Pater Gregor Girard – Erinnerung an einen Pädagogischen Pionier

31. Juli 2015 | von



Im Jahr 2015 wird in Freiburg/Schweiz das 250. Jubiläum der Geburt von Pater Gregor Girard gefeiert. Zu seiner Zeit international bekannt als Pädagoge und Sozialreformer, ist sein Name heute selbst in der Schweiz und unter Ordensangehörigen fast unbekannt. Unser Thema des Monats gibt einen kurzen Einblick in sein bewegtes Leben und will dazu einladen, die Veranstaltungen zum Jubiläum in Freiburg/Schweiz zu besuchen.



Pater Girard wurde am 17. Dezember 1765 in Freiburg/Schweiz geboren und auf den Namen Jean-Baptiste getauft. Sein Vater Jean-François Girard (1730-1804) war ein erfolgreicher Tuchhändler, die Mutter Marie-Françoise de Landerset (1840-1823) gehörte einer privilegierten bürgerlichen Familie an. Sie begleitete aufmerksam die Erziehung ihrer 15 Kinder und beauftragte bisweilen auch Jean-Baptiste mit der Unterweisung seiner jüngeren Geschwister. Ihre fromme, verständnisvolle und liebevolle Haltung sollte ihn zutiefst prägen. Nach einer Schulzeit im ehemaligen Jesuitenkollegium St. Michael, die bei ihm keine guten Erinnerungen hinterließ, war Jean-Baptiste vor die Wahl gestellt, eine Laufbahn im Handel einzuschlagen, als Offizier in Frankreich zu dienen oder aber in den Dienst der Kirche zu treten. Ohne zu zögern entschied er sich mit 16 Jahren für das Kloster der Franziskaner-Konventualen in Freiburg, dessen Kirche damals in festlichem barocken Glanz erstrahlte (Neubau des Schiffs 1745) und dessen großzügiges Konventsgebäude Raum bot für einen Konvent von angesehenen, vielseitig gebildeten Patres.







Studium und erste Aufgaben



Nach seinem Noviziat in Luzern erhielt er 1782 bei seiner Profess den Ordensnamen Gregor. Er studierte in Überlingen, Offenburg und Würzburg Philosophie, Theologie und Kirchenrecht und wurde 1788 zum Priester geweiht. 1790 kehrte er in seinen Heimatkonvent Freiburg zurück, wo er das Amt des Lektors für Philosophie und Moraltheologie übernahm und an Festtagen in französischer Sprache predigte. Der Einmarsch der französischen Truppen im Jahr 1798 und die Verfügungen der neu eingesetzten helvetischen Regierung stellten auch in Freiburg die Verhältnisse auf den Kopf. Die Franziskaner – wie die anderen Klöster in der Schweiz – durften keine Novizen mehr aufnehmen, ihre Güter waren beschlagnahmt und ihre Klöster wurden zu Gästehäusern der Regierungsbehörden. 







Pater Gregor betritt Neuland



In dieser Ausnahmesituation übernahm Gregor Girard mit Erlaubnis seiner Oberen zwei Ämter, die eigentlich für einen Ordensmann nicht vorgesehen waren. Im Januar 1799 trat er in Luzern als Sekretär katholischer Konfession und Archivar in den Dienst des Ministers für Wissenschaft und Kunst. Im Juli 1799 wurde er als Pfarrer für die katholischen Mitglieder der Regierung nach Bern berufen. Er war damit der erste katholische Pfarrer in Bern seit Einführung der Reformation. Im Amt bis August 1804, erregten seine Gottesdienste und Predigten in deutscher und französischer Sprache Aufsehen. Seine ausgleichende und kluge Amtsführung sicherten ihm die Achtung einflussreicher Persönlichkeiten.







Leitungsdienste und Verantwortung



Die guten Kontakte zu Regierungskreisen veranlassten die Ordensleitung, Pater Girard von 1803 bis 1806 das Amt des Kommissars (Provinzials) für die schweizerischen Klöster seines Ordens zu übertragen. Er begann sofort, die Konvente in Luzern, Freiburg, Solothurn und Werthenstein zu visitieren und mit den Kantonsregierungen über ihre Wiederherstellung zu verhandeln. Während der Konvent in Freiburg bereits 1803 in seine alten Rechte eingesetzt wurde, gelang es weder Pater Girard noch den nachfolgenden Kommissaren, die anderen Klöster auf Dauer zu sichern. Eine zweite und dritte Amtszeit Girards als Kommissar von 1839 bis 1845 hätte die Konvente im Kanton Luzern (Luzern und Werthenstein) retten sollen, ihre Aufhebung im Jahr 1838 war aber unwiderruflich.







Pädagogische Erfolge 



1804 kehrte Pater Girard nach fünf Jahren in Bern in seinen Konvent in Freiburg zurück und fungierte dort von 1804 bis 1808 als Guardian (Hausoberer). Als 1804 dem Franziskanerkloster der Unterricht an der städtischen Elementarschule für die französischsprachigen Knaben übertragen wurde, war es erneut Pater Girard, der mit drei Mitbrüdern und einem Laien diese Aufgabe übernahm. Mit großem Einfühlungsvermögen in die kindliche Psyche verbesserte er Lehrmittel und Unterrichtsmethoden. Mit besonderem Erfolg praktizierte er ab 1816 den „wechselseitigen Unterricht“, eine in England und Frankreich entwickelte Methode, in der fortgeschrittene Schüler ihre Kameraden unterrichten. Dies erlaubte kleine Klassengruppen, die Anpassung an individuelle Lernfortschritte und kurze Unterrichtseinheiten mit wechselnden Rollen. Daneben behielt Pater Girard für bestimmte Fächer auch den traditionellen (magistralen) Unterricht durch den Lehrer bei. Für seinen Kanton entwarf er ein dreistufiges Schulsystem auf der Grundlage einer allgemeinen Schulpflicht für Knaben und Mädchen. Der große Erfolg seines Unterrichts und seiner Schulkonzepte machte Pater Girard und seine Freiburger Schule zu einer europäischen Referenz, neben den beiden anderen Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (+ 1827) und Philipp Emanuel Fellenberg (+ 1844). 







Katholisch-konservativer Gegenwind



Die Bewunderung für Pater Girard war in Freiburg allerdings nicht ungeteilt. Seine aufgeschlossene Haltung gegenüber der Aufklärung und ein religiöser Unterricht, der die sittliche und soziale Erziehung in den Vordergrund stellte und jede konfessionelle Polemik vermied, ließ konservative katholische Kreise misstrauisch werden. Sie wünschten sich für den Kanton Freiburg eine Rückkehr zu den glorreichen Zeiten der katholischen Gegenreformation unter Leitung des Jesuitenordens, deren Kollegien die Jugend gegen die liberalen Einflüsse schützen sollten. 1818 wurde die Gesellschaft Jesu nach Freiburg zurückberufen und begann erfolgreich mit dem Aufbau eines eigenen Schulsystems, das sich auf die höhere Schulbildung konzentrierte. Während seiner zweiten und dritten Amtszeit als Guardian in Freiburg (1818-1821, 1821-1824) musste sich Pater Girard mit heftigen Angriffen auf sein Schulkonzept auseinandersetzen. 



Im Juni 1823 kam es zum Eklat, begleitet von heftigen Auseinandersetzungen und Tumulten in der Stadt und im Kanton. Auf Antrag des Bischofs von Lausanne wurde die Methode des wechselseitigen Unterrichts vom Staatsrat als verdächtig und schädlich für die Autorität der Pfarrer und Lehrer verboten. Pater Girard trat von seinem Amt als Direktor der Elementarschulen zurück und wurde auf seinen Wunsch zum Guardian des Franziskanerkonvents Luzern berufen (1824-1827). Eine Rückkehr nach Freiburg und eine vierte Amtszeit als Guardian in Freiburg (ab 1827) scheiterten im Jahr 1828. Dort hatte inzwischen der Jesuitenorden ein großes Pensionat für 400-480 Schüler eröffnet, an dem zum Großteil Söhne des royalistischen Adels aus Frankreich unterwiesen wurden. 







Späte Rückkehr nach Freiburg



Pater Girard blieb von 1828 bis 1834 als Professor der Philosophie in Luzern. Erst im fortgeschrittenen Alter von 69 Jahren kehrte er nach Freiburg zurück und widmete sich der Abfassung pädagogischer Schriften. Die Spannungen zwischen aufgeklärten und konservativen Katholiken blieben virulent, und es war für seine Anhänger eine große Genugtuung, als die Verdienste Girards endlich gewürdigt wurden. 1840 erhielt er den französischen Verdienstorden „Ritter der Ehrenlegion“, 1844 den mit 6.000 Franken dotierten Preis Montyon für sein Hauptwerk „De l’enseignement régulier de la langue maternelle“. 1845 wurde er zum korrespondierenden Mitglied der Französischen Akademie der Moralischen und Politischen Wissenschaften ernannt. 



Am 6. März 1850 starb Pater Gregor Girard mit 85 Jahren, 68 Jahre nach seiner Ordensprofess und 62 Jahre nach seiner Priesterweihe. Die damalige liberale Regierung richtete sein Begräbnis auf Staatskosten aus, sein 1860 in Freiburg errichtetes Bronzedenkmal wurde von Schweizern und internationalen Bewunderern finanziert. 



In Freiburg selbst hatten die heftigen Auseinandersetzungen seit 1823 (Ende der Schulen nach dem Konzept Girards) tiefe Spuren hinterlassen. 1847 wurden nach dem verlorenen Sonderbundskrieg das Kollegium und Pensionat der Jesuiten aufgelöst und die Gesellschaft Jesu in der Schweiz verboten. Die unmittelbaren Auseinandersetzungen über das Schulkonzept waren damit beendet, aber in katholischen Kreisen wie in seinem Konvent wurde in den kommenden Jahrzehnten über Pater Girard Stillschweigen gewahrt, um keine alten Wunden aufbrechen zu lassen. 







Postume Würdigung



Erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts änderte sich diese Einstellung. 1886 publizierte Pater Nicolas Raedlé (1820-1893) in der Freiburger Zeitschrift „Revue de la Suisse catholique“ eine Geschichte seines Konvents und reservierte fast die Hälfte des Textes seinen persönlichen Erinnerungen an Pater Girard, den er als junger Ordensbruder kennen und lieben gelernt hatte. Eine weitere Ehrung Girards war im Jahr 1890 der Auftrag an den Maler Georg Kaiser, für das Refektorium ein Porträt Girards in Halbfigur anzufertigen. Eine zweibändige Biographie zu Pater Girard erschien 1896 in Paris, verfasst vom liberalen Pädagogen Alexandre Daguet (1816-1894), der ebenfalls auf Jugenderinnerungen zurückgreifen konnte. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Gregor Girard schließlich auch in Freiburg neu entdeckt und gewürdigt. Als 1902 der Franziskaner-Konvent ein Pensionat für Schüler des Kollegiums St. Michael einrichtete, wurde diese Institution „Pensionat Père Girard“ genannt. Seither waren stets mehrere Patres im Dienste der Jugenderziehung tätig, sei es als Direktoren des Pensionats oder als Lehrer am kantonalen Gymnasium St. Michael. 1906 wurde für circa 100 Schüler ein Neubau an Stelle des Sommerrefektoriums errichtet. Pater Leon Veuthey widmete 1934 dem Erziehungskonzept von Gregor Girard eine große Untersuchung (Un grand éducateur: Le Père Girard). Das Hundert-Jahr-Jubiläum seines Todes im Jahr 1950 war der Anlass für Editionen seiner Schriften und neue Publikationen. 







Haus „Père Girard“ heute



Das „Pensionat Père Girard“ prägte die Geschichte des Freiburger Konvents bis 1969, als die verbesserten Verkehrsmöglichkeiten ein Pensionat überflüssig machten. Nach Zwischennutzungen während einiger Jahrzehnte begann 2013 die Renovierung der Konventsgebäude in Freiburg mit dem Umbau des alten Pensionats. Oktober 2014 konnten die neuen Mieter einziehen, und der Konvent freut sich, dass für das neue „Haus Père Girard“ Bewohner gefunden wurden, deren karitative und seelsorgerliche Aktivitäten den Intentionen von Pater Girard entsprechen. Ratsuchende, Besucher und Patienten des Freiburger Netzwerks für Abhängigkeitserkrankungen (Suchtberatung) und der Caritas Freiburg beleben erneut dieses geschichtsträchtige Gebäude, ebenso wie die Besucher des Büros der Deutschsprachigen Pfarreiseelsorge und die Praxis einer Augenärztin. Im Untergeschoss wurden Büros für die Konventsbibliothek sowie die Restaurierungswerkstatt des Franziskanerklosters eingerichtet. 







Jubiläumsjahr 2015



Im Jubiläumsjahr 2015 würdigen verschiedene Veranstaltungen in Freiburg Leben und Werk des berühmten Franziskaners. Neben einem Kolloquium und einem neuen Freizeit- und Lehrpfad (Pater-Girard-Weg) zählen dazu eine Ausstellung, die vom 19. Juni bis 26. September 2015 in der Kantons- und Universitätsbibliothek Freiburg (Rue Joseph-Piller 2) und im Untergeschoss des Franziskanerklosters Freiburg (Rue de Morat 8) gezeigt wird). 





Weitere Informationen zu den Veranstaltungen im Jubiläumsjahr findet man unter www.peregirard.ch, zum Franziskanerkloster Freiburg unter www.cordeliers.ch.


Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016