Skeptiker menschlichen Treibens

01. Januar 1900

Narren sind alle, die es scheinen, und die Hälfte derer, die es nicht scheinen eine typische Sentenz aus der Feder des spanischen Schriftstellers Baltasar Gracián. Bei dieser nicht gerade hohen Meinung von einem Großteil der Menschheit verwundert es nicht, dass der Jesuit dem denkenden Menschen einen taktischen Leitfaden zur Behauptung gegen Unvernunft und Lüge der Welt an die Hand gab, sein berühmtes Handorakel der Weltklugheit.

Wie mag diesen Menschen wohl das Leben traktiert und gelehrt haben, dass er zu einem ausgesprochenen Querdenker und Skeptiker wurde? Am 8. Januar 1601 wird Baltasar Gracián († 6.12.1658) in Belmonte (Aragón) geboren. Nach einer kargen Kindheit wird er zu einem Onkel nach Toledo geschickt, einem der großen Zentren des Goldenen Zeitalters Spaniens. Mit 18 Jahren tritt Gracián als Novize in den Jesuitenorden ein, wird Priester, Ausbilder im Orden, Professor und ein vielbeachteter Prediger, ein mutiger, aber äußerlich nicht besonders auffälliger Mann: Klein, schmächtig, gebeugt vom vielen Lesen, kurzsichtig, ständig magenleidend.
Berühmtheit erlangt er als Schriftsteller. Seine Werke, Aphorismensammlungen, Romane, Schriften zur Lebenskunst veröffentlicht Gracián zumeist anonym. Im Zeitalter der Inquisition ist es selbst für einen Jesuiten ratsam, seine Querdenkereien nicht gleich mit der eigenen Person zu verbinden. Vor allem, wenn man dem Treiben von weltlichen und kirchlichen Mächten mit großen inneren Vorbehalten gegenübersteht. Und dafür gibt es zu Graciáns Zeit in Spanien guten Gründe.

Taktik? Damit ist man aber schon an einem der Kerne angelangt, die das Werk dieses großen spanischen Stilisten prägen. Die Machenschaften, Seilschaften und Machtschaften seiner Umwelt betrachtet er, durchschaut sie und rät seinen Lesern, es genauso zu halten. Das schlägt sich in einer Reihe von Schriften nieder: im großen dreibändigen Lebensweg-Roman El Criticon (1651), ebenso wie in dem vielleicht wirksamsten und nachhaltigsten Werk (von weltliterarischem Rang), dem Oraculo manual y Arte de Prudencia, dem Handorakel und Kunst der Weltklugheit (1647).

300 Sätze der Enttäuschung. Diese Handorakel versammelt 300 Minikapitel, Sätze und Sentenzen. Sie zeigen den Autor auf der Höhe seiner sprachlichen Kraft – und seiner Skepsis. Der Grundtenor ist schnell herauszuhören und verdankt sich genauer Beobachtung der Umwelt, des Treibens der mehr oder weniger Mächtigen, ihrer Spiele und Umtriebe. Gracián rät gegenüber diesen Machenschaften zur Kunst des desengaño. Das bedeutet schlicht und ergreifend Enttäuschung. Und hat dabei keinen frustrierenden Beigeschmack, sondern ist eine Taktik, die mit hoher Aufmerksamkeit und Durchblick zu tun hat. Ent-Täuschung ist der Ratschlag, sich nicht von den vielfältigen Täuschungen, Machtspielchen und Verhaltensweisen einer Umwelt irritieren zu lassen, die doch nur darauf aus ist, den Einzelnen zu vereinnahmen, zu missbrauchen, den einen gegen den anderen auszuspielen.
Die angestrebte Ent-Täuschung ist die Kunst, dieses Gehabe und Gebaren zu durchschauen und zu entziffern, sich davon nicht auf irgendwelche Leimruten führen zu lassen, mögen die auch noch zu verlockend ausschauen, Macht heißen oder Einfluss, Reichtum, Ruhm und Ehre – und all die anderen Götzen. Aber diese kritische Seite ist nur die eine. Gracián will andererseits die Ent-Täuschung, die Vermeidung, sich über den wahren, oft nicht so freundlichen Zustand der Welt zu täuschen, nicht um der bloßen Kritik selbst willen.

Ziel innere Freiheit. Er vermutet (sicherlich nicht ganz zu Unrecht), dass derjenige, der dieses weltliche Getriebe entziffert, durchschaut und erkennt, etwas weniger anfällig sein wird, in die vielen Fallen zu tappen, die gängigerweise ausgelegt werden. Es geht Gracián also um die eine innere Freiheit und Distanz gegenüber allen diesen Verlockungen, die den Menschen letztlich verbiegen und entfremden. Dass man sich damals nicht und heute auch nicht dem ganzen völlig entziehen kann, weiß Gracián durchaus. Er rät zu einer Taktik, sich zwar angenehmer und kontrollierter Umgangsweisen zu bedienen, aber eben nicht in diesen Umtrieben aufzugehen, sich an sie zu verlieren. Die innere Freiheit zu behalten, ist das Ziel. Manchmal muss man dafür Kompromisse schließen. Kompromisslos wird es leicht gefährlich und selbstbedrohlich. Lebenskunst und Weltklugheit sollen diese innere Unabhängigkeit schützen.
Es ist kein Wunder, das ein anderer großer Skeptiker des menschlichen Treibens, Arthur Schopenhauer, im 19. Jahrhundert, die bislang brillanteste und stimmigste Übersetzung dieses Werkes liefert (und sie ist nach wie vor lesens- und bedenkenswert!).

Skeptiker mit Rückhalt. Aber damit ist noch nicht alles gesagt. Franziskanische Grundstimmung würde wahrscheinlich nicht ganz so skeptisch sein gegenüber der Welt, würde eher das Gute, das Geschwisterliche an Welt, Umwelt und Schöpfung betonen, für Offenheit und Wohlwollen statt für Vorsicht plädieren. Aber es gibt doch einen schmalen (und unendlich wichtigen) Pfad, der vom spanische Jesuiten an den Machtzentren der damaligen Welt zum kleinen Bruder aus Assisi führt. Man mag sich verwundert die Augen reiben. Aber neben seinen weltklugen und taktisch-taktvollen Werken zur richtig verstandenen Ent-Täuschung schreibt dieser Jesuit auch ein kleine Werk, 1655 veröffentlicht (und bis ins 19. Jahrhundert immer wieder neu aufgelegt): das Comulgatorio. Es enthält fünfzig Kapitel zur – man staune und freue sich – Eucharistieverehrung. Leider gibt es diese Schrift noch immer nicht auf Deutsch, aber sie gibt einen Blick frei auf den Rückhalt, den ein so genialer, einsichtsvoller und schreibgewandter Skeptiker wie Gracián dann doch unverzichtbar hat. Die innere Freiheit und Standfestigkeit hat eben doch noch eine andere Wurzel. Und die bleibt. Und – die enttäuscht letztlich nicht.

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Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016