Trauer und Hoffnung

21. Februar 2014 | von

An einem Sonntag im Mai 2012, einem strahlenden Frühlingstag, starb meine Mutter in den Armen ihrer beiden Kinder. Ich spürte: In einem kurzen Augenblick hatte sich mein ganzes Leben verändert. Eine tiefe, ungekannte Trauer stieg in mir auf. Die Zuversicht, dass der Tod nicht das Ende ist, verließ mich auch in diesem Augenblick nicht. Aber gleichzeitig verspürten mein Bruder und ich auf das Schmerzlichste einen unwiderruflichen Verlust, wie wir ihn bisher noch nicht erlebt hatten.



Der Verlust ist seit jeher in jedem menschlichen Dasein unvermeidlich. Wir müssen uns trennen von Angehörigen, Freunden, vielleicht von der Arbeit oder der Heimat. Und auch Jugend, Ideale und Ansehen währen nicht ewig. Psychologen suchen herauszufinden, was uns nach Verlusterfahrungen resilient macht, d.h. seelische Widerstandskraft aktiviert.



DIE ZEIT BLEIBT STEHEN

Freunde aus Norwegen hatten bei einem Unfall ihre Kinder verloren. Im Jahr nach dem Unglück trafen sich die Eltern regelmäßig. Die Frauen setzten sich zusammen, um über ihren Schmerz zu sprechen und zu weinen. Die Väter hingegen gingen angeln. Stundenlang saßen sie am Flussufer und schwiegen. Das Wissen um den gemeinsamen Verlust einte sie auch ohne Worte und spendete Trost.

Nach einem starken Verlust scheint es zunächst, dass die Zeit stehen bleibt. Die Menschen im sozialen Umfeld signalisieren Nähe, hören zu, wenn wieder und wieder über den erlittenen Schmerz gesprochen wird. Aber irgendwann läuft sozusagen das „soziale Verfallsdatum“ ab. Freunde und Bekannte kehren in ihr tägliches Leben zurück. Der Trauernde hingegen hat seinen Verlust bisher nicht verarbeitet und fühlt sich allein. Er leidet vielleicht darunter, dass er der Normalität des Alltags noch nicht gewachsen ist.



SPIRALE DER TRAUER

Trauer ist eine Stressreaktion. Sie ist nicht statisch und kommt „wellenförmig“ immer wieder. Psychologen erklären, dass der Trauernde seinem Schmerz im Laufe der Zeit stets neu begegnet. Er bewegt sich wie in einer Spirale nach oben. Jeder Moment von Traurigkeit ist ein sich erneutes Auseinandersetzen mit dem Verlust auf einer „höheren“ Ebene.

So gibt es keinen Rückfall, sondern nur Schritte nach vorn, um aus dem Dunkel der Spirale zum Licht, zur Normalität des Lebens zurückzukommen. Selbst das Weinen hat in dieser Zeit einen besonderen therapeutischen Effekt. Während der Trauerphase sollen Tränen eine andere chemische, extrem beruhigende Zusammensetzung haben.

Die Trauma- und Resilienzforschung der letzten Jahre belegt eindrucksvoll, dass es nicht so sehr eine Charakter- oder innere Stärke ist, die bestimmten Personen hilft, Schicksalsschläge besser zu verarbeiten als andere. Im Trauerprozess spielt die soziale und kommunikative Kompetenz eine entscheidende Rolle, d.h. die Fähigkeit, sich Trost und Hilfe bei anderen Menschen zu suchen und über das Trauma sprechen zu können.



RESPEKT VOR TRAUERNDEN

Um ein angemessenes Feedback zu erhalten, muss der Trauernde jedoch wissen, zu wem er geht. Er benötigt kompetente Gesprächspartner, die seine schmerzliche Erfahrung anerkennen, ihn als „Leidtragenden“ – im wahrsten Sinne des Wortes – respektieren, die ihm zuhören bzw. die verborgene, oft nicht artikulierte Leidens- und Trauererfahrung in Worte zu fassen wissen, damit sie neu bewusst wird und bearbeitet werden kann. Nur so erfährt das vorübergehend verletzte Selbst- und Weltvertrauen Heilung und Bestärkung.

Und je eher dies gelingt, desto besser. Denn sonst holt diese Menschen ihre Trauer wieder ein. Wenn wir der Trauer direkt nach dem Verlust keinen Raum geben, wird sie uns später ereilen, auch noch nach Jahrzehnten.



TOD IST LEBENSERFAHRUNG

Meine Mutter hat mir in ihrer Todesstunde am 20. Mai etwas Entscheidendes gezeigt. Sie hatte stets für andere gelebt – mit Großzügigkeit, in einer Haltung unbedingter Hingabe, die das Eigene zurückzustellen bereit war. Sie lebte für ihren Mann, für ihre Kinder, für einen großen Freundes- und Bekanntenkreis. Und wie sie gelebt hatte, so starb sie.

Ihr Glaube war ihr dabei eine wesentliche Stütze: „Wir sind aus dem Tod in das Leben hinübergegangen, weil wir die Brüder (und Schwestern) lieben“ (1 Joh 3,14). Für den Glaubenden hat der Tod nicht das letzte Wort. Tod bedeutet Geburt zu einem neuen, unvergänglichen Leben, Tod bedeutet Auferstehung, also: Vollendung des Menschen in Gott.

Noch im Tod schenkte unsere Mutter uns, ihren Kindern, die Erfahrung ihres Lebens, ihre Hoffnung und Zuversicht, die Liebe, mit der sie uns ein Leben lang begleitet hatte. Unvergessen bleibt jener dramatische Augenblick, da sie – noch bei vollem Bewusstsein – Abschied nahm von uns mit den Worten, die in dieser Intensität und Nachhaltigkeit vielleicht auch nur eine Mutter sagen kann: „Bleibt einander geschwisterlich verbunden!“



SICH WIEDER ÖFFNEN

Wenn also ihr Leben ein für uns gelebtes Leben war, dann hat sie dieses Leben mir und meinem Bruder auch in ihrem Sterben aufgetragen. Diese Worte haben mich zu einer zuvor ungekannten Freiheit geführt: nicht bei der Trauer stehen zu bleiben, sondern mich neu aufzuschließen für die Begegnung mit anderen, um mich wieder behutsam und tiefer der Begegnung und Gemeinschaft mit anderen Menschen auszusetzen.

Trauer aber braucht Zeit. Und diese Zeit nehme ich mir. Doch ich glaube fest daran, dass ich auf diesem Weg, der vor mir liegt, geführt werde – nicht zuletzt von jenen letzten Worten meiner Mutter, die mir von nun an wohl immer auf geheimnisvolle Weise nahe sein wird.







Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016