Unstillbare Sehnsucht nach der Ewigen Stadt

01. Januar 1900 | von

Alle Wege führen nach Rom, und wer einmal dort war, sagt der Schriftsteller Werner Bergengruen, und sei es auch nur für eine kurze Zeit, hat in Jahrhunderten und in Jahrtausenden gelebt.  

Geheimnisvoll geschichtsträchtig. Tatsächlich, wer Rom sagt, meint nicht nur das heilige oder das ewige Rom, sondern denkt gleichzeitig auch an die antike, heidnische und frühchristliche Zeit zurück, an die mittelalterliche Stadt auch und damit an das saeculum obscurum, jenes düstere Jahrhundert um die Jahrtausendwende, und sieht vor seinem Auge farbenprächtige Prozessionen vorüberziehen, aber auch die Pest und die Cholera, die beide vor der Ewigen Stadt keinen Respekt kannten, und meint außerdem die moderne Großstadt mit ihren über drei Millionen Einwohnern, mit ihren Schänken und Trattorien und der Via Condotti, wo die Dame von Welt und der Herr mit Scheckheft alles finden, was das Herz begehrt und dieses doch nicht auszufüllen vermag; und nicht zuletzt weiß, wer Rom sagt, dass es keine Epoche gibt, in der Sage und Legende und Geschichte sich in dieser Stadt nicht miteinander verbunden, gar verbündet haben, weswegen ihr schon allein deshalb etwas Rätselhaftes und Geheimnisvolles eignet; wer Rom sagt –  jetzt hält es meinen langen Satz nicht länger; laut und eindringlich schreit er nach einem Punkt.

Glanzvoll und dämonisch. Die Urbs, einst Mittelpunkt eines von Götterdienern und dann wieder von Agnostikern und häufig auch von Frevlern beherrschten Weltreiches, entwickelte sich, kaum dass Kaiser Konstantin im Jahre 313 in Mailand dem ganzen Reich die Religionsfreiheit gewährt hatte, schnell zum Zentrum einer wachsenden, wenn auch längst nicht immer wachsamen Christenheit. Indessen lag über dieser Stadt noch in ihren dunkelsten Zeiten ein geheimnisvoller Glanz von Erhabenheit. Und doch hat man immer wieder das Gefühl, dass einem aus den alten Gassen und dunklen Winkeln gelegentlich der Pesthauch des Dämonischen entgegenweht. Geschichte und Sage, aber auch das Mysteriöse und das Monströse sind in Rom aufs Engste miteinander verflochten.

Tullias Frevel. Gerät man beim Anblick von Michelangelos Moses in San Pietro in Vincoli in Ekstase, erfasst einen ein unerklärliches Schaudern, kaum dass man die Kirche verlassen hat. Man geht ein paar Schritte nach rechts und schon steht man vor dem Bogengang des berüchtigten vicus sceleratus, der Frevlergasse (heute Via Santa Francesco di Paola), die im alten Rom niemand betrat, ohne die Götter anzurufen. Hier wurde im 6. Jahrhundert v. Chr. der weise König Servius Tullius auf Veranlassung seiner Tochter Tullia von Mörderhand umgebracht; auf diese Weise hoffte die Prinzessin ihren Mann, den Etrusker Tarquinius, auf den Thron zu hieven. Als Tullia wenig später am Ort des Verbrechens vorbeifuhr, hielt der Kutscher beim Anblick der Leiche die Pferde an. Aber die Ruchlose befahl, über den Toten hinweg zu fahren; dabei wurde sie mit dem Blut ihres ermordeten Vaters bespritzt. Nur wenige Jahre nach dieser Untat, im Jahre 510 v. Chr., zwang das Volk Tarquinius und seine Gemahlin, Rom zu verlassen, und rief die Republik aus.
Nach der Zeitenwende gesellten sich in Rom zu den heidnischen Sagen die christlichen Legenden, und nicht selten geschah es, dass eine Geschichte, in der früher die eine oder andere Gottheit Regie führte, nun plötzlich einen Engel oder einen Heiligen zum Protagonisten hatte – was wiederum daran erinnert, dass später so mancher römische Tempel in eine christliche Kirche umgewandelt wurde.

Dissonanzen. Wohl keine europäische Metropole vereinigt so viele Gegensätze und Widersprüche in sich wie Rom. Darauf hat sich schon der Barockdichter Andreas Gryphius einen Reim gemacht, als er, gerade dreißig Jahre alt, 1646 die Ewige Stadt besuchte: Rom ist das Haupt der Welt / voll Witz wie ich befinde / Voll Weißheit / voll Verstand / doch auch voll Läuß und Grinde.
Derartige Dissonanzen prägen auch den heutigen Alltag. Dass die Spaghetti nicht windelweich sein dürfen wie das Herz einer reumütigen Sünderin, sondern al dente gegessen werden, ist für jede Römerin eine Prestige- und für jeden Römer eine Existenzfrage. Aber kaum jemand kann sagen, warum die Eisenbahner schon wieder für volle zwei Tage die Arbeit niedergelegt haben. Der Ausdruck sciopero, Streik, ist den Kindern vertraut, noch bevor sie Buongiorno sagen können. Bald streikt die Post und bald die Lehrerschaft, bald verordnen die Gewerkschaften den Angestellten der öffentlichen Verkehrsmittel einen Ruhetag. Kurzum, es vergeht keine Woche ohne Arbeitskampf.  Die Schuld daran trägt nach Meinung der Römer einzig und allein die Regierung, die fast so häufig wechselt wie die Jahreszeiten.

Bindende Hassliebe. Natürlich ist das, was man im Norden unter einer perfekten Organisation versteht, auch nicht die Mozzarella auf der Pizza. In Rom löst man die Probleme nun einmal auf andere Weise. Die Devise heißt nicht Planung, sondern bisogna arrangiarsi – man muss sich arrangieren. Pilger und Touristinnen mögen das faszinierend finden. Für sie gibt es ja keinen Alltag, und deshalb können sie unmöglich verstehen, dass jemand wie ich, der sein halbes Leben in Rom verbracht hat, zu dieser erbarmungslosen und doch so einzigartigen Stadt eine Art Hassliebe entwickelt, wie man sie sonst nur Menschen gegenüber verspürt, zu denen man nie ganz hinfindet und von denen man auch nicht loskommt. Und sollte man sich doch einmal losreißen, so empfindet man schon nach drei Tagen wieder Heimweh.

Aber werden wir jetzt bloß nicht wehmütig! Rom bleibt uns erhalten. Und während wir am Bahnhof auf den Eurocity warten, der uns nach Hause bringt, fällt uns der richtige Name für die Endstation Sehnsucht plötzlich doch noch ein: Roma Termini.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016