Moderne Hexen und alte Kulte

01. Januar 1900 | von

Kaum scheint der Hexen-(Aber)glaube, der in seinen Auswirkungen zu den dunkelsten Abschnitten des europäischen Christentums gehört, verflogen zu sein, da melden sich in unserer Zeit sehr selbstbewußt neue Hexen. Sie behaupten über magische Kräfte zu verfügen, mit denen sie helfen oder schaden können.
Dieses neue Hexentum, das sich vorwiegend einer positiven göttlichen Kraft verschrieben hat (weiße Magie) wird in den Schriften Gerald B. Gardners, der über den in England praktizierten Wicca-Kult berichtet, erstmals greifbar. Im Kontext des Feminismus taucht der Begriff Hexe (englisch: witch; italienisch: strega) 1977 in Italien als Selbstbezeichnung von Frauen auf, die gegen das Urteil in einem Vergewaltigungsprozeß demonstrierten und sich die Nacht zurückerobern wollen (Eine Frau soll sich auch in der Nacht ohne männlichen Beschützer frei und sicher bewegen können). Inzwischen bestehen in den USA und in Westeuropa zahlreiche Hexenzirkel (covens), die in einer Nahbeziehung zu bestimmten Formen des Feminismus und zur Öko- und New-Age-Bewegung stehen.

Faszination archaischer Kulte. Um das Selbstverständnis dieser neuen Hexen zu begreifen, ist der Bedeutungswandel von Magie und Okkultismus zu beachten, der sich durch den Einfluß ethnologischer Studien und der Skepsis gegenüber der experimentellen Wissenschaft, vollzogen hat. Das Magische wird nicht mehr als das Unheimliche, oder gar Teuflische betrachtet, sondern als verschüttete Quelle der Lebenshilfe, der Heilung, und einer mit der Umwelt versöhnenden Kraft. Das von der Ethnologie wiederentdeckte Schamanentum wurde zur ideologischen Fundgrube. Zauberer und Medizinmänner der Naturvölker, werden von vielen Vertretern des neuen Hexentums als Vorläufer der Hexen und Hexer betrachtet. Workshops mit Medizinfrauen, Dorfpriestern aus Bali, tibetanischen Mönchen und mexikanischen Zauberern haben Hochkonjunktur. Angesichts vorhergesagter ökologischer Katastrophen sehen viele in den magischen Praktiken und Verhaltensweisen naturverbundener Völker eine rettende Alternative, weil die Welt als große Einheit, von alles durchflutenden göttlichen Kräften gesehen wird.

Neuer Hexen-Mythos. Die Faszination durch das Archaische verführt heute zu einer fragwürdigen Deutung der tragischen Hexenverfolgungen des 16. und 17. Jahrhunderts. Es ging zu dieser Zeit sicher nicht mehr um die gewaltsame Unterdrückung heidnischer Kulte und ihrer naturverbundenen Bräuche und Vorstellungen. Ein neuer Hexen-Mythos will hier eine Kontinuität der von der geistlichen und weltlichen Herrschaft verfolgten Hexe und den weisen Frauen der vorchristlichen Vegetationskulte, herstellen.
Während Papst Gregor VII. im Jahre 1080 dem König von Dänemark noch verbot, Frauen als Urheberinnen von Unwetter und Seuchen zu beschuldigen und zu töten, setzte sich in den folgenden Jahrhunderten im Volk und auch bei Kirchenführern die Meinung durch, daß Hexen und Zauberer vom Teufel Besessene wären, die mit ihm Buhlschaft trieben. Als Auslöser von Verfolgungen sind mehrfach regionale Agrarkrisen nachweisbar. Nach Vorstellung eines Bauern konnte nur ein Böser die Hand im Spiel haben, wenn etwa ein Hagelschlag seinen Acker voll getroffen hatte und der Nachbaracker haarscharf verschont blieb.
Die typische Hexe war eine abgewiesene Bittstellerin, meist aus der besitzlosen Schicht, die erbittert oder unter Verwünschungen davonging. Traf über kurz oder lang die Familie oder den Besitz des Abweisers irgend ein Schaden, dann folgten Verdächtigungen der Abgewiesenen als Hexe. Historiker wissen heute aber auch, daß der Hexenwahn nicht selten gezielt eingesetzt wurde, um politische Fehden (Johanna von Orleans) auszutragen, um sich zu bereichern, um nicht integrierbare Menschen (Landstreicher, fahrendes Volk) zu disziplinieren, oder der jungen medizinischen Wissenschaft gegen die Praktiken der Kräuterfrauen und Hebammen zum Sieg zu verhelfen.

Mit Magie das Leben meistern? Die Magie erfuhr eine Umwertung ins Positive: Infolge verstärkter Zweifel an einer rationalen Lebensbewältigung ist sie wieder gefragt und daher auch die Zauberer und Hexen, die sie beherrschen. Magie – die Überzeugung Energie zielgerichtet steuern zu können – ist verlockend, weil sie sich als Mittel zur Manipulation der Umwelt anbietet.
Die Münchner Hexe Petra Singh will keine Satanspriesterin sein, sie verhext nur Menschen, von denen sie gehaßt wird. Nur zu leicht wird deutlich, daß sie mit Magie ihre eigene Unzulänglichkeit, mit persönlichen Feinden umzugehen, auszugleichen sucht. Wenn Petra Singh meint, anderen Menschen Krankheiten anzuhexen, müsse niemand lernen, das sei schlicht und einfach eine Dosierungsfrage der Energie, so steckt auch darin eine tiefere Wahrheit. Wieviele Krankheiten entstehen wirklich aus einem krankmachenden gesellschaftlichen Zusammenhang heraus! Nur ist der Versuch ihrer Bewältigung allein durch magische Praktiken an sich genauso hilflos, wie das Vertrauen allein auf die verstandesmäßige Bewältigung aller Lebensfragen.

Kult der Großen Göttin. Unter den Frauen, die sich als Hexen verstehen und magisch okkulte Praktiken üben, ist eine Gruppe vorherrschend geworden, die versucht, eine matriarchale Spiritualität als neue Lebensform und neue Religion zu praktizieren.
Grundlagen dazu lieferte die Münchner Matriarchats-Forscherin und Dozentin Heide Göttner-Abendroth in mehreren Publikationen. Ihre These, daß die früheste Mythologie der Menschheit matriarchal gewesen sei, und es ursprünglich gar keine männlichen Götter gab, wird wissenschaftlich nicht allgemein vertreten. Wenn sich die heutigen Verehrerinnen der Großen Göttin Hexen nennen, so entspricht diese Selbstbezeichnung einer Neuinterpretation von Verhörprotokollen der Hexenprozesse (15.-18. Jh.) Das durch die Folter erpreßte Geständnis des Schadenzaubers und des Teufelspaktes gibt sich in dieser Interpretation zu erkennen als das Wissen heil- und kräuterkundiger weiser Frauen, die unter der Decke des Christentums den alten Kult der Großen Göttin weiterpraktizierten. Man ist heute überzeugt, verdrängtes Wissen und verschüttete Traditionen aus der Mutterkult-Urzeit der Menschheit mit Hilfe bestimmter Rituale wiederentdecken und verlebendigen zu können.

Wiedergeburt der Hexen. Aktiver Hexenglaube kennt die Möglichkeit durch eine Wiedergeburts-Therapie die Gewißheit zu erlangen, in einem früheren Leben eine Hexe gewesen zu sein. Es ist nicht einfach eine Modeerscheinung, der sich viele anschließen, sondern es handelt sich bei den neuen Hexen wirklich um dieselben Frauen, die damals verbrannt wurden! Judith Jannberg beschreibt in ihrem Buch Ich bin eine Hexe, wie Frauen dies heute erkennen und welche Erlebnisse sie selbst zu der Erkenntnis gebracht haben, eine Hexe zu sein.
Bei einigen Frauen führte diese Entdeckung zu schweren psychischen Störungen, ja zur Schizophrenie. Trotzdem empfiehlt sie weiterhin den Frauen durch eine Reinkarnations-Therapie ihre früheren Existenzen in Erfahrung zu bringen.

Matriarchalische Spiritualität. Die Große Mutter-Göttin am Anfang der Religionsgeschichte hatte den Heros als menschlichen Partner. Sie selbst ist die Personifikation der alles durchwaltenden Lebenskraft, die in drei Gestalten erscheint: als Jungfrau, Mutter und weise Alte.

Diese Göttin ist stets gegenwärtig, sichtbar und fühlbar, denn sie ist die Erde, auf der die Menschen leben, oder der Kosmos, den sie über sich erblicken. Sie ist zugleich das Netz der geistigen, psychischen und physischen Kräfte im Menschen; der Mensch selbst ist Teil der Göttin. Besonders Frauen hätten aufgrund ihrer Regelblutungen, ihrer Gebärfähigkeit und der deutlicher als beim Mann erkennbaren Lebensabschnitte (Jungfrau, Mutter, Alte) ein ausgezeichnetes Empfinden für die an den Phasen der Mondin (in den meisten Sprachen ist der Mond weiblich!) ablesbaren natürlichen Lebensrhythmen und damit auch einen Zugang zu der alles durchwaltenden Lebenskraft.
Eigene Kultformen sind geschaffen worden, wobei es den alltäglichen, mehr spontanen Umgang mit der Göttin gibt, aber auch klosterähnliche Zusammenschlüsse in den covens (Zirkeln) von höchstens zwölf initiierten Hexen und der Hohenpriesterin, die eine leitende Funktion hat. Männer bleiben zur Erfahrung dieser Kraft auf die Vermittlung von Frauen angewiesen. Die im Hexenkult praktizierten Rituale, in Gemeinschaft oder privat vollzogen, beanspruchen, die alles durchwaltende Kraft erfahrbar zu machen, und zu Heilzwecken zu lenken. Im Kult finden Freude und Dankbarkeit in sinnenhaften Riten ihren Ausdruck.

Zeitalter der Mutterkultur. Politisch engagierte Hexen sind der Überzeugung, daß Kult und Lebensform der Mutterkultur die totalitäre Männer-Gesellschaft wirksamer als manche Revolution in eine Krise führe und die wiederbelebten heidnischen Riten das patriarchalisch deformierte Christentum in die Schranken weise. Man ist überzeugt in einer Wendezeit zu leben, aber es ist nicht das astrologische neue Zeitalter des Wassermanns der kommenden 2000 Jahre, sondern die Wiedergeburt des weiblichen Zeitalters, das die 4000 Jahre währende Zeit des Patriarchats ablöst. Die Frau kann nicht nur sich selbst erlösen, sondern sie muß die Welt erlösen. Dazu bedarf sie ausschließlich der Aktivierung der in ihr schlummernden Kräfte.

Der Wicca-Kult. Wicca bedeutet altenglisch weise Frau (witch). Eine der bei uns am bekanntest gewordenen Vertreterin des Wicca-Kults ist Miriam Simons, eine Psychologin und Therapeutin aus San Francisco. Der Kult ist vornehmlich ein Mondkult. Die wichtigste Phase für die Hexen ist der Vollmond, weil da der psychische Kraftfluß zum Höhepunkt gelangt ist. Deshalb finden Hexentreffen bei Vollmond statt, also jährlich 13mal. Dreizehn Personen sind auch die Höchstzahl einer Wicca-Gruppe. Bezeichnend ist, daß der berüchtigte Satanist Aleister Crowley (1875-1947) mehrere Hexenrituale für die Wicca-Zirkel verfaßt hat. Die Große Mutter ist die Mutter der Fruchtbarkeit, und deren Priesterinnen und Priester sind ihre Stellvertreter auf Erden. Die Göttin selbst hat ihre Verehrung mit Geschlechtsriten gefordert. Den Wicca-Anhängern kann man es deshalb nicht recht abnehmen, wenn sie sich nach außen als eine Gruppe harmloser Naturfreunde darstellen, die sich beim Mondschein trifft und das Heilige der Natur verehrt.

Heidnische Religiosität neu aufgelegt. Christliche Kirchen müssen sich darauf einstellen, daß sie nicht nur von der säkularen Welt in Frage gestellt werden, sondern zunehmend auch von einem neuen Heidentum. Magisch orientierte Bewegungen lehnen einen überweltlichen, persönlichen Gott (Vater) und eine Geschichte Gottes mit den Menschen (Heilsgeschichte) ab. Die biblisch-christliche Unterscheidung von Gott und Welt, Schöpfer und Geschöpf, wird aufgehoben, und die Erde direkt mit der Göttin identifiziert. Aus der geschaffenen Natur wird die zwar bedrohte, letztlich aber doch göttlich autonome Natur, auf die der Mensch magisch einzuwirken versucht, indem er sich mit ihr verbindet. – Erlösung wird zur Selbsterlösung und die Überzeugung von der Wiedergeburt reduziert die Verantwortung in diesem Leben, da man noch weitere Chancen zu bekommen glaubt. Die mit dem neuheidnischen Weltbild verbundenen magischen und okkulten Praktiken sollten nicht unterschätzt werden.

Daß es sich bei okkulten Erscheinungen meist um psychologisch und parapsychologisch, also wissenschaftlich erklärbare Dinge handelt, heißt noch lange nicht, daß man bedenkenlos damit umgehen kann. Die meisten Menschen sind unerfahren im Umgang mit den Tiefenschichten der Seele. Die versuchten Rückführungen von Frauen in frühere Hexen-Existenzen haben schwere seelische Erschütterungen und Zwangsvorstellungen hervorgerufen. Muß in diesen Fällen dann nicht wieder die Gesellschaft einspringen, wenn es um die Behandlung der Opfer geht?
In den Psychobewegungen bis hin zu Michael Ende und den neuen Hexen wird die Rückkehr zu uns selbst, zu den eigenen Kräften des Bewußtseins als Rettung empfohlen. Die Voraussetzung dieses Glaubens an sich ist die alte gnostische Irrlehre, daß sich der Mensch nur seiner Göttlichkeit in sich selbst bewußt zu werden braucht, um zu allem fähig zu sein, um sich über alle geschöpflichen Grenzen hinwegsetzen zu dürfen. Das Prinzip tu, was du willst als Lösungswort neuheidnischer Weltanschauung, ist letztlich die Wiederholung des Wortes der Paradies-Schlange: Ihr werdet sein wie Gott.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016