So nah und doch so fern

21. Februar 2014 | von

So mancher Leser dieser Reihe wird sich gelegentlich gefragt haben: Wie kommt der Autor eigentlich selbst klar mit seiner Familie? Aus welchen Erfahrungen schöpft er? Heute gibt er einen kleinen Einblick.



Es gab sie noch, die Zeit, und so lange ist das gar nicht her, da blieb man ein Leben lang in seinem Haus wohnen. Da blieb man bis ans Lebensende seiner Heimat treu. Da blieb man in seinem Beruf und meist auch an seinem Arbeitsplatz, bis ins Rentenalter. Die Menschen damals hatten „ihre Bleibe“, sie waren bodenständig und der Heimat verbunden – vor allem im Ruhrgebiet, meiner Heimat. Da wurde oft genug der Arbeitsplatz auf dem „Pütt“ oder auf der Hütte sogar „vererbt“, der Sohn trat die Nachfolge des Vaters an. Gleiches galt für das Handwerk und für das Geschäft. Der Verkehrskreis war sehr begrenzt. Der alte Bäcker in unserem Stadtteil rühmte sich damals, nie das Brot eines anderen Bäckers gegessen zu haben. Er war nie über seinen Heimatort Hattingen hinausgekommen.



DER HORIZONT WEITET SICH

Für meine Generation, die jetzt Siebzigjährigen, ist manches geblieben, aber vieles hat sich geändert. Geblieben sind meiner Frau und mir der sichere Beruf bis zur Pensionierung, wenn auch mit Arbeitsplatzwechsel; des weiteren unser Haus, in dem wir seit unserer Heirat leben, und unsere „Verortung“ im Wohnort mit einem großen Freundes- und Bekanntenkreis. Völlig geändert hat sich die Beschränkung auf die kleine Welt des Heimatortes. Wie viele unserer Generation, haben wir so manche Reisen in die große Welt unternehmen können, vor allem seit die Kinder aus dem Haus sind. Dankbar können wir feststellen: Noch nie ging es der Generation der sogenannten Ruheständler (fast ausnahmslos) so gut, was Gesundheit, Fitness, Reise- und Unternehmungslust und die Finanzen betrifft.



VERSPRENGTE FAMILIEN

Ein geradezu dramatischer Umbruch jedoch vollzieht sich heutzutage im Leben der nachwachsenden Generationen. Lebten früher noch viele Familien unter einem Dach oder zumindest in unmittelbarer Nachbarschaft, so nimmt der weltweite Anteil „versprengter Familien“ stark zu. Die moderne Mehrgenerationenfamilie mit Kindern, Eltern, (Ur)Großeltern lebt „multilokal“, d.h. an verschiedenen Orten, oft in großer Entfernung.

Unsere Familie ist dafür ein typisches Modell. Der Sohn wohnt mit Frau und Tochter östlich von Berlin, die eine Tochter mit Mann und zwei Söhnen zwischen Como und Mailand, die andere mit Mann und zwei Töchtern in Toulouse. Die beiden Töchter haben vor drei Jahren mit ihren Familien noch an verschiedenen Orten in der Schweiz gelebt. Wo sie zukünftig leben werden, ist völlig ungewiss. Wir hoffen, dass sie zumindest in Europa bleiben. Aber die beiden Männer sind in leitenden Funktionen tätig bei weltweiten Unternehmungen. Da sind Versetzungen nach einigen Jahren nichts Außergewöhnliches.



FAMILIÄRES NETZWERK

Für uns als Eltern und Großeltern war diese multilokale Entwicklung, zumindest in der ersten Phase, ein durchaus schmerzlicher Prozess. Wer hat nicht am liebsten seine Lieben in unmittelbarer Nähe wohnen?! Inzwischen können wir mit der geographischen Entfernung, die zwischen uns und unseren Kindern und Enkelkindern liegt, ganz gut umgehen. Denn wir machen immer wieder aufs neue die Erfahrung: So fern und doch so nah. Die Ferne, und mag sie noch so weit sein, schafft – so paradox es scheint – eine neue Nähe. Verbundenheit und Solidarität werden ganz neu erlebt. Das familiäre Netzwerk hält, und es hält uns zusammen, selbst über räumliche Distanzen. Wir erleben das ganz intensiv und ganz unmittelbar, wenn wir als gesamte Familie gelegentlich zusammenkommen, bei besonderen Gelegenheiten, zu runden Geburtstagen oder festlichen Anlässen. Da ist es schon bald „wie früher“.

Wie zu Weihnachten im letzten Jahr! Das war, weil eine solche Zusammenkunft nicht jedes Jahr gelingt, so etwas wie ein „familiäres Highlight“. Da waren im Haus alle Räume, alle Betten, alle Liegen, alle Matratzen belegt. Da rückten wir zusammen und genossen – bei allen chaotischen Verhältnissen und trotz ungewohnter Lautstärke – die Gemeinsamkeit beim Essen, beim Spielen, bei Ausflügen. Da war mal wieder „Leben in der Bude“.



DIE NOTWENDIGE BALANCE

Meine Frau und ich freuen uns immer wieder, wenn die Kinder und Enkelkinder kommen. Und wir freuen uns gleichfalls, bei allem Abschiedsschmerz, wenn sie wieder... Aber Wiedersehen ein paar Wochen später ist ja angesagt, wenn wir nacheinander die jungen Familien an den verschiedenen Orten besuchen. Noch können wir es.

Multilokales Familienleben schafft, mit dem (notwendigen) lokalen Abstand, ein Gleichgewicht zwischen dem Bedürfnis nach Nähe, Zuwendung, Solidarität und dem Streben nach Autonomie, Unabhängigkeit, Selbständigkeit. Jede Generation braucht ihr Eigenleben und ihre Eigenständigkeit, ohne darüber eigen, eigenartig oder gar eigensinnig zu werden. Notwendige Abgrenzungen sind zu respektieren und einzuhalten. Distanz muss nicht zur Distanzierung führen, wie manche befürchten. Im Gegenteil, Distanz kann auch zu neuer, oft unverhoffter Nähe führen: So weit und so fern, über tausende Kilometer, jedoch zu guter Letzt unsere Erfahrung: Und doch so nah!

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016