Wie Martin Luther die Reformation zum Klingen brachte

Der ehemalige Ratsvorsitzende der EKD, Präses Nikolaus Schneider, zeigte sich überzeugt: „Musik war der Herzschlag der Reformation.“ Unsere Autorin blickt zurück und fördert Wissenswertes einer tönenden Bewegung zu Tage.
22. Januar 2017 | von

Zu den wenigen Dingen, die Martin Luther besaß, als er noch Jura studierte, wie sein Vater es für ihn vorgesehen hatte, gehörte neben den wertvollen, weil teuren Büchern eine Laute. Nach allem, was wir heute wissen, muss Luther ein begabter Sänger und Lautenist gewesen sein. Seine Liebe zur Musik gehörte vielleicht zu den wenigen Dingen, die sein Leben froh und frei machten, bevor er entdeckte, dass die Gnade Gottes kostenlos, ohne Vorleistung und er wirklich von Gott zuerst geliebt worden war. Gut möglich, dass seine Erfahrung, dass Singen der Seele Flügel verleiht, dazu beigetragen hat, die Reformation zu einer so singfreudigen Bewegung zu machen. „So sie‘s nicht singen, so gleuben sie‘s nicht“, war Martin Luther überzeugt. Erst wenn die Seele von der guten Nachricht der Erlösung in Jesus Christus so in Schwingung versetzt wurde, dass sie ihre Freude frei heraus singt, ist die Verkündigung wirklich bei den Menschen angekommen. Diese Überzeugung ist übrigens über die Grenzen der Konfessionen und Religionen hinweg gültig, und genau deshalb können wir uns als Katholiken in für den Leib Christi und die Kirche Heil bringender Weise damit beschäftigen, warum Martin Luther die Förderung der Kirchenmusik so wichtig war und weshalb sie auch für uns heute, in einer Situation, in der der Glaube in menschlich, geistlich, seelisch und last but not least gesellschaftspolitisch so gefährlicher Weise verdunstet, unverzichtbar ist.

Mitten ins Herz gesungen
Immer, wenn es in der Geschichte wirklich darauf ankommt, wenn etwas Entscheidendes passiert, ist es geschehen, dass Menschen ihre Stimmen zum Gesang erhoben haben. Als der westfälische Frieden verkündet wurde, stimmten die Menschen in Münster und Osnabrück den Choral „Nun danket alle Gott“ an. Dasselbe Lied erklang 1955 im Lager Friedland, als die letzten Soldaten aus der russischen Kriegsgefangenschaft nach Hause zurückkehrten. Als die Mauer fiel, die die beiden Hälften unserer Heimat trennte, erhoben sich die Abgeordneten des Bundestags der BRD spontan von ihren Sitzen und stimmten die Nationalhymne an. Als Barak Obama beim Trauergottesdienst für die Opfer des von Rassisten verübten Attentats von Charleston eine Rede halten sollte, stimmte er das Lied Amazing grace an. Entscheidende Momente des Lebens verbinden sich häufig mit Musik. Liebende geraten ins Schwärmen, wenn „ihr“ Lied erklingt, und bei der Beerdigung vertrauter Menschen singt man für sie oft noch einmal ein Lied, das sich mit ihrer Lebensmelodie verwoben hat. Für Martin Luther, der die Kirchenspaltung ja nicht als erstes Ziel auf seiner Agenda gehabt hatte und der deshalb immer wieder auf eine Entwicklung reagierte, die sich verselbstständigt hatte, lag es also ebenfalls nahe, seiner neu entstehenden Glaubensgemeinschaft einen eigenen Klang zu verleihen. Neben der engen Verbindung zwischen besonderen biografischen Ereignissen und Musik war ihm diese Verknüpfung auch aus pädagogischen Erwägungen ein Anliegen. Luther hatte durch die Erziehung seiner Kinder erlebt, wie sehr Musik das Lernen erleichtert. Und darüber hinaus erwies sich die Verbindung von Musik und Verkündigung noch aus einem anderen Grund als praktisch.

Latein, Musik und Katechese
In jenen Regionen, die sich den damals sogenannten Neugläubigen angeschlossen hatten, galt es, nicht nur die Liturgie, sondern auch den schulischen Unterricht neu zu organisieren. Da Luther im Gegensatz zu dem Ruf, der ihm bis heute vorauseilt, keineswegs ein eingeschworener Feind der lateinischen Sprache war, entwickelte er ein Konzept, das für Schule und Gemeinde eine win-win-Situation war. Denn die im Lateinunterricht sprachlich und im Musikunterricht musikalisch erlernten Gesänge flossen ebenso in die Gottesdienste und die teilweise weiterhin auf Latein gefeierten Vespern ein wie die neuen deutschen Lieder. Gerade bei der Vermittlung letzterer nutzte Luther die Schulen gewissermaßen als Speerspitze der reformatorischen Bewegung, indem er gezielt mit Kantoren wie Johann Walter in Torgau zusammenarbeitete und Theologen und Kirchenmusiker in ganz Deutschland dazu aufforderte, neue Lieder zu texten und zu komponieren. In kurzer Folge entstanden so neue Gesangbücher, die nicht nur die Grundlage für die Gottesdienste der Neugläubigen bildeten, sondern zeitnah auch in katholischen Gemeinden rezipiert wurden.

Kreativ und weltzugewandt
Die Reformation brachte eine Fülle dichterischer und kompositorischer Begabungen ans Licht, so zum Beispiel Luthers Zeitgenossin Elisabeth Cruziger, deren Lied Herr Christ, der einig Gotts Sohn den Weg bis ins aktuelle evangelische Gesangbuch geschafft hat oder Johann Walter, dessen Lied Wach auf, wach auf, du deutsches Land den enormen Umfang von 26 Strophen hatte, von denen im evangelischen Gesangbuch heute noch 7  überliefert sind. Die 14. Strophe des Originals liefert uns interessante Informationen über die Mode zur Reformationszeit. Dort heißt es: Wer jetzt nicht Pluderhosen hat, die schier zur Erde hangen, mit Zotten wie des Teufels wat (= Bekleidung), der kann nicht höflich (= bei Hofe) prangen. Es ist solchs so ein schnöde Tracht. Der Teufel hats gewiß erdacht, wird selbst sein also gangen. Auch die Übersetzung traditioneller Hymnen gehörte zum neuen Bedarf. 
Im katholischen Gesangbuch Gotteslob finden wir beispielsweise die Übertragung des Vesperhymnus Conditor alme siderum in Gott, heilger Schöpfer aller Stern von Thomas Müntzer (1523). Bereits ein Jahr vorher hatte Luther selbst den 130. Psalm zu dem Lied Aus tiefer Not schrei ich zu dir  umgearbeitet. Luther schuf Lieder zu allen Kategorien des Gesangbuches. Die einzige Ausnahme ist die Passionszeit. Seiner Theologie gemäß hat er die Passion von Ostern her gesehen. Im Gegensatz etwa zu den Dichtungen Paul Gerhards sind Luthers Lieder mit ihrem drei-strophigen Aufbau relativ kurz. Im Laufe der Zeit sind daher viele seiner Lieder erweitert worden.

Die Marseillaise der Reformation
Martin Luthers bekanntestes Kirchenlied Ein feste Burg ist unser Gott ist zwischen 1521 und 1530 entstanden. Das erste erhaltene Gesangbuch, in dem es überliefert ist, stammt von Andreas Rauscher und wurde 1531 herausgegeben. Die zeitnahe Parallelüberlieferung im Klug‘schen Gesangbuch von 1533 lässt jedoch vermuten, dass es auch in dessen Erstausgabe von 1529 oder sogar schon im 1528 erschienenen Gesangbuch von Hans Weiß enthalten war. Über die Gründe für die Entstehung des Liedes wurde viel spekuliert. Die einen nehmen an, dass Luther es unter dem Eindruck der nahenden Pest schrieb, die anderen halten es eher für ein Kampflied gegen die osmanischen Invasoren, wieder andere verweisen auf die Firmierung der Protestanten zu einer eigenen Religionspartei auf dem Reichstag zu Speyer 1529. Die Autorschaft Luthers für den Text war immer unbestritten. Dass er auch die Melodie komponierte, wurde im 19. Jahrhundert von einigen Musikwissenschaftlern bezweifelt, gilt aber heute als gesichert. Ein feste Burg ist unser Gott steht am Ende der Epoche des Burgenbaus. In welchem Ausmaß die Burgen des Mittelalters den Menschen tatsächlich Schutz boten, wird deutlich, wenn man den beschwerlichen Fußweg zur Wartburg hochschreitet, die Luther einst selbst zur schützenden Burg geworden war.

Zuletzt aktualisiert: 22. Januar 2017
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