Was geht mich das an?

25. November 2014 | von


„Jeder Stiefel, der dröhnend daherstampft, jeder Mantel, der mit Blut befleckt ist, wird verbrannt, wird ein Fraß des Feuers. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt … und der Friede hat kein Ende.“ Diese Sätze aus Jesaja, Kapitel 9, hören wir in der ersten Lesung der Christmette in der Heiligen Nacht. Die Friedensbemühungen von Papst Benedikt XV. in der Zeit des Ersten Weltkriegs verdienen es, in das rechte Licht gerückt zu werden, gerade auch angesichts aktueller Konflikte.



Als Kardinalprotodiakon Jorge Arturo Medina Estevez am 19. April 2005 von der Loggia der Petersbasilika verkündete, Joseph Kardinal Ratzinger sei das neue Oberhaupt der katholischen Kirche und wolle von nun an Benedikt XVI. genannt werden, zeigte man sich von der Namenswahl überrascht. In seiner Botschaft zum Weltfriedenstag des Jahres 2006 gab der neue Papst dann die Erklärung: „Ich wollte mich sowohl auf den heiligen Patron Europas, den geistigen Urheber einer friedenstiftenden Zivilisation im gesamten Kontinent, als auch auf Papst Benedikt XV. beziehen, der den Ersten Weltkrieg als ein ‚unnötiges Blutbad’ verurteilte und sich dafür einsetzte, dass die übergeordneten Gründe für den Frieden von allen anerkannt würden.“

In dem Konklave, das auf den Tod Pius’ X. (1903-1914) folgte, wurde am 3. September 1914 der Erzbischof von Bologna, Kardinal Giacomo Della Chiesa, zum Nachfolger des heiligen Petrus bestimmt. Der nunmehrige Papst hatte lange Zeit als Diplomat im Dienst des Vatikans gestanden.



DAS IST DER SELBSTMORD EUROPAS

Im Jahr 1885 war Leo XIII. (1878-1903) von Spanien und dem Deutschen Reich im Streit um die Karolinen- und Palauinseln (Mikronesien) zum Schiedsrichter angerufen worden. Monsignore Della Chiesa war als Mitarbeiter des Päpstlichen Staatssekretariates an der Beilegung des Streites, der zu einem Krieg auszuufern drohte, beteiligt gewesen. Als Papst erkannte er, dass der kurz vor seiner Wahl entflammte Erste Weltkrieg das Wirken für den Frieden zu einer vorrangigen Aufgabe seines Pontifikates machte. Pius X. hatte beim Ausbruch des Krieges ausgerufen: „Das ist der Selbstmord Europas!“ Ein Apostolisches Schreiben folgte dem anderen; unermüdlich rief der Papst zum Frieden auf. Doch seine Bitten an die Verantwortlichen der Völker wurden nicht erhört. Selbst eine Initiative des Heiligen Stuhls für einen Waffenstillstand zum Weihnachtsfest des Jahres 1914 wurde nicht mit Erfolg belohnt.



AUSTAUSCH VON VERLETZTEN

Eine andere Initiative hingegen war erfolgreich. Es handelte sich darum, einen allgemeinen gegenseitigen Austausch der Verletzten herbeizuführen, deren Unfähigkeit zu jedem weiteren Kriegsdienst offensichtlich war.

Der „Osservatore Romano“, die Zeitung des Vatikans, veröffentlichte am 6. Januar 1915 die zustimmenden Antworten der kriegführenden Souveräne und Staatsoberhäupter. Auf der einen Seite: der König von England, der russische Zar, der Präsident der französischen Republik und die Könige von Belgien und Serbien; auf der anderen Seite: der deutsche Kaiser, der Kaiser von Österreich, der König von Bayern und der Sultan der Türkei. Von da an folgten zahlreiche ähnlich gelagerte Vorschläge des Papstes, wobei die päpstliche Diplomatie von weiteren neutralen Monarchen und Staaten, wie Alfons XIII., dem König von Spanien, und dem Schweizer Bundesrat, unterstützt wurden.

Noch im Januar 1915 schlug Benedikt XV. vor, bestimmte Gruppen von Zivilgefangenen freizulassen, so alle männlichen Personen unter 17 und über 55 Jahre, alle Frauen, alle Priester und überhaupt alle Männer, die unfähig zum Dienst unter Waffen waren. Im Mai des Jahres folgte der Vorschlag, kranke Kriegsgefangene auf neutralem Gebiet zu internieren (Schweiz oder Dänemark). Am 23. August brachte der Papst eine Einführung der Sonntagsruhe für die Kriegsgefangenen ins Gespräch. Zwei Tage später schlug er vor, es möge jede Repressalie verboten werden, der nicht die Bekanntgabe der Gründe vorangegangen sei: ein Schritt, der in der Geschichte der Entwicklung des Völkerrechts bemerkenswert war.



KRIEGSGEFANGENE UND ZIVILINTERNIERTE

Im Juli 1916 kam der Vorschlag Benedikts XV., diejenigen Kriegsgefangenen auf neutralem Gebiet unterzubringen, die drei Kinder besaßen oder seit achtzehn Monaten in Gefangenschaft lebten. Im Vatikan wurde eine Geschäftsstelle zur Vermittlung von Nachrichten über Kriegsgefangene eingerichtet. Päpstliche

Diplomaten besuchten bei den beiden kriegführenden Parteien zahlreiche Gefangenenlager. Im Jahre 1916 ordnete Benedikt XV. an, dass der Apostolische Nuntius in der Schweiz seinen Wohnsitz nach Bern verlegte, um wegen der Kriegsgefangenen und Zivilinternierten mit den kriegführenden Parteien und der Schweiz unmittelbar Gespräche führen zu können. Der Vertreter des Papstes wirkte entscheidend beim Abschluss der beiden deutsch-französischen Abkommen vom 26. April 1918 mit, die am 12. Mai in Paris im „Journal Officiel“ veröffentlicht wurden und eine Heimsendung oder Unterbringung auf neutralem Boden von Kriegsgefangenen und Zivilinternierten betrafen. 



VERGEBLICHE FRIEDENSBOTSCHAFTEN

In der auf Französisch verfassten diplomatischen Note an die Oberhäupter der Krieg führenden Länder „Dès le début“ vom 1. August 1917 klagte der Papst: „Heute kann sich niemand davon eine Vorstellung machen, wie an Zahl und Härte das Leiden aller wachsen wird, wenn noch weitere Monate oder, was noch schlimmer wäre, weitere Jahre zu diesen blutigen dreien hinzukämen. Soll denn die zivilisierte Welt nur mehr ein Leichenfeld sein? Soll das ruhmreiche und blühende Europa, wie von einem allgemeinen Wahnsinn fortgerissen, in den Abgrund stürzen?“

Für kommende Friedensverhandlungen machte Benedikt XV. Vorschläge, die für die damalige Zeit revolutionär waren und an sich schon geeignet waren, künftige kriegerische Auseinandersetzungen zu vermeiden, zumindest aber zu erschweren: die Annahme des Grundsatzes der Freiheit und der Gemeinsamkeit der Meere, gegenseitiger Verzicht auf Ersatz der allgemeinen Kriegskosten, Räumung besetzter Gebiete, Einsetzung eines Schiedsgerichtes zur Lösung internationaler Streitfälle.

Die vom Papst erwartete Resonanz auf seine Friedensbotschaften und seine Vorschläge unterblieb, nur aus Belgien und Brasilien erhielt der Pontifex anerkennende Worte. Die Antworten der Mittelmächte – Deutschland, Bayern, Österreich-Ungarn, Bulgarien und Türkei – wiesen einen respektvollen und höflichen Ton auf, machten jedoch keinerlei Zusagen auf die konkreten Vorschläge des Papstes. Frankreich, Italien, England, Russland und ihre Verbündeten ließen den Heiligen Stuhl ohne jede offizielle Antwort.



LONDONER GEHEIMVERTRAG

Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri hatte die verschiedenen Ausfertigungen der Botschaften an die Mitglieder der Entente dem englischen Botschafter beim Heiligen Stuhl übergeben; als der Diplomat Seiner britischen Majestät darüber eine Empfangsbestätigung wie bei einem Geschäftsvorgang ausstellte, empfand man dies im Apostolischen Palast als Fauxpas. Später wurde publik, dass die Westmächte deshalb die Botschaften Benedikts XV. übergingen, weil sie durch den Artikel 15 des Londoner Geheimvertrags vom 26. März 1915 gebunden waren. Dieser Vertrag war anlässlich des Eintritts Italiens in den Krieg auf der Seite der Entente-Mächte abgeschlossen worden und verpflichtete tatsächlich Frankreich, England und Russland dazu, jeden Schritt Italiens zu unterstützen, der darauf hinausliefe, den Heiligen Stuhl von den künftigen Friedensverhandlungen und der Neuordnung Europas auszuschließen. Nach dem Ende des alten Kirchenstaates im Jahre 1870 waren die Beziehungen zwischen Italien und dem Vatikan noch nicht geregelt worden.



AUFRUF ZUM GEBET

Durch unzählige karitative Maßnahmen und enorme Geldspenden versuchte der Papst, in allen Kriegsgebieten zu helfen. In den Ländern, in denen die Kirche präsent war, empfahl er zu beten: „In der Angst und Not eines Krieges, der die Völker und Nationen in ihrem Bestande bedroht, fliehen wir, o Jesus, zu Deinem so liebevollen Herzen, als zu unserem sichersten Zufluchtsorte. Zu Dir, o Gott der Barmherzigkeit, flehen wir mit Inbrunst: Wende ab diese schreckliche Geißel! Zu Dir, o Friedenskönig, rufen wir in inständigem Gebete: Gib uns bald den ersehnten Frieden! … Erbarme Dich so vieler Mütter, die in Angst und Sorge sind um das Schicksal ihrer Söhne; erbarme Dich so vieler Familien, die ihres Hauptes beraubt sind; erbarme Dich des unglücklichen Europa, über das so schweres Verhängnis hereingebrochen ist! … Gib Du den Herrschern und Völkern Gedanken des Friedens ein; lass aufhören den Streit, der die Nationen entzweit; mach’ dass die Menschen in Liebe sich wieder zusammenfinden; gedenke, dass Du sie um den Preis Deines Blutes zu Brüdern gemacht! … Und Du, allerseligste Jungfrau, wie früher in den Zeiten größter Not, so hilf uns auch jetzt! Beschütze und rette uns!“ – Am 22. Januar 1922 verstarb Papst Benedikt XV. im Alter von nur 67 Jahren an einer schweren Lungenentzündung. Der Katafalk, der bei der Totenfeier den Leichnam des Pontifex trug, wies eine lateinische Inschrift auf.



SPÄTE ANERKENNUNG

In deutscher Übersetzung lautete sie: „Vergeblich trachtete er, mit Ermahnungen zu einem christlichen Frieden die Flammen des größten aller Kriege zu löschen, oder ihn doch wenigstens zu begrenzen. Doch gelang es ihm, durch die ihm zur Verfügung stehenden Mittel, diesen Krieg weniger unheilvoll zu gestalten.“

Zum 10. Todestag des Papstes waren dessen Verdienste schon allgemein anerkannt. Kardinal Carlo Dalmazio Minoretti, der Erzbischof von Genua, der Geburtsstadt von Benedikt XV., schrieb damals: „Der milde Vater verweilte nicht bei unnützem Klagen, noch nahm er die Übel hin als unvermeidliche Folge der Missachtung seiner Warnungen, noch auch beschränkte er seine Fürsorge auf die Katholiken; vielmehr umfing er, wie es der christlichen Nächstenliebe eigen ist, alle Leidenden und verehrte in allen die Glieder des Leibes Jesu Christi, die Söhne Gottes und seine geliebten Söhne. Er wartete nicht das Ende des Krieges ab, um zu helfen: der Austausch der Verwundeten, dienstunfähiger Gefangener und die Versorgung der Gefangenen mit Lebensmitteln sind Beweise seiner noch während des Weltbrandes ausgeübten Mildtätigkeit. Seiner heute zu gedenken, ist ein Akt der Dankbarkeit gegen Gott, der seiner Kirche die Männer sendet, die die Zeit verlangt.“

Am 13. September dieses Jahres besuchte Papst Franziskus die Ortschaft Redipuglia in Norditalien, wo 100.000 italienische und 14.550 österreichisch-ungarische Gefallene beigesetzt sind.



BIN ICH DER HÜTER MEINES BRUDERS?

An der Gedenkstätte für die Gefallenen der Isonzo-Schlachten des Ersten Weltkrieges sagte der Heilige Vater: „Über dem Eingang dieses Friedhofs schwebt das höhnische Motto des Krieges: ‚Was geht mich das an?’ Alle diese Menschen, deren Gebeine hier ruhen, hatten ihre Pläne, ihre Träume, doch ihr Leben ist zerschlagen worden. Die Menschheit hat gesagt: ‚Was geht mich das an?’ Kain würde sagen: ‚Bin ich der Hüter meines Bruders?’ … Der Schatten Kains liegt heute über uns, hier auf diesem Friedhof. Hier ist er zu sehen. Er ist sichtbar in der Geschichte, die von 1914 bis in unsere Tage reicht. Und er ist sichtbar auch in unseren Tagen.“

Papst Benedikt XV. hatte gewusst, dass ihn das Brudermorden im Ersten Weltkrieg etwas anging. Die Frage des Kain hätte er nie gestellt. Er übernahm Verantwortung und trug dazu bei, das Leid von Millionen Menschen zu lindern. Für die Zukunft setzte er Perspektiven, die heute als Selbstverständlichkeit und moralische Pflicht gelten.





 


Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016