Rat oder Unrat?

01. Januar 1900

Lächelnde Menschen auf Umschlagseiten. Oft, nicht immer, kommen sie so daher, Aberdutzende von wöchentlichen Neuerscheinungen auf dem Ratgebermarkt: Menschen, die (nach der aufmerksamen Lektüre des betreffenden Werkes natürlich) jetzt “selber atmen” können, Motorräder reparieren, 200 Sorten Kaffee oder Tee unterscheiden, sich richtig hinsetzen, “ganz doll” Wasseradern auspendeln, Computer wiederbeleben, Bewerbungen schreiben, Parties organisieren, Feng-Shui-Wohnungen checken oder – ganz natürlich – in zwei Tagen 400 Kilo abnehmen können ...

Wohlfeil und banal. Die Liste ist endlos, die Bereiche ungezählt. Vermutlich gibt es keinen Lebensbereich mehr, der nicht von einem mehr oder weniger seriösen, so oft aber nur sehr banalen Ratgeber (zwischen zwei Buchdeckeln oder per Mausklick) aufgeschlüsselt und in handliche Regeln wiederverpackt würde. Was nicht heißen soll, die gesamte Produktion wäre nur Schrott, wäre nur banal.

Ignorierte Bestseller. Nein, es gibt genug Hilfreiches und Sinnvolles dabei. Doch um dies in dem ganzen Wust dann ausfindig zu machen, braucht es fast schon wieder – einen Ratgeber! Ein Satiriker bringt es auf den Punkt:

“Bei der massenhaft angebotenen Ratgeberliteratur ist der Rat meist nicht teuer, dafür aber auch nur gelegentlich gut. Was ursprünglich über spezielle Schwierigkeiten hinweghelfen sollte, hat solche Ausmaße angenommen, drängt sich einem so hartnäckig und unausweichlich auf, dass es inzwischen schon die Schwierigkeiten hervorruft, die es zu beseitigen verspricht. Dahinter versteckt sich die Erkenntnis:  Bewusstsein ist alles. Gegenüber diesem Rückkoppelungseffekt ist selbst die Ratgeberliteratur ratlos.”

Von dieser – in doppeltem Sinn treffenden – Verächtlichmachung bis zur Ignoranz des ganzen Komplexes ist kein weiter Weg. Man spricht es nur ungern aus, aber diese Wahrheit lässt sich kaum mehr leugnen: Die Käufer zieht es in Scharen zur Ratgeberliteratur. In den Umsatzbilanzen des Buchhandels stehen Ratgeber deutlich vor Belletristik- und Sachbuchtiteln. Die liebt das Feuilleton und nimmt sie wahr. Feuilletonistischer Geist lässt nur das rezensionswürdige Sachbuch als Sachbuch gelten. Verlässt man jedoch das Reich der Bildungsdistinktionen und Vorbehalte gegen die Kategorie, so sieht man mit stillem Grausen geliebte Titel aus Philosophie, Politik und Zeitgeschichte von Tipps zur Gesundheits- und Gartenpflege, zu Steuerersparnis oder zur Kinder-, Hunde- und Pferdehaltung dominiert und zugestellt.

Jahrzehntelang hat der Buchhandel, als kulturbeflissener Freund des klassischen “guten Buches”, die Umsatzpotenziale dieses Segments nicht voll ausgeschöpft. Da zwingt das eindringliche Klingeln der Ladenkasse zur Anerkennung eines anschwellenden Lesebedürfnisses. “Als andere Warengruppen Stillstand oder Rückgang verzeichneten, waren für die Ratgeber stolze Zuwachsraten zu melden. Ihr Anteil am Branchenumsatz stieg seit den späten achtziger Jahren bis 1998 auf das Doppelte – auf zwanzig Prozent”, schreibt Gerhard Beckmann in der Zeitschrift “BuchMarkt”. Für den Ex-Verleger und Fachjournalisten Beckmann erwächst daraus die Forderung, Ratgeber seriös zu behandeln.

Ideologie der Machbarkeit. Was steht oder steckt dahinter? Aufschlussreich ist es ja schon, dass Beckmann den jüngsten Aufschwung dieser Literatur mit den späten achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts beginnen lässt. Er fällt also mit der Wendezeit zusammen, mit dem Zusammenbruch gesellschaftlicher Großentwürfe und einer Phase verschärfter Individualisierung. Diese Koinzidenz ist auch plausibel. Wofür stehen Ratgeber, wenn nicht dafür, dass sich die Ideologien der Machbarkeit in den umgrenzten Bezirk des Individuellen verlagert haben?

Rasanter Wandel. Also Gesundheitspflege statt Gesellschaftspolitik als aktuelle Gestalt der Utopie? Jede Schraube in den eigenen vier Wänden tipptopp, auch wenn Gesellschaft, Politik oder Medien alle Schrauben locker haben?

Die Grundfrage, auf die die vielen Ratgeber eine Antwort sein wollen, ist die Grundfrage, die uns die sich rasant verändernden Lebensbedingungen stellen. Neues Wissen, neue Geräte, neue Möglichkeiten türmen sich täglich. Und unsere Auffassungsgabe kommt nicht mit. Handlungsunsicherheiten in komplexer Welt wachsen. Consulting, Coaching, Trainee-Programme explodieren. Die Begriffe braucht man nicht zu übersetzen. Im Kern laufen sie alle auf das Gleiche hinaus: Schnelligkeit ist Trumpf. Wer nicht mitkommt, braucht Rat, um Anschluss zu finden, an neue Trends, Moden, an neue Geräte und Fragen. Die Antworten von gestern modern bereits im Museum. Wissen und Kompetenzen (ein Zauberwort unserer Tage) setzen rapide Verfallsdaten an. Aber wir haben es nicht anders gewollt.

Wissen umfassend? Die Erfindung des Computers schließlich hat uns ein Superinstrument geschaffen. “Zeit und Raum sind gestern gestorben”, so diagnostiziert Filippo Tommaso Marinetti bereits 1909 in seinem “Manifest des Futurismus”. In Echtzeit sind wir jederzeit überall, und dies in einer neuen Realität, von der wir noch sagen, sie sei virtuell. Aber real bestimmt sie viele Lebensbereiche schon jetzt. Mitkommen wird zum Problem, zuhause, in der Gesellschaft, in Beruf und Freizeit.

Der Computer liefert vor allem Daten in nur noch mathematisch fassbarer Menge. Da reden wir schnell von “Wissen” und von “Wissensgesellschaft”. Plötzlich sehen wir: mit dem Wissen ist es wie mit der Zeit. Das Wissen, das die schöne neue Welt der Daten uns anbietet und das Wissen, das wir in unserem endlichen Leben verkraften können – sie sind auf dramatische Weise ungleich groß. Weltwissen und Lebenswissen klaffen auseinander.

Bildungsdebatte. Bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts gab es noch den Typus des Universalgelehrten. Den Menschen erschien es als ein vernünftiges, durchaus erreichbares Ideal, dass ein Einzelner umfassend gebildet sein könnte, das heißt, dass er alles weiß, was es zu wissen gibt. Seitdem die Menge des Wissbaren exponentiell gewachsen ist, beschäftigt Pädagogen und Bildungstheoretiker die Frage, wie die richtige Antwort auf diese neue Lage aussieht.

In Europa findet eine sehr grundsätzliche Debatte zum Thema Bildung statt. Viele Politiker haben die Bildung als Rohstoff für ein Land erkannt, das sonst keine Bodenschätze hat und waren sehr schockiert, als die Third International Mathematics and Science Study, kurz TIMSS-Studie, 1997 zum Vorschein brachte, dass unser Land in einem internationalen Vergleich in den naturwissenschaftlichen und mathematischen Fächern einen hinteren Rang einnahm. Und – 2001 schlägt PISA in die gleiche Kerbe.

In der Bildungsdebatte ist eine Metapher anzutreffen, die beim ersten Hören eindrucksvoll glitzert. Ich meine die Rede von der “Halbwertzeit des Wissens”, die angeblich immer kürzer wird, weil das Wissen angeblich immer schneller veraltet. Hier wird das Wissen mit Produktionszyklen verwechselt. Natürlich gibt es ein Wissen, das schnell veraltet. Zum Beispiel Gebrauchsanweisungen für Wegwerfgeräte, deskriptive Daten, die Prozesse beschreiben, die sich schnell wandeln, die Einwohnerzahl von Kairo, Telefonbücher. Aber wie schnell veraltet das kleine Einmaleins oder das periodische System der Elemente?

Zeitzeichen. Allemal Beachtung verdienen vor diesem Hintergrund Ratgeber als Phänomen. Ihr Boom setzt ein Zeichen. Wenn, wie die Soziologin Karin Knorr-Cetina meint, sich der Übergang von der Industriegesellschaft zur Wissenschaftsgesellschaft vor allem dadurch manifestiert, dass professionelles Wissen nicht länger Monopol der wissenschaftlichen Forschung ist, so hat diese Manifestation in Ratgebern ein augenfälliges Beispiel. Wer sie kauft, verlangt nach einem Expertenwissen, welches seinen Elitecharakter abgestreift hat und vermittelbar geworden ist.

Steil formuliert: Mit Ratgebern revanchiert sich die Lebenswelt für ihre Kolonisierung durch die Expertenkultur. Das Individuum nutzt.

Kind der Aufklärung. Ratgeber zur Selbstermächtigung. Statt als Patient allein auf Diagnose und Therapie des Experten, des Arztes, zu vertrauen und abhängig zu sein, konsultiert dieses Individuum ein “Kursbuch Gesundheit”, schlägt im Wälzer “Bittere Pillen” nach. Ratgeber sind Kinder der Aufklärung, nicht nur dem Geiste nach, sondern konkret historisch: Der größte Verkaufserfolg des Verlegers G. J. Göschen, das zuerst 1787 erschienene “Not- und Hilfsbüchlein für Bauersleute” aus der Feder des Pädagogen R. Z. Becker, war ein Ratgeber. Dazu gedacht, “den vornehmsten leiblichen und geistigen Nöten des Landmannes abzuhelfen”, breitete das Werk auf 800 Seiten moralische Grundsätze aus, gab praktische Winke, suchte dem Aberglauben zu wehren, behandelte Arbeitstechniken, erläuterte Wiederbelebungsversuche an erhängten, erfrorenen und vom Blitz getroffenen Personen. Beckers Buch ist ein Kosmos, ein Universalratgeber, mit dessen Themenspektrum man heute ein ganzes Verlagsprogramm gestalten würde.

Not des Halbwissens. Parallelen zwischen der wachsenden Nutzung von Ratgebern und der Heimwerker-Bewegung sind offenkundig. “Do it yourself!” Das Motto, mit dem Kunden vor Bücherregale und in Baumärkte gelockt werden, zielt in die gleiche Richtung. Aber so ganz geht die Gleichung nicht auf. Während eine Analyse des Baumarkt-Booms recht schnell das ökonomische Motiv als bestimmend erkennt – der Heimwerker will vor allem eines: sparen –, nimmt sich die Bedürfnislage des Ratgeber-Käufers doch um einiges komplexer aus. Eingespannt in die Dialektik des Halbwissens steht er da. Seine Not ist die des interessierten, medial wohl versorgten Zeitgenossen, der gerade deshalb, weil er kein Ignorant ist, das Ungenügen der ihm täglich zuströmenden Informationen empfindet. Er ist wissenschaftsgläubig, aber doch nicht vertrauensselig genug, um die Autorität der Experten einfach hinzunehmen. Stets weiß er, dass er zu wenig weiß. Das lässt ihn zum Ratgeber greifen. Halbwissen ist peinigender als Unwissenheit.

Selbstermächtigung? Wenn sie in der Absicht geschieht, dem Einzelnen eigene Handlungsmöglichkeiten nahe zu legen, in welchem Lebensbereich auch immer, dann hat diese Aufklärung sicher eine positive Funktion. Aber es gibt wenigstens eine Frage, die sich bei der Durchsicht vieler Ratgeberbücher stellt. Oft wird, hinter den Tipps und Informationen versteckt, auf ein simples Muster gezielt, das letztlich Tücken und Gefahren hat.

Technisches Menschenbild. Auf der einen Seite gilt strikt funktionalistisch und utilitaristisch das Prinzip von eindeutiger Ursache und Wirkung, von Berechenbarkeit und Machbarkeit. Ratgeber befiehl, wir folgen – bei der Behebung von Störungen, bei Zugewinn an Lebensqualität, bei der Optimierung von meinem Erfolg  – und Erfolg ist der einzige Maßstab. Schwierigkeiten und Fragen sind zu eliminieren. Diese Mentalität prägt und passt gut in eine zeitgeistige Umgebung, die auf dem kürzesten Weg ans Ziel gelangen will. Auf der anderen Seite gibt es aber genug Lebensbereiche, die nicht einfach nach einem technischen Modell und Menschenbild zu gestalten sind, sich einfachen, handlichen Regeln entziehen. Hier, exakt hier unterscheiden sich banale von seriösen Ratgebern, wirkliche Lebenshilfe von Scharlatanerie. Man mache die Probe aufs Exempel bei den vielen Ratgebern, die sich einem essentiellen Bereich des Menschseins widmen, dem Umgang miteinander, der Kommunikation.

Große Unsicherheit. Bei den vielen Titeln in diesem Umfeld wird es deutlich, ob es um bloße Manipulation des anderen geht oder die vielfältigen Fallen, Rückkoppelungen, Missverständnisse und Probleme, die auftauchen können, wenn zwei Menschen miteinander in Kontakt kommen.

Guter Rat teuer?  An der Stelle wird auch deutlich, dass Rat geben und Rat annehmen eine echte Kunst ist, dass das Bedürfnis nach gutem Rat, nach Lebenshilfe auf der offenen Skala von vielfältigen Lebensbereichen unter der Bedingung einer beschleunigten Gesellschaft nicht nur ein Randphänomen ist, dem man sich mal so nebenbei widmen könnte. Es trifft radikal die Befindlichkeit vieler Menschen im Großen und Kleinen, von Menschen, die ratlos vor sich selbst, vor anderen, vor einer schwierigen und spannenden Welt stehen, die kaum mehr zu überblicken ist. An der Stelle wird auch deutlich, dass die Fülle der Ratgeberliteratur dann doch auch noch auf Tieferes verweist: auf eine grundlegende Unsicherheit. Wohl dem, der bei einem leiblichen, gedruckten oder virtuellen Ratgeber auf etwas stößt, was diese Unsicherheit nicht ausnützt, sondern sie ernst nimmt und nicht einfache und billige Lösungen suggeriert.

Es ist kein Zufall, dass das biblische, vor allem das alttestamentliche Ethos der Weisheit und der Propheten, um dieses Thema weiß, es aufnimmt und integriert in sein Bild vom Menschen und von Gott. Es ist bezeichnend, dass der Prophet Jesaja hymnisch von einem göttlichen Erlöserkind reden und es als “großen Ratgeber” (Jes 9,5) bezeichnen kann und so den Wert von Rat und Ratgeber anzeigt:

“Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt. Die Herrschaft liegt auf seiner Schulter; man nennt ihn: Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens.”

Großer Ratgeber. Wir lesen diesen Vers vor allem in weihnachtlichen Zusammenhängen, aber es geht um Menschwerdung insgesamt. Sie hat mit dem Prozess zu tun, der Leben selbst ausmacht, als offene Kette von wechselseitigem Ratgeben und Ratnehmen. Das Buch der Weisheit bringt die Personifizierung der Weisheit gar als Lebensgefährtin (!) in den Blick (8,9): “So beschloss ich, sie als Lebensgefährtin heimzuführen; denn ich wusste, dass sie mir guten Rat gibt und Trost in Sorge und Leid.” Eine weitere Stimme unterstreicht diesen Tenor: “Ich, die Weisheit, verweile bei der Klugheit, ich entdecke Erkenntnis und guten Rat. Gottesfurcht verlangt, Böses zu hassen. Hochmut und Hoffart, schlechte Taten und einen verlogenen Mund hasse ich. Bei mir ist Rat und Hilfe; ich bin die Einsicht, bei mir ist Macht.” (Spr 8,12ff.).

Göttliche Sorge. Rat ist nicht Gebot, nicht Befehl, ist Einladung, in ihm drückt sich die Sorge um das Heil der Menschen in den großen und kleinen Dingen des alltäglich zu bewältigenden Lebens aus, eine göttliche Sorge, die nicht nach Maßgabe von Erfolg, Leistung oder Kompetenz verteilt wird, sondern das Ganze, oft so unübersichtliche Leben ausnimmt, umfasst und hält – ohne vordergründigebillige Tipps zu liefern, ohne andere zu instrumentalisieren oder zum Werkzeug für meinen persönlichen Erfolg zu machen ...

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016