Überlebt - dank Schreibmaschine und Schauspiel

01. Januar 1900 | von

Ich halte dieses Leben nicht mehr aus und werde mich erschießen. Aber ich werde es nicht in irgendeinem Kellerloch tun, sondern ich werde dafür auf den Roten Platz im Zentrum Moskaus gehen. Möge das ganze Volk von meinen Staatsverbrechen erfahren.Eine Reaktion von Seiten des Staates hat die Jüdin Dora Vladimirovna, heute 84 Jahre alt, auf diese Worte, die sie in einem Brief an Stalin schrieb, nie erhalten.
Aufgrund der Arbeit ihres Vaters, der Anfang des 20. Jahrhunderts in die Schweiz gegangen war, wurde sie in Bern geboren und verbrachte ihre frühe Kindheit in Genf. Bis heute ist das kleine Madchen von damals, 'la gamine de Plainplais' in mir wach. Ich kann einfach die glücklichen Momente nicht vergessen, wenn der Gendarm uns aus Dank feierlich die Hand drückte, weil wir ihm einen Schlüssel, eine Brosche oder sogar ein Portemonnaie ablieferten, Dinge, die wir beim Spielen im Heu gefunden hatten. Für uns wäre es eine Schande gewesen, diese Dinge zu behalten. Wir hatten viel Respekt vor dem Eigentum anderer
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Juden unter Stalin. Die Erziehung Doras und ihrer drei Geschwister basierte auf soliden humanen und moralischen Prinzipien. Die Familie wurde in ihren Dokumenten als Juden geführt, aber die Eltern hatten keine Beziehung zur Religion.
Seit jeher nahmen die Juden unter den Nationalitäten der Sowjetunion eine Sonderstellung ein. Ihnen fehlten zum großen Teil die Merkmale, die auch Stalin für eine Nation als unabdingbar definierte: Gemeinsamkeit der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der Kultur. Dora litt wie ihre ganze Familie unter Angst und Verfolgung, ihr Vater und ihre Brüder wurden Opfer des grausamen Stalinregimes, ihr Eigentum wurde konfisziert und sie - als Tochter eines Staatsfeindes - hatte keine Möglichkeit, eine ihr entsprechende Ausbildung zu bekommen.
Von klein auf verspürte Dora eine große Neigung zur Kunst und zum Theater. Ende der 30er Jahre arbeitete sie im Sekretariat der Theaterakademie und studierte heimlich Dramaturgie. In diesem Ambiente lernte sie einen jungen Usbeken kennen, der sie gerne geheiratet hätte. Aber Dora fürchtete die Formalitäten bei den Behörden, denn kurz vorher hatte man den Ehemann ihrer Schwester, einen Kirgisen, verhaftet.

Unvergängliche Werte. Heute lebt sie allein. Oft sagt sie, dass es wie ein Wunder sei, dass sie noch lebt. Ihre Freunde sind tot und nur wenige der jungen Leute interessiert die Geschichte, die sie zu erzählen hat. Dora ist Vertreterin einer Generation, die ohne Religion, ohne Gott lebte. Sie hat überlebt, weil ihr Werte wie Ehrlichkeit, Noblesse und Standhaftigkeit in die Wiege gelegt wurden. Sie selbst sagt: Mein Ideal und meine Religion ist immer die Kunst gewesen. Viele Menschen glauben an Gott und finden in ihm Trost. Ich habe meine Kunst, die mich in allen schweren Situationen gerettet hat. Das wirklich Künstlerische ist unvergänglich, wie Gott.Bei diesen Worten schaut ihr la gamine de Plainpalais, das kleine Madchen aus der Schweiz des beginnenden 20. Jahrhunderts, wieder aus den Augen, dieses Mal mit der Reife und Schönheit einer lebens- und leidgeprüften Frau.

INTERVIEW MIT DORA VLADIMIROVNA PRUSS

Sie leben heute in Moskau, aber von Geburt sind Sie Schweizerin...
Das ist eine lange Geschichte, die noch in das letzte Jahrhundert zurückreicht. Als Russland 1904 mit Japan in den Krieg trat, hatte mein Vater, wie viele andere seiner Altersgenossen, dagegen protestiert und war so, wie alle die frei ihre Meinung sagen wollten, ins Gefängnis gekommen. Seine Rettung war, dass unserem Zaren ein Sohn geboren wurde, und in Russland wurde bei der Geburt des Thronfolgers im ganzen Land eine Generalamnestie erlassen. So kam auch mein Vater frei.
Er war ein tüchtiger Handwerker und hatte Uhrmacher gelernt. Nach seiner Freilassung ist er in die Schweiz gegangen und hat sich dort eine Existenz aufgebaut. Dann ist seine Braut, meine Mutter, aus Russland nachgekommen, und wir vier Geschwister, zwei Jungen und zwei Mädchen, wurden alle in der Schweiz geboren. Ich bin die Jüngste.

In Ihren Dokumenten steht, dass sie Jüdin sind. Wie stehen Sie zu Ihrer Religion?
Meine Familie hat jüdische Wurzeln, zu Hause sprachen wir neben Franzosisch und Deutsch auch Jiddisch. In der Schweiz hatten wir Kontakt mit der jüdischen Gemeinde, zusammen feierten wir die religiösen Feste mit Konzerten und Theateraufführungen. Ich erinnere mich besonders gerne an das Purim-Fest, zu dem alle ihre schönsten Kleider anlegten und die Mädchen in ihren farbenfrohen Gewändern so festlich aussahen. Ich erinnere mich jedoch nicht daran, dass wir religiös aktiv gewesen wären

Sie sind mit Ihrer Familie dann nach Moskau gekommen. Wie war das? Haben Sie schöne Erinnerungen an diese Zeit?
Der Traum meines Vaters war es seit jeher, in Russland eine Uhrenfabrik zu eröffnen. 1925 kamen wir mit dem Schiff über Petersburg nach Russland und siedelten uns in Tarasovka bei Moskau an. Ich erinnere mich an diese Zeit als eine Zeit der absoluten Traurigkeit. Da ich kein Russisch konnte, sprach ich nur mit den Hunden und Katzen, in der Schule versuchte eine geduldige Lehrerin, mir das kyrillische Alphabet beizubringen, aber das interessierte mich zunächst nicht. Ich hatte Sehnsucht nach meinen Schweizer Bergen. Bis heute habe ich eine traumatische Erinnerung an diesen Lebensabschnitt.

Es gab dann eine tragische Wende in Ihrem Leben...
Mein Vater hatte in Tarasovka an einer Schule unterrichtet, die Jungen im Uhrmacherhandwerk ausbildete. Nach einigen Jahren gelang ihm der Sprung nach Moskau, er eröffnete eine Uhrenfabrik und wollte ganz nach oben kommen. Er lud 40 deutsche Spezialisten zu einem Erfahrungsaustausch und zu einem gemeinsamen Projekt ein, das anfangs sehr gut lief. Völlig unerwartet wurde eines Tages einer der Deutschen, der mit seiner ganzen Familie nach Russland gekommen war, verhaftet. Kurz darauf nahm man auch meinen Vater fest, er wurde als Vaterlandsverräter verurteilt und bis heute weiß ich nicht, wann, wo und wie er gestorben ist. Ich denke, dass er in einem Lager in Sibirien umgekommen ist.
Ich blieb mit meiner Mutter allein, denn auch meine Brüder galten als vermisst. Gerne wäre ich zum Theater gegangen, mich faszinierte die Welt der Bühne und ich glaubte, Talent zu haben, denn auch meine Mutter hatte Schauspielerblut in den Adern. Bei den Aufführungen der jüdischen Gemeinde in Bern und Genf war sie in tragischen Rollen offensichtlich sehr überzeugend gewesen.
Aber mein Vater, Handwerker durch und durch, hatte mir sehr ans Herz gelegt, eine praktische Ausbildung zu machen, um im Notfall überleben zu können. So lernte ich Schreibmaschine schreiben, das, wie sich später herausstellen sollte, eine lebensrettende Entscheidung war.
Als meine Mutter 1952 nach langer qualvoller Krankheit starb, bekam ich – wahrscheinlich vor Überanstrengung nach der schweren Zeit – ein Nervenfieber, bei dem ich fast mein ganzes Augenlicht verlor. Ich war damals 35 Jahre alt.

Wir haben Sie kennen gelernt, als Sie in einer Komunalka (staatliche Wohnung, in der mehrere Familien untergebracht waren, Anm. d. Red.) lebten. Wie haben Sie sich allein durchgeschlagen?
Die 4-Zimmer-Wohnung lag im Zentrum Moskaus, in der Nahe der Tretjakovskaja Galerie. Ich hatte ein Zimmer, in den anderen drei wohnten die unterschiedlichsten Menschen, meistens Männer mit Alkoholproblemen. Küche und Bad benutzten wir gemeinsam und nach dem Kochen musste ich meinen Topf mit einem Schloss sichern, bevor ich ihn in mein Fach im Kühlschrank stellte. Ich erinnere mich besonders an eine Mitmieterin mit Hund, die regelmäßig, wenn ich im Bad war, ihren Hund dort unter der Dusche waschen wollte oder an die betrunkenen Nachbarn, die nachts vor meiner Tür randalierten. Es war alles sehr unangenehm, aber in Russland sind wir das gewohnt.
In der staatlichen Organisation für Blinde fand ich dann dank meiner Schreibmaschinenkenntnisse Arbeit. Gut 25 Jahre habe ich unterrichtet, Texte nach Diktat geschrieben und fühlte mich trotz meiner Behinderung ausgefüllt.

Wie leben Sie heute? Was macht Ihnen Freude?
Vor fünf Jahren, 1996, bekam ich vom Staat endlich eine eigene Wohnung. Ich war damals bereits 79 Jahre. 1998 wurde ich auch ans Telefonnetz angeschlossen, und so kann ich nun zumindest telefonieren, denn für große Unternehmungen wohne ich zu weit außerhalb der Stadt. Ich höre viel Musik und die Blindenorganisation hilft mir, Literatur in der Blindenschrift Braille oder auf Audiokassetten zu finden.
Mein Leben war sehr schwer. Eine der wenigen Freuden, die ich je hatte, ist meine eigene Wohnung und dann die Menschen, die sich auch heute für mich und mein Leben interessieren.

 
Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016