Von der ungeahnten Kraft lebendiger Zellen

01. Januar 1900 | von

Zum ersten Mal in der Geschichte wird ein Jubeljahr an der Schwelle von einem zum anderen Jahrtausend gefeiert. Es ist nicht nur für die Christen, sondern für die gesamte Menschheit ein wichtiges Ereignis. Wir sind an einem entscheidenden Punkt der Menschheitsgeschichte angelangt. Wir bewegen uns immer schneller von einem Ort zum anderen. Die Grenzen zwischen den Ländern verschwinden mehr und mehr. Das Kommunikationssystem umfasst unseren gesamten Planeten. Europa und internationale Organisationen spielen eine immer bedeutendere Rolle.
Gleichzeitig gab es noch nie so viele Arme, Sklaven, Menschen am Rande, noch nie waren die politischen und religiösen Spannungen so bedrohlich und die finanziellen Ressourcen so mächtig.

An der Basis. Das Jubeljahr 2000 wirft die Frage auf, wie es in Zukunft weitergehen wird, in einer Zeit der Genmanipulationen, der globalen Umweltverschmutzung, der fatalen Verflechtung von Armut und wirtschaftlichen Interessen.
Das Jubeljahr ist ein Jahr der Kirche, die mit dem II. Vatikanum ihre Fenster und ihr Herz weit in die Welt hinaus geöffnet hat, die versucht, das Teilen zwischen den Menschen voranzutreiben, die zum Dialog zwischen den verschiedenen Religionen aufruft.
Das Jubeljahr 2000 soll ein Jahr der Erneuerung für die ganze Kirche werden, es soll auch in alle Pfarrgemeinden hineinstrahlen, an die Orte also, wo sich christliches Leben an der Basis abspielt und wo die Umbrüche in Gesellschaft und Kirche besonders deutlich sichtbar /werden.
Auf dem Weg ins dritte Jahrtausend nach der geschichtlichen Menschwerdung Gottes wird immer klarer, dass wir Christen in zwei sehr unterschiedlichen Richtungen massiv herausgefordert sein werden. Auf der einen Seite werden von uns Antworten auf die brennenden Fragen der Zukunft erwartet, und wir fordern sie auch gemäß unserem Weltauftrag selbst von uns ab. Auf der anderen Seite sind wir gehalten, unsere je persönliche, in die Nachfolge Christi eingebundene Existenz in die sich schnell verändernde Welt hineinzuentwickeln.

Offen für Fortschritt. Das erste Feld auf dem wir Christen uns zu äußern aufgefordert sind, betrifft das Umgehen mit den materiellen Gütern, beginnend mit dem Lebensnotwendigen oder dem notwendig Erscheinenden. Gewaltige Systeme der Wirtschaft und des Handels kanalisieren unsere Verhaltensweisen in diesem Lebensbereich. Die Technik stößt weltweit in ungeahnte Welten vor. Es gibt die Sorge um das biologische Überleben zukünftiger Generationen. Bei den rasanten Änderungsprozessen heißt Christsein zuerst wach zu sein, um die Lage der Menschen zu verbessern. Ein offenes und positives Verhältnis zum zivilisatorischen Fortschritt muss sich noch klarer aus dem Glauben an Gottes Schöpfung und aus dem Auftrag zu Mitwirken und Mitgestalten ableiten.

Provokation Ungerechtigkeit. Schwer bedrücken uns alle Themen, die mit den ungeheuren Unterschieden in den Lebensbedingungen der Menschen verknüpft sind. Die global gesehen extreme Ungleichverteilung materieller und geistiger Güter wird das Gerechtigkeitsempfinden noch stärker provozieren. In diesem Gebiet kann es nicht darum gehen, mit schlichten Rechenbeispielen Armut und Reichtum einander gegenüberzustellen. Vielmehr müssen die Macht- und Statusstrukturen, die Ungleichverteilung erzeugen und fortsetzen, ans Licht gebracht werden und mit präzisen Änderungsforderungen konfrontiert werden. Hierzu gehört auch die Auseinandersetzung und der Dialog mit jenen Weltreligionen, die dem Elend der Armen gleichgültig gegenüberstehen. Schließlich haben Christen sich zu Wort zu melden, wenn es um das Erwecken und Erhalten von Leben geht. Welche Optionen des Handelns haben Christen anzubieten, wenn es um Fragen wie künstliche Befruchtung, Klonen, Euthanasie geht? Wie kann in all diesen Problemen und Umwandlungsprozessen die kleine christliche Gemeinde vor Ort ihren Weg finden?

Einheit in Vielfalt. In der bisher wohl größten Umbruchsituation, in der sich die Menschheit befindet, steht auch die Kirche vor einer Fülle neuer Aufgaben. Eine davon ist das mutigere und raschere Fortschreiten auf dem Weg zur Einheit der christlichen Kirchen. Die Notwendigkeit dieser Einheit ist von vielen Theologen und Kirchenführern überzeugend genug dargelegt worden. Ohne diese Einheit, die nur als versöhnte Verschiedenheit denkbar ist, werden die Christen der doppelten Bedrohung von Seiten eines immer aggressiver werdenden Säkularismus und eines ebenfalls herausfordernder werdenden Islam kaum standhalten können. Die Suche nach der Einheit der Kirchen wird aber in den Ortsgemeinden überschattet durch die Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit in der eigenen Konfession nicht mehr richtig beheimatet ist und die Frage nach der Einheit der Kirchen von aus einer eher außenstehenden Position aus beurteilt wird. Eine wie auch immer realisierte Einheit der verschiedenen Bekenntnisse würde so den zweiten Schritt vor dem ersten tun. Beispiel dafür kann auch die in der Regel gut funktionierende ökumenische Zusammenarbeit der Seelsorger sein. Sie gelingt deshalb, weil hier zwei Christen aufeinander treffen, die in ihrer eigenen Kirche beheimatet sind, und auf dieser Basis das Gemeinsame suchen und finden.

Weltmacht Kirche? Die Kirche, gerade in der Pfarrgemeinde vor Ort, wird eine kleine Herde. Und obwohl Jesus gesagt hat, die kleine Herde solle sich nicht ängstigen (Lk 12,32), bekommen es viele Gläubige mit der Angst zu tun. Die Kirchenräume sind nicht mehr so häufig gefüllt, der Sakramentenempfang lässt nach, immer mehr Gemeinden bleiben ohne eigenen Priester. Das äußere Erscheinungsbild der Kirche ist nicht gerade berauschend. Sollen wir uns aber nach einer machtvollen und vor allem machtbewussten Kirche sehnen? Auch die Christen waren im Laufe ihrer Geschichte oft genug fasziniert von der großen Zahl, geblendet vom Glanz pompöser Selbstdarstellung. Es ist sicher viel wichtiger, Ausschau zu halten nach den Formen christlicher Verwirklichung in der Gemeinde der Zukunft, als nostalgisch zurückzuschauen nach den großen Zeiten der Weltmacht Kirche.

Keine Massenbewegung. Im Johannesevangelium wird ein Jesuswort überliefert, in dem ein ganzes Programm steckt, und dieses Wort ist noch längst nicht eingeholt, es muss erst zum Leben erweckt werden: Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe (Joh 15,15). Jesus setzt auf Freunde und Freundeskreise. Ein Freundeskreis ist keine Massenbewegung, sondern eine Begegnungsform, die eher intimen Charakter hat. Aber von solchen lebendigen Zellen können ungeahnte Kräfte ausgehen. In ihnen steckt eine Dynamik, die gar nicht absehbar ist. Jesus erwartet offensichtlich, dass seine Botschaft von solchen kleinen Gruppierungen aufgegriffen und weitergetragen wird.
Simone Weil, die früh verstorbene französische Philosophin, hat in einem Brief geschrieben: Christus hat nicht gesagt: zweihundert oder fünfzig oder zehn. Er hat gesagt zwei oder drei. Er hat genau gesagt, dass er stets der Dritte ist in der Vertraulichkeit einer christlichen Freundschaft, der Vertraulichkeit des innigen Beisammenseins. Unsere zerrissene Gesellschaft, unsere gesichtslosen Großstädte, unsere gefährlich vereinsamten Zeitgenossen brauchen das Geschenk der Freundschaft nötiger als alles andere. Die Familie, so sie noch existiert, hat nicht mehr die Prägekraft, die sie früher gehabt hat. Die Mobilität und Sprunghaftigkeit des Gegenwartsmenschen lässt ihn zum Single werden, der oft nicht mehr weiß, wo er hingehört.
Wenn wir als Einzelne zurückschauen und uns überlegen, durch welche Menschen wir geistig geweckt und am inneren Leben erhalten wurden, welche Menschen uns auch die Augen des Glaubens geöffnet haben, werden wir feststellen: Es sind einige wenige gewesen, denen wir das verdanken, was zählt. Nicht das trotzige Kollektiv, nicht Massenaufmärsche und Machtdemonstrationen haben uns die entscheidenden religiösen Erfahrungen vermittelt, sondern die geschwisterliche Verbundenheit von Menschen, die uns beistehen, der Kreis der Freunde.

Sakrament Freundschaft. Das Große in der Welt und in der Kirche ist immer wieder durch kleine Gruppen, durch überschaubare Freundeskreise bewirkt worden. Im kleinen Kreis muss erfahren und eingeübt werden, was sich dann auch in den großen Bezügen auswirken kann. Ein gewandeltes Gesicht der Kirche und Gemeinde kann nur aufkommen, wenn Jesu Freundeswort gelebte Wirklichkeit wird. Die reine Freundschaft, die nicht den eigenen Nutzen sucht, sondern dem anderen zum vollen Leben verhelfen soll, kann zum Sakrament, zum Ort der Gotteserfahrung werden. Vielleicht ist dieses Sakrament Freundschaft in der Gemeinde der Zukunft so nötig wie kaum ein anderes.

Pluralität. In der sich dem Ende zuneigenden Epoche der Kirchengeschichte war das Christsein gekennzeichnet durch einen Glauben aus dem Lebenszusammenhang und in ihm. Durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, durch das Hineingeborenwerden in ein Milieu wurden Menschen Christen. Es gab für sie keine wirkliche Lebensalternative. Den meisten war es zudem vorgegeben, welcher christlichen Konfession sie angehörten. Im Mitleben mit den Menschen, mit denen sie die alltägliche Welt teilten, übernahmen die meisten die Überzeugungen, die ihnen vorgelebt wurden.
Es wird überall spürbar, dass das künftige Christsein unter gewandelten gesellschaftlichen Voraussetzungen zu leben sein wird. In der entfalteten Moderne oder Postmoderne wird den Menschen immer weniger eine verbindende Lebensüberzeugung und Lebensgestalt vorgegeben. Die Menschen stehen vielmehr vor einem Plural von Möglichkeiten, ihr Leben zu entwerfen und auszugestalten. Dies setzt sie frei, ihr eigenes Leben zu finden und zu verwirklichen. Es zwingt sie aber zugleich auch dazu. Der frühere Lebenszusammenhang war bergend und einengend zugleich. In der entfalteten Moderne erfahren sehr viele Menschen sich zu ihrem eigenen Leben befreit. Sie sehen sich zugleich aber auch damit allein gelassen.

Anrührende Kraft. Wenn der Lebenszusammenhang das Christsein nicht mehr alternativlos vorgibt, können Menschen nur Christen werden, wo sie erfahren, wie Gott durch Jesus Christus und sein Evangelium sie zum Glauben ruft. Der Glaube ist Antwort auf ein im eigenen Herzen erfahrenes Werben Gottes. Menschen müssen innerlich berührt werden vom Anruf Gottes im Evangelium. Es muss ihnen anziehend nahe kommen als die einzigartige Chance, sich rückhaltlos dem Gott und Vater Jesu Christi anzuvertrauen. Es muss ihnen als unüberbietbare Sinngebung aufgehen, für den alle und alles umfassenden guten Willen dieses Vaters verfügbar zu werden.
Eine die Menschen anrührende, sie anziehende, sie in ihre Geschichte mit Gott rufende Kraft kann nur kommen aus der Begegnung mit Zeugen des Glaubens. Diese einfache Einsicht fordert die Kirche in ihren Gemeinden und Gemeinschaften, in denen man miteinander suchen kann, dazu heraus, wichtigen Fragen nachzugehen.

Lebenszeugnis Glaube. Wie können wir unseren Glauben so leben, dass wir dabei selbst zu unserem Glauben kommen, und andere an uns wahrnehmen können, welche befreiende, versöhnende und heilende Kraft der Glaube ist - im Umgang mit Freude und Leid, mit dem Leben und dem Tod, mit Macht und Besitz, mit Sexualität und Schuld? Wo leben wir so angepasst an unsere gesellschaftliche Normalität, dass andere den Eindruck bekommen müssen, auf unseren Glauben ohne Verlust verzichten zu können? Wo sehen wir uns zu einem deutlicheren Lebenszeugnis herausgefordert, erfahren uns aber allein dazu nicht fähig und müssen wir uns zu einem gemeinsamen Zeugnis zusammentun? Was hilft uns, das Geschenk und die Freude des Glaubens zu erfahren?
Der eigene Glaube steht nicht im Gegensatz zum Leben in einer Gemeinde, einer Glaubensgemeinschaft. Der eigene Glaube wird nur eröffnet in der Anteilhabe am Glauben einer Glaubensgemeinschaft. Und echte Glaubensgemeinschaft ist das Miteinander von Christen mit einem eigenen Glauben.

Türen öffnen. Das Symbol des Jubiläumsjahres 2000 ist die geöffnete Tür. Dieses Zeichen der Hoffnung, der Offenheit kann der Kirche und jeder einzelnen Gemeinde ein wichtiges Wegzeichen für die Zukunft sein.
Die Pfarrgemeinde und alle Christen, die zu ihr gehören sind eingeladen und aufgefordert Türen zu öffnen. Menschen soll der Zugang zu den Gruppen und Kreisen einer Gemeinde ermöglicht werden, indem ein Klima der Offenheit und Gastfreundschaft geschaffen wird. Besonders weit aufstoßen sollten Christen die Türen für Arme und an den Rand gedrängte Menschen. Offene Türen auch, wenn es um das Verständnis füreinander, um die Kommunikation zwischen den einzelnen Interessengruppen und Generationen geht. Offene Türen sind die Voraussetzung für den freundschaftlichen Kontakt mit anderen Gruppen und Gemeinschaften im Rahmen der Weltkirche, lassen die geschwisterliche Gemeinschaft über die eigenen Grenzen hinaus erfahren.
Papst Johannes Paul II sagte in Reims: Die Kirche betrachtet ihr Erbe nicht als den Schatz einer abgeschlossenen Vergangenheit, sondern als mächtige Inspiration, um in der Pilgerschaft des Glaubens auf immer neuen Wegen weiterzugehen.
Diese neuen Wege zu suchen und zu gehen bleibt Auftrag der christlichen Gemeinde auch über das Jubeljahr 2000 hinaus.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016