Wegweiser für das Leben

01. Januar 1900

W

as gehört für den modernen Menschen zu einem vollkommenen Leben? Die meisten würden wirtschaftliche Unabhängigkeit, ein erfülltes Sexualleben und möglichst viel Selbstbestimmung nennen.
Diese Ziele beinhalten nahezu das Gegenteil der drei klassischen Evangelischen Räte Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam. Um so erstaunlicher für viele, dass es immer noch Männer und Frauen gibt, die sich als Ordensleute zu einer solchen Lebensform berufen fühlen. Dabei müssen wir gerade angesichts unserer aktuellen Probleme die Evangelischen Räte wieder ernst nehmen, denn sie bilden ein existentielles Gegengewicht zu den herrschenden, unmenschlichen Tendenzen: maßloses Machtstreben, Zweiklassenwelt, Konsumismus, Beziehungslosigkeit.

Trias der Christus-Nachfolge. Was haben wir unter den Evangelischen Räten nun eigentlich zu verstehen. Ordensleute, Mitglieder geistlicher Gemeinschaften und engagierte Laien wissen, worum es bei diesem Begriff geht. Allein vom Wort her ist er durchaus zugänglich. Jesus hat seiner engeren und weiteren Jüngergemeinde viele Ratschläge für die Gestaltung ihres Lebens und ihres Glaubens gegeben. Diese Ratschläge sind uns im Evangelium aufgezeichnet. Vor allem verdichten sie sich in der Bergpredigt (Mt 5 ff).
Aus den vielfältigen Weisungen Jesu haben sich drei als besonders einschneidend und wirksam erwiesen und zu einem speziellen, christlichen Lebensstil in der Nachfolge Jesus entwickelt: Es geht um die Jungfräulichkeit, den Gehorsam und die Armut. Die Lebensform, in der sich diese Ratschläge Jesu verdichten, gilt als Leben nach den Evangelischen Räten.
Es ist nicht zufällig, dass alles auf diese Trias der Räte hinauslief, denn sie zielen auf drei Grundbedürfnisse, beziehungsweise Grundsehnsüchte des Menschen ab. Die Psychologen nennen sie: Liebesstreben, Geltungsstreben und Besitzstreben. Die Pastoralsoziologen sprechen von dem Wunsch nach Ansehen, Macht und Besitz.
Da ist zum einen das Liebesstreben. Uns ist von unserem Schöpfer die Sehnsucht eingegeben, einen Namen und Ansehen haben zu wollen. Wir brauchen die Zuwendung in Beziehungen. Wir möchten angesehen werden und Ansehen haben und nicht nur in einer Rolle oder Funktion gesehen werden, also nicht nur beispielsweise über unsere Arbeitskraft definiert werden. Wir möchten um unserer selbst willen anerkannt und geliebt werden.

Grundbedürfnis Geltung. Der Drang nach Geltung ist wohl jedem Menschen zu Eigen. Wir möchten aus unseren Talenten und aus unserem Leben etwas machen. Möchten wachsen und uns entfalten. Wir freuen uns, wenn wir ein Werk vollbringen können und die Geschichte unseres Lebens selber ein Stück mitgestalten können.
In jedem Menschen steckt auch der Wunsch, irgendwo zu Hause zu sein, um dort Wurzeln schlagen zu können. Das kann ein Ort sein, beispielsweise ein Haus, eine Landschaft aber auch ein Mensch, eine Familie, eine Gemeinschaft. Die Beheimatung drücken wir aus mit: Ich gehöre zu dieser oder jener Person, zu dieser Familie oder Gruppe. Auch die Religion ist Beheimatung.
Greifbarer ist dieses Bedürfnis beim Besitz von Sachgütern, aber auch von Zeit, Kraft, Aufmerksamkeit, Kenntnissen und Gefühlen.

Wünsche ohne Maß. Paul M. Zulehner hat darauf hingewiesen, dass unsere Wünsche und Sehnsüchte alle maßlos sind. Wir können nicht sagen oder rundherum bejahen, dass wir uns nur ein bestimmtes Maß an Liebe, an Entfaltung, Besitz und Beheimatung wünschen. Nein, unsere Wünsche sind maßlos. Das hat zur Folge, dass wir immer mehr wollen, dass unsere Träume und Sehnsüchte immer größer sind als das, was wir konkret erleben, nie mit dem Erreichten zufrieden sind.
Die menschlichen Sehnsüchte an sich sind gut. Sie können zur Spur zu Gott werden. Dann sind sie so etwas wie der Motor, der uns über uns selbst hinaus treiben will. Da unsere Basiswünsche aber vielschichtig sind und maßlos, müssen sie – sollen sie nicht ins Uferlose ausarten – kultiviert werden.

Heidenangst oder Gottvertrauen. Das Grundproblem des Menschen ist seine Angst und die Frage: Wie werde ich damit fertig? Im Wesentlichen gibt es zwei Lösungsversuche. Die einen, die Ungläubigen meinen in ihrer Heiden-Angst, ihr Leben selber sichern zu können, das Glück selber machen zu müssen. Ihre Sehnsucht nach Lebensglück verkehrt sich in eine Sucht nach Haben, sie verkommt zur Habsucht. Doch auf diesem Weg ist das Leben nicht zu gewinnen, es geht verloren. Es bleibt eine Illusion, sich das Leben, das Glück und die Erfüllung selber schaffen zu können.
Die anderen sind die Gläubigen, die mit dem Gottvertrauen. Sie haben Gott im Rücken und setzen auf einen anderen Besitz. Sie wissen aus ihrem Glauben, dass sie in Gottes Hand sind, dass Gott ihnen Vater und Mutter ist. Sie können sich in der Liebe Gottes geborgen wissen und haben die Freiheit, vieles ohne Angst loszulassen. Ein Beispiel dafür ist der Zöllner Zachäus, der die Beziehung mit Jesus als einen solchen Reichtum erlebt, dass er spontan auf die Hälfte seines Vermögens verzichten kann (Lk 19,8).

Bausteine einer Lebenskultur. Das, was die Evangelischen Räte meinen, sind Elemente eines jeglichen christlichen Weges der Nachfolge.
Der Begriff Jungfräulichkeit ist völlig außer Mode gekommen. Viele denken dabei an alte Jungfern, die keinen Bezug zu ihrer Sexualität haben. Jungfräulichkeit bedeutet jedoch: Die Frische und Schönheit des reifenden Mädchens. Bei Jungfrau müssen wir an rein, unversehrt, frisch und neu denken. Jungfräulichkeit ist etwas Positives. Es geht um junges, blühendes, starkes Leben. Auch Männer können jungfräulich leben, wenn sie sich des sexuellen Aktes enthalten und die Haltung der Gottoffenheit pflegen.

Fruchtbare Keuschheit. Jungfräulichkeit bedeutet keine Verachtung und auch keine Vernichtung der menschlichen Beziehungswünsche. Ehelosigkeit meint nicht Eigenbrötelei, auch nicht Beziehungslosigkeit. Sie hat vielmehr einen Bezug zur Gemeinschaft. Dabei ist sie nicht eng gefasst, zum Beispiel im Hinblick auf die eigene Familie, sondern auf die große Menschheitsfamilie. Jungfräulichkeit will auf größeres verweisen, will Fesseln sprengen und zum Leben befreien. Der jungfräuliche Mensch löst sich aus der Exklusivität einer Liebesbeziehung, er vereinnahmt den geliebten Menschen nicht, sondern gibt ihn frei. Er steht in reichen und spannungsgeladenen Begegnungen mit Männern und Frauen.
Neben der Jungfräulichkeit und Ehelosigkeit wird dieser Evangelische Rat auch mit Keuschheit umschrieben. Doch geht es hier nicht um Begriffe, sondern um Lebensvollzüge. Bei diesem Evangelischen Rat geht es letztlich darum, sich Gott zu überlassen und sich dem Bild entgegenformen zu lassen, das er von mir hat. Jungfräulichkeit meint dann: Sich Gott zu überlassen, der einen prägt, befruchtet und frei macht von den Erwartungen der andern und so zur Echtheit führt. Die Hingabe an Gott ist verbunden mit der Bereitschaft, sich gebrauchen zu lassen im Dienst für diese Welt. Dabei können die sexuellen Kräfte fruchtbar werden im Sinne der Kreativität, der Lebendigkeit und der Liebe.
Es hat sich immer wieder erwiesen, dass jungfräuliche Menschen nicht nur die Berufung hatten, die Fragen und Nöte der Menschen zu erspüren und darauf mit ihrer ganzen Existenz zu antworten, sondern auch in Gemeinschaft zu leben und Gemeinschaft zu stiften.

Gottes Willen erspüren. Schon im Wort Gehorsam steckt das Hören. Zum Gehorsam gehört das Horchen, ganz Ohr sein, aufnehmen, an sich herankommen lassen. Es geht um das Hinhören auf jenen Gott, der uns das Leben schenkt und erhält. Es geht um ein Hören auf die Menschen, derer Gott sich bedienen will. Es geht auch um ein Hören auf die eigene, innere Stimme. Ich muss auf meine Gedanken und Gefühle hören, auf meine Leidenschaften, auf meine Träume und auf die stillen Impulse, die in mir auftauchen. Gehorsam bedeutet nicht, alles zu tun, was andere von mir wollen. Gehorsam sein heißt auch nicht, dass ich aus meinem Leben nichts mehr machen will, dass ich keine Freude an meinen Gaben haben darf und keine Verantwortung für andere habe.
Zum Gehorsam gehört auch, dass ich auf die Menschen höre, mit denen ich zusammenlebe. Gerade in den zwischenmenschlichen Beziehungen will Gottes Geist wirken. Daher ist es so wichtig, im Miteinander der Familie, des Konventes, der Gemeinde aufeinander zu hören. Jeder Mensch kann uns Gott vermitteln. Das gilt für das gemeinsame Gespräch, für Beratungen und Entscheidungen. Ich muss auf alle hören, die am anstehenden Entscheidungsprozess beteiligt sind. Ich bin nur gehorsam, wenn ich vorurteilsfrei und offen in eine Beratung gehe und jedem Beteiligten zutraue, dass Gott mir durch ihn etwas sagen will.

Gehorsam schafft Gemeinschaft. Es gibt wohl keinen Menschen, der anderen nicht über- oder untergeordnet wäre und für andere Verantwortung übernommen hat oder anderen Rechenschaft schuldig ist. Jeder Mensch ist in die menschliche Gemeinschaft eingebunden, sei es nun in Familie, Firma, Freundeskreis oder Gemeinde. Ohne die Bereitschaft, aufeinander zu hören, würde in all diesen kleinen und großen Gemeinschaften Chaos herrschen. Es gilt, aufeinander zu hören, damit wir mit unseren verschiedenen Ansichten und Bedürfnissen auf einen gemeinsamen Nenner kommen können.
Gehorsam verlangt auch die Bereitschaft, sich auf die Gemeinschaft einzulassen und die eigenen Bedürfnisse nicht absolut zu setzen. Häufig geht es auch um ein gemeinsames Hinhören, wie Gott eine Gruppe oder einen Kreis hier und jetzt herausfordern möchte. Die Konsequenz ist eine Antwort auf die Zeichen der Zeit zu geben.
Der Gehorsam Gott gegenüber kann für uns niemals etwas Wesensfremdes sein, etwas, das uns übergestülpt wird. Da Gott das Leben und Glück eines jeden einzelnen will, führt dessen Gehorsam dem Willen Gottes gegenüber zu ihm selbst, zur tiefsten Sehnsucht seines Herzens.

Reichtum Armut. In der Armut will Gott unser Reichtum werden. Wir sehnen uns nach Besitz in der Hoffnung, dass er uns innere Ruhe schenkt und uns von der Sorge um das tägliche Brot befreit. Aber der Besitz kann die Sorgen noch vergrößern. Wir Menschen können in unserem Begehren das gesunde Maß überschreiten. Die Maßlosigkeit macht uns abhängig vom Besitz.
Schon die Weisen früherer Zeiten, Jesus selber und der Apostel Paulus haben gefordert, man solle sich innerlich frei machen vom Besitz. Man solle besitzen, als besäße man nicht (vgl. 1 Kor 7,29ff). Menschen, die viel besitzen, leben oft armselig. Sie sind so geizig, dass sie sich nichts gönnen und nichts genießen können. Schädlich ist auch die Gier nach Konsum. Wer alle seine Bedürfnisse erfüllen möchte, wird letztlich süchtig. Ein solcher Mensch verschlingt nur; dies gilt nicht nur für sein Essen, sondern auch Bücher, Menschen und Natur.
Askese und Genuss. Es ist ein Zeichen menschlicher Reife, wenn der Mensch sich nicht nur Bedürfnisse erfüllen, sondern auch darauf verzichten kann. Nur wer sich begrenzen kann, kann auch genießen. Daher ist die Askese für ein Leben in Freiheit und Freude wichtig.
Armut darf nicht verwechselt werden mit Missgunst, die den Mitmenschen den Genuss nicht gönnt. Armut darf nicht aus der Angst vor dem Leben, aus Angst vor der Lust und aus Unfähigkeit zu genießen entstehen. Die Armut will uns dahin führen, dass wir mit den Armen teilen, um gerade in ihrer Nähe Gott nahe zu sein.
Armut meint auch das Loslassen von Sicherungsmaßnahmen. Der Umgang mit den Dingen und mit Geld macht sichtbar, ob wir auf den Gott vertrauen, der für den morgigen Tag (vgl. Mt 6,25 ff), für Lilien des Feldes und die Vögel des Himmels sorgt, oder ob wir meinen, durch Unruhe und Hektik unser Leben sichern zu müssen. Diese biblische Sorglosigkeit ist keine Verantwortungslosigkeit.

Befreiende Armut. Christliches Leben in Armut ist ein Leben der Pilgerschaft. Wir haben hier keine bleibende Stätte. Weder die Familie, noch die klösterliche Gemeinschaft, noch der Arbeitsplatz sind Stätten, an denen wir für immer bleiben können, sie nur Raststätten.
Echte Armut wird auch geistlichen Besitz, wie Erfahrungen, Gefühle, Gedanken, Erkenntnisse loslassen. Je älter wir werden, desto einfacher soll unsere Gottesbeziehung und auch unser Gebet werden. Letztlich geht es bei der Armut auch darum, sich selber loszulassen. Mit seinem ungeordneten Ich steht der Mensch Gott im Weg. Armut heißt, frei zu werden von Eigeninteressen, von der Sucht, immer neu zu raffen und zu erobern, um hineinzuwachsen in das Lebensgesetz Jesu: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein, wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht Joh 12,24).

Prophetische Lebensschulen. Traditionell werden die Evangelischen Räte den Ordensgemeinschaften zugeschrieben. Tatsächlich haben Christen schon früh angefangen, diese drei inneren Momente eines jeden christlichen Glaubens in eine konkrete Lebensgestalt zu gießen: Die Ordensgelübde der Ehelosigkeit, der Machtlosigkeit (Gehorsam), der Besitzlosigkeit. Diese Losigkeiten wollen das Vertrauen zum Ausdruck bringen, dass wir uns ganz auf Gott verlassen können und dass seine Gnade trägt. Die Ordensleute wollten besonders stark aufzeigen, dass Gott selbst das Ziel der Sehnsucht des menschlichen Herzens ist und dass wir Menschen von diesem Gott alles erhoffen können. Orden sind prophetische Lebensschulen. Sie wollen zeigen, dass es für uns Menschen gut ist, sich vorbehaltlos auf Gott zu verlassen; sie wollen – weil sie auf das Jenseits hin orientierte Menschen sind – dem Leben eine menschenfreundliche Gestalt geben. Denn schließlich bedeuten die Evangelischen Räte kein Nein, sondern ein tieferes Ja zum Leben.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016