreise, die ihn von Galiläa hinauf nach Jerusalem führt. Die Apostelgeschichte, in welcher Lukas die Entstehung der Kirche und die beginnende Ausbreitung des Christentums beschreibt, besteht zu einem guten Teil aus Reiseberichten. Dazu passt, dass das Zweite Vatikanische Konzil von der Kirche als von dem durch die Zeiten pilgernden Gottesvolk spricht.

Wann immer Menschen etwas bewegt, bewegen sie sich – zumindest in den überlieferten Geschichten. Wie kommt es dann aber, dass Aufbrüche im wirklichen Leben oft so lange hinausgeschoben werden? Wahrscheinlich weil mit jeder Neuorientierung Risiken verbunden sind. Aber selbst da, wo die Hoffnung stärker ist als alle anfängliche Angst, ist es zumeist ein weiter Weg bis zum Ziel – wenn denn dieses überhaupt erreicht wird. Auf diesem Weg kann es nämlich nicht nur zu Unfällen, sondern auch zu Rückfällen kommen.



WÜSTENERFAHRUNGEN

Ein gutes Beispiel dafür bildet die biblische Schilderung vom Auszug des auserwählten Volkes aus Ägypten. Hat dieses erst unter den vom Pharao auferlegten Lasten geseufzt und nach Eigenständigkeit und Freiheit gehungert und nach schier unüberwindlichen Hindernissen den Auszug aus dem Land der Unterdrücker endlich geschafft, sehnt es sich, kaum dass es ihm in der Wüste zum ersten Mal an Nahrung mangelt, nach dem früheren Sklavendasein zurück: „Wären wir doch in Ägypten durch die Hand des Herrn gestorben, als wir an den Fleischtöpfen saßen und Brot genug zu essen hatten“ (Exodus 16,3). Wenig später, als ein Wassermangel droht, wirft das Volk dem Mose vor, der es doch aus dem ägyptischen „Sklavenhaus“ (Exodus 13,3) befreite: „Warum hast du uns überhaupt aus Ägypten hierher geführt?“ (Exodus 17,3). Es verweigert sich schlicht der Einsicht, dass der Weg in die Freiheit und hin zur Reife über Wüstenerfahrungen und durch Durststrecken führt.

Ohne die Erinnerung an das euphorische Gefühl beim Aufbruch und ohne den Gedanken an das Gelobte Land hätten die Israeliten mit Sicherheit die Wüste nie durchquert, sondern wären nach Ägypten zurückgekehrt und weiterhin als erbärmliche Sklaven durchs Leben gehumpelt; die Versuchung dazu war ja groß genug.



DURSTSTRECKEN

Wüstenerfahrungen und Durststrecken kennen viele nicht nur in ihrem persönlichen Leben, sondern auch auf der Ebene des Glaubens. Es trifft dies selbst für Heilige zu, wie das Beispiel der Mutter Teresa von Kalkutta zeigt. „Ich möchte Gott so sehr lieben, wie er noch nie geliebt worden ist, aber da ist diese schreckliche Leere, das Gefühl der Abwesenheit Gottes.“ Und: „Der Himmel bedeutet nichts – er erscheint mir als verlassener Ort.“ Als diese und ein paar ähnliche Äußerungen von Mutter Teresa von Kalkutta durch die Weltpresse gingen, sorgten sie für Irritation; warum eigentlich? Mutter Teresa beschreibt doch bloß eine Erfahrung, die vielen Gläubigen nur zu vertraut ist, nämlich dass auch der Glaube gelegentlich Anfechtungen ausgesetzt ist. Und dass die Beziehung zu Gott nicht aus lauter spirituellen Höhenflügen besteht.

Das alles zeigt uns: Wir dürfen die Gefährdungen des Glaubens nicht unterschätzen. Kein Mensch kann von sich behaupten, endgültig im Besitz des Glaubens zu sein. Vielmehr geht es darum, das Gottvertrauen je neu zu verwirklichen und zu vertiefen. Und allfällige diesbezügliche Krisen nicht vor sich selber zu verleugnen, sondern sich ihnen zu stellen. Krisen werden nicht gelöst, indem man sich immer nur auf das Althergebrachte versteift und neue Ein- oder Ansichten gar nicht erst an sich herankommen lässt. Sondern indem man sich damit konfrontiert.



WANDLUNG: JA − SICH WANDELN: NEIN?

Das gilt auch im Hinblick auf die Kirche. Was ist das Wichtigste in der Kirche? Auf diese Frage würden wohl die meisten der römisch-katholischen Konfession Zugehörigen antworten: Die Eucharistie oder, wie man früher sagte, die Messe. Und was ist das Wichtigste an der Messe? Natürlich die Wandlung! Natürlich? Und wenn man dann darauf hinweist, dass sich in der Kirche einiges wandeln müsse, dann verschlägt es manchen buchstäblich die Sprache.

Naturgemäß sind wir Menschen Neuerungen gegenüber misstrauisch; es gilt dies nicht nur im privaten, sondern auch im gesellschaftlichen und, selbstverständlich, auch im kirchlichen Bereich. Da ist manchen schon die kleinste Veränderung suspekt. Man beruft sich auf die alten, bewährten Traditionen. Am besten soll alles bleiben, wie es ist. Oder wieder werden, wie es war.

Wie verfehlt diese Haltung ist, illustriert Jesus mit seinem Gleichnis von den Talenten (vgl. Mt 25,14-30). In dieser Geschichte geht es um Geldsummen, wie sie heute nicht einmal die Vorstandsvorsitzenden der Großbanken einstreichen. Fünf Talente, das sind rund hundertfünfzig Kilogramm Silber, übergibt ein Geldmagnat einem Angestellten; die soll er investieren. Der gute Mann wird schon mit dem Transport seine liebe Not gehabt haben. Zwei Talente vertraut der Krösus einem zweiten Mitarbeiter an, eines dem dritten. Nach einiger Zeit erhält er von den beiden ersten Angestellten jeweils das Doppelte zurück, während der dritte das Vermögen vergraben und selber gearbeitet hat, statt das Geld für sich arbeiten zu lassen. Falls wir uns auf die Seite dieses Letzteren schlagen, liegen wir, moralisch gesehen, ganz und gar nicht falsch, was hingegen die Sinnspitze des Gleichnisses betrifft, völlig daneben.



NEUERER IN DER KIRCHE

Dieses Gleichnis trifft genau zu auf die Lage der frühen Kirche – und auch auf die Situation, die wir heute vorfinden. Als nach Jesu Tod und Auferweckung außer den vom Judentum zum Christentum übergetretenen Gläubigen schon bald auch Heiden zu der neuen Glaubensgemeinschaft stießen, stellte sich die Frage, ob diese sich zuerst der Beschneidung unterziehen müssten, um sich so vor der Taufe zuerst einmal zu den mosaischen Weisungen zu bekennen. Auf jeden Fall!, behaupten die einen. Auf gar keinen Fall!, sagen die anderen. Bekanntlich haben in dieser harten Auseinandersetzung die Neuerer obsiegt und nicht die Bewahrer, die sich ähnlich dem dritten Diener vor jedem Risiko fürchteten. Dieser wagt gar nichts; er ist schon heilfroh, dass er die ihm anvertraute Summe ohne Verlust zurückerstatten kann. Eben diese Ängstlichkeit, welche im Grunde nur wiederum Ausdruck einer grenzenlosen Borniertheit ist, macht seinen Herrn rasend.

Die, welche Angst haben vor einigen von vielen Gläubigen angemahnten Reformen in der Kirche, sollten sich vielleicht einmal in der Kirchengeschichte ein bisschen genauer umsehen. Dann würden sie entdecken, dass es immer wieder Jesusbegeisterte gab, die völlig neue Wege gingen. Erinnert sei bloß an die zahlreichen Christenmenschen, die sich im vierten Jahrhundert angesichts der dekadenten Zivilisation mit ihrem überzüchteten Lebensstil in die oberägyptische Wüste zurückzogen, um dort zu Gott und zu sich selber zu finden. Das Experiment hat sich dann irgendwann totgelaufen; aber erwachsen ist daraus das abendländische Mönchtum, das seinerseits das Ergebnis eines Wagnisses war, welches der heilige Benedikt einging.

Oder denken wir an die Gründung der Bettelorden im 13. Jahrhundert durch die Heiligen Dominikus und Franz von Assisi, und die von dieser Bewegung ausgelöste Kirchenreform. Sehr oft waren es ja gerade die Gründer und Gründerinnen neuer Orden, welche die Zeichen der Zeit erkannten und ungewöhnliche Wege beschritten, oft sogar gegen den anfänglichen Widerstand der zuständigen Kirchenoberen.



TRADITION UND TRADITIONEN

Bekanntlich hat das Vierte Laterankonzil im Jahr 1215 die Gründung neuer Orden untersagt. Zum Glück aber hat sich die Kirchenleitung schon bald Rechenschaft gegeben, welch kostbare Talente sie mit diesem Beschluss vergraben hatte, und diese schnell wieder ausgebuddelt. Wäre es bei dem ursprünglichen Entscheid geblieben, könnten wir heute nicht einmal die berühmten Jesuiten- und Kapuzinerwitze goutieren.

In unserer Kirche muss beileibe nicht alles so bleiben, wie es angeblich immer war. Wohlverstanden: wie es angeblich immer war! Verpflichtend ist nämlich allein die große apostolische Tradition, die ursprüngliche Überlieferung. Aus dieser Tradition sind im Lauf der Jahrhunderte immer neue Traditionen erwachsen, nämlich vielfältige Frömmigkeitsformen, sehr unterschiedliche spirituelle Bewegungen, überaus mannigfaltige Andachtsübungen. Diese Traditionen jedoch sind zu einem guten Teil zeit- und situationsbedingt. Es haftet ihnen beileibe nicht das Bleigewicht der Ewigkeit an. Sie sind der Fortschritt von gestern und vorgestern. Und die Fortschritte von heute (vorausgesetzt, dass es sie doch noch geben wird!)? Sollten sie sich bewähren, gehören die vielleicht einmal zu den Traditionen von morgen und übermorgen. Damit es überhaupt so weit kommt, dürfen wir die Talente nicht vergraben, sondern müssen so handeln wie die beiden ersten Diener in Jesu Gleichnis gehandelt haben.



DEN AUFBRUCH WAGEN!

Das Zweite Vatikanische Konzil vergleicht die Kirche mit dem durch die Wüste pilgernden Gottesvolk Israel. Die mit einer solchen Wanderung durch die Zeiten verbundenen Durststrecken werden nicht überwunden, indem man sich nach den Fleischtöpfen in Ägypten zurücksehnt, sondern den Aufbruch wagt – in Richtung Neues Jerusalem.

„Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe / bereit zum Abschied sein und Neubeginne.“ So Hermann Hesse in seinem berühmten Gedicht Stufen. Und weiter: „Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise / und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen! / Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, / mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.“ Unzählige Märchen verweisen darauf, dass es dabei nicht ohne Schwierigkeiten abgeht. Und die biblischen Aufbruchsgeschichten erinnern die Gläubigen daran, dass Gott die Seinen auch auf ihren Wüstenzügen begleitet.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016