Spiritualität im Alltag oder wo Gott sich finden lässt

27. Mai 2014

Wenn von Spiritualität die Rede ist, denken viele an klösterliche Beschaulichkeit, an Abkehr von der Welt oder gar an mystische Ekstasen – und fühlen sich aufgrund solcher Vorstellungen hoffnungslos überfordert. Spiritualität aber ist nicht eine Sache für einige wenige religiös besonders begabte Menschen.



Eigentlich heißt sie ja Domenica. Aber alle nennen sie Mimma. Ihr Mann arbeitet als Kustode in einem großen Palazzo im Zentrum der Ewigen Stadt. Ein mit mir befreundeter Journalist besitzt dort eine Ferienwohnung, die häufig leer steht und die er mir manchmal für ein paar Urlaubstage zur Verfügung stellt. Unlängst bot sich mir wieder einmal die Gelegenheit, mich für eine Woche nach Rom abzusetzen.



FALSCHE BEWUNDERUNG

Anlässlich meines letzten Romaufenthalts begleite ich Mimma zur Kirche Sant’Ignazio. Dort hat der Perspektiven-Trickser An-drea Pozzo die flache Decke über der Vierung so bemalt, dass die Betrachtenden der Illusion erliegen, in eine Kuppel zu schauen. Aber nicht allein die falsche Kuppel, sondern auch die zahlreichen barocken Heiligenstatuen scheinen Mimma zu beeindrucken. Beim Verlassen der Kirche steht sie still und schaut mich an: „Weißt du, ich bewundere ja all diese vielen Heiligen. Aber wenn ich an meine Eltern denke ... Ihr ganzes Leben lang haben die sich abgerackert für ihre sechs Kinder. Gar nichts konnten sie sich gönnen. Und jetzt sind sie beide alt und krank. Findest du auch, dass sie nicht weniger heilig sind?“

Ich sage weder Ja noch Nein, sondern erzähle ihr eine Episode aus meiner Jugend. Damals wurde am Sonntag zwischen Weihnachten und Neujahr, am Fest der Heiligen Familie, jeweils ein bischöfliches Herdenschreiben mit Leitlinien für die christliche Familie verlesen. Mein Vater hat nach einer solchen Belehrung einmal bemerkt, sehr hilfreich sei ihm das nicht, was er da wieder vernommen habe; unsere unheilige Familie bestehe aus sieben Essern und dementsprechend vielen Problemen – da sei der heilige Josef noch ganz gut weggekommen im Vergleich.

„Dann stimmst du mir also zu?“, fragt Mimma. Ich darauf: „Certo. Und folge weiterhin deinem gesunden Menschenverstand!“



KLÖSTERLICHER LUXUSARTIKEL?

Warum ich diese Episode erzähle? Weil sie auf geradezu exem-plarische Weise zum Ausdruck bringt, wie weit in unseren Köpfen Spiritualität und Profanität auseinandergedriftet sind.

Da erinnern Heiligenstatuen in einer Kirche an die Tugendbolde im Reich Gottes – und bewirken bei abgehärmten Menschen, die nach verrichtetem Tagwerk zu müde sind, um sich auch nur auf ein halbes Vaterunser zu konzentrieren, ein schlechtes Gewissen. Da öffnen sich Abgründe zwischen Gott und Welt, zwischen Himmel und Erde, zwischen Seele und Leib, zwischen Geist und Materie. Dann, dies der Eindruck vieler, hat man nur die Wahl zwischen der einen oder der anderen Seite. Spiritualität gerät so zum Luxusartikel für jene, welche sich in die Einöde der Wüste oder in die Beschaulichkeit eines Klosters zurückgezogen haben. Die anderen, welche die schmutzige Alltagsarbeit erledigen müssen, können sich solche geistlichen Höhenflüge ganz einfach nicht leisten.



KEIN RÜCKZUG AUS DER WELT

Wer von Spiritualität spricht, meint damit im Grunde immer Erfahrungen geistig-geistlicher Art. Bewusst erfahren wir nur Dinge, von denen wir eine zumindest vage Vorstellung haben. Vermutlich gehen die meisten davon aus, dass es zweierlei Arten von Erfahrung gibt, nämlich solche religiöser Art, die etwas mit Gott und dem Glauben an ihn zu tun haben, und solche rein profaner Art, die aufgrund alltäglicher Erlebnisse zustande kommen.

Tatsächlich jedoch gibt es nicht zwei Arten von Erfahrung. Vielmehr gilt: In den weltlichen, alltäglichen, ganz und gar gewöhnlichen Ereignissen und Erlebnissen scheint etwas von jenem Sinn-Grund und Ur-Sinn durch, den wir Gott nennen – allerdings nur dann, wenn wir sie aus der Perspektive des Glaubens betrachten.

Ein alltägliches, geradezu banales Beispiel vermag das zu verdeutlichen. Wenn ich heute keinen Verkehrsunfall verursacht oder erlitten habe, dann eben auch deshalb, weil die Umstände entsprechend günstig waren. Außerdem habe ich mir während meines dreißigjährigen Aufenthalts im verkehrschaotischen Rom angewöhnt, nicht bloß auf die Verkehrsampeln, sondern auch auf die Straße zu blicken, bevor ich sie überquere.



WEM DANKEN FÜR DAS GLÜCK?

Und doch – es hätte auch etwas schiefgehen können. Höchstwahrscheinlich ist am heutigen Tag an manchen Orten einiges tatsächlich schiefgegangen; Details werden wir in den Spätnachrichten oder morgen früh aus der Zeitung erfahren. In den Medien ist tagtäglich von Menschen die Rede, die Pech gehabt, aber auch von solchen, die sogar im Pech noch Glück gehabt haben.

Was mich betrifft, empfinde ich es keineswegs als Selbstverständlichkeit, wenn ich am Ende eines Tages feststelle, dass ich mich wohlfühle und darüber hinaus auch noch guter Dinge bin. Dabei kann man es natürlich bewenden lassen. Oder aber, und es scheint mir dies der bessere Weg, weil er von der Oberfläche in die Tiefe führt, man kann dankbar sein. Dankbar gegenüber wem? Gegenüber dem Schicksal? Mir fällt da ein Wort des englischen Schriftstellers Gilbert Keith Chesterton ein: „Der ärgste Augenblick im Leben eines Atheisten ist der, wenn er das Gefühl hat, danken zu müssen, und er weiß nicht wem.“



AUCH LEID INS GEBET NEHMEN

Nun wäre es allerdings verfehlt, nur unsere positiven Erfahrungen durch die Linse des Glaubens zu betrachten. Wir haben ja nicht nur Grund, dankbar zu sein; vielmehr haben wir sehr oft Veranlassung aufzubegehren, uns zu empören oder zu hadern. Auch solche Erfahrungen müssen bedacht, verarbeitet und – im Wortsinn – ins Gebet genommen werden. Dafür finden sich gerade in den Psalmen zahlreiche Zeugnisse. Dass es dabei zuweilen hart auf hart zugeht, dies können wir unter anderem dem 44. Psalm entnehmen.



Doch nun hast du, Gott,

uns verstoßen und mit Schmach bedeckt.

Du lässt uns vor unsern Bedrängern fliehen,

und Menschen, die uns hassen, plündern uns aus.

Du gibst uns preis wie Schlachtvieh,

unter die Völker zerstreust du uns.

Du verkaufst dein Volk um einen Spottbatzen

und hast an dem Erlös doch selber keinerlei Gewinn.

Du machst uns zum Schimpf für die Nachbarn,

zu Spott und Hohn bei allen, die rings um uns wohnen.

Du machst uns zum Spottlied der Völker,

die Heiden zeigen uns nichts als Verachtung.

Du hast uns verstoßen an den Ort der Schakale

und uns bedeckt mit Finsternis.

Um deinetwillen werden wir getötet Tag für Tag,

behandelt wie Schafe, die man zum Schlachten bestimmt hat.


(Verse 10-15; 20; 23)



Und dann, zum Schluss erst, der verzweifelte Ruf:



Wach auf! Warum schläfst du, Herr?

Erwache, verstoß uns nicht für immer!

Warum verbirgst du dein Gesicht,

vergisst unsere Not und Bedrängnis?

Unsere Seele ist in den Staub hinabgebeugt,

unser Leib liegt am Boden.

Steh auf und hilf uns!

In deiner Huld erlöse uns!


(Verse 24-27)



ERGEBENHEIT UND AUFBEGEHREN

Hier zeigt sich, dass echte, tiefe Spiritualität sich eben nicht nur in der Ergebenheit, sondern auch im Aufbegehren äußert und dass auch das Aufmucken zu einem lebendigen Glauben gehört. Wenn zutrifft, was ein Thomas von Aquin lehrt, dass die Gnade auf der Natur aufbaut, treten die psychologischen Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten bei gläubigen Menschen nicht einfach außer Kraft, wenn sie schlimme Erfahrungen zu verkraften haben. Ob und wie diese zuerst einmal aufgearbeitet werden, ist keine Neben-Sache, sondern ein wesentlicher Teil einer gesunden Spiritualität. Dazu gehören Feiern und Fasten, Lieben und Leiden. Aber auch Jubeln und Jammern.

Spiritualität hat demnach ihren Platz nicht bloß im Kirchenraum und an Feiertagen, noch darf sie sich auf das rein Individuelle beschränken, weil sie sonst unweigerlich zum Pietismus verkümmert. Spiritualität ist dann echt, wenn sie sich auch im öffentlichen, im gesellschaftlichen und im politischen Bereich auswirkt. Deutlich und drastisch formuliert: Das Reich Gottes ist nicht indifferent gegenüber den Welthandelspreisen.



SENSIBILITÄT PLUS EMPATHIE

Spiritualität ist nicht eine Lebensform, welche aus geistlichen Höhenflügen besteht, die in Ekstasen und Erweckungserlebnissen gipfelt. Spiritualität muss sich angesichts der Banalitäten unseres Alltags bewähren. Konkret bedeutet das: Wir sehen, dass Menschen lachen und dass andere leiden. Wir freuen uns über unsere Erfolge und – hoffentlich auch – über die Leistungen der anderen. Wir fürchten uns vor Bedrohungen. Wir erzählen von unseren Hoffnungen. Und wir verleihen unserer Empörung Ausdruck, wenn etwas zum Himmel stinkt.

Was also ist Spiritualität? Spiritualität ist Sensibilität plus Empathie. Christliche Spiritualität (es gibt ja auch nichtchristliche

Spiritualitäten!) definiert Sensibilität und Empathie im Hinblick auf das Evangelium Jesu. Sensibilität hat in diesem Zusammenhang nichts mit Weinerlichkeit, sondern mit Wahrnehmung zu tun. Öffnet eure Augen! Wendet den Blick nicht ab! Und Empathie bedeutet: Sucht euch in die Lage der Menschen zu versetzen, insbesondere der Notleidenden!



HINSCHAUEN UND ZUPACKEN

Damit ist der Fluchtweg in die reine Innerlichkeit verbaut. Aus der Aufforderung ‚Seht zu!‘ ergibt sich ganz selbstverständlich eine zweite: ‚Packt an!‘. Das meint Spiritualität im Sinne Jesu. Was Nächstenliebe ist, weiß nicht schon, wer sie bloß predigt, sondern nur wer sie praktiziert.

Christliche Spiritualität ist eine sehr nüchterne Sache. Sie lebt davon, dass die Gläubigen sich nicht darauf beschränken, wie Jesus zu denken und zu reden, sondern sich gleichzeitig bemühen, so zu handeln, wie er gehandelt hat.

Christliche Spiritualität beinhaltet sehr verschiedene Akzentuierungen. Es zeigt uns dies schon die von allen als selbstverständlich empfundene Tatsache, dass die einzelnen kirchlichen Orden unterschiedliche Prägungen aufweisen, was sich wiederum auf die jeweiligen Frömmigkeitsformen auswirkt – die ja ihrerseits in je der spezifischen Spiritualität ihrer Gründer wurzeln.



ERFAHRUNG DES GEISTES

Was Spiritualität ist und wie sie gelebt wird, erläutert Karl Rahner in einem seiner schönsten und tiefsten Texte, den er mit „Erfahrung des Geistes“ überschrieben hat:

„Jeder Mensch macht in seinem Leben die Erfahrung des Geistes, der Freiheit und der Gnade. Denn jeder Mensch macht sie je nach der eigenen geschichtlichen und individuellen Situation seines je einmaligen Lebens. Jeder Mensch! Nur muss er sie vorlassen, gleichsam ausgraben unter dem Schutt des Alltagsbetriebs.

- Wo die eine und ganze Hoffnung über alle Einzelhoffnungen hinaus gegeben ist, die alle Aufschwünge, aber auch alle Abstürze sanft in schweigender Verheißung umfängt,

- wo eine Verantwortung in Freiheit auch dort noch angenommen und durchgetragen wird, wo sie keinen angebbaren Ausweis an Erfolg und Nutzen mehr hat,

- wo der Sturz in die Finsternis des Todes gelassen angenommen wird als Aufgang unbegreiflicher Verheißung,

- wo die bruchstückhafte Erfahrung von Liebe, Schönheit, Freude als Verheißung von Liebe, Schönheit, Freude schlechthin erlebt und angenommen wird, ohne in einem letzten zynischen Skeptizismus als billiger Trost vor der letzten Trostlosigkeit verstanden zu werden,

- wo der Mensch alle seine Erkenntnisse und alle seine Fragen dem schweigenden und alles bergenden Geheimnis anvertraut, das mehr geliebt wird als alle unsere uns zu kleinen Herren machenden Erkenntnisse,

- wo ... (man könnte noch lange weiterfahren), – da ist Gott und seine befreiende Gnade. Da erfahren wir, was wir den Heiligen Geist Gottes nennen. Da ist die Mystik des Alltags, das Gottfinden in allen Dingen. Da ist die nüchterne Trunkenheit des Geistes, von der die Kirchenväter und die alte Liturgie sprechen, die wir nicht ablehnen oder verachten dürfen, weil sie nüchtern ist.“



Um es mit einem Wort zu sagen: Gott ist überall wirksam. Und deshalb können wir seine Fußspuren und Fingerabdrücke überall wahrnehmen. Aber dazu benötigen wir das Vergrößerungsglas des Glaubens.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016