Die Zunge des Heiligen

26. März 2013 | von

Es war der 8. April 1263, ein Weißer Sonntag, acht Tage nach Ostern. Viel Volk war zusammengekommen am Heiligtum Santa Maria Mater Domini in Padua. Der heilige Bonaventura, damals Generalminister des Franziskanerordens, ließ den Sarg mit den Gebeinen des heiligen Antonius öffnen, der 32 Jahre zuvor, am 13. Juni 1231, in Arcella verstorben war. Auf seinen eigenen Wunsch hin war er hier in der Kapelle der Madonna Mora beigesetzt worden. Nach weniger als einem Jahr erfolgte seine Heiligsprechung, und 1239 wurde der Grundstein der Antonius-Basilika gelegt. Darin sollten seine Reliquien fortan aufgestellt werden.



Rosafarben und unverwest war die Zunge des heiligen Antonius, als 1263 sein Holzsarg geöffnet wurde. Erstaunlich, denn die Zunge verfällt normalerweise sehr schnell, zumal vom Leib des Heiligen nur die Knochen und ein Häufchen Staub übriggeblieben waren. Angesichts dieses Wunders, so die Chronik der XXIV Generalminister, ergriff der heilige Bonaventura die unverweste Zunge und rief aus: „O gebenedeite Zunge! Immer hast du den Herrn gepriesen und auch andere zu seinem Lob angehalten. Jetzt wird deutlich, welch hohe Wertschätzung du bei Gott hast.“



IN DER SAKRISTEI BEHÜTET

Der Unterkiefer, der linke Unterarm und die Zunge wurden nicht mehr in den Holzsarg zurückgelegt. Für die Zunge fertigte man ein einfaches Reliquiar an, damit sie in der Sakristei der Kapelle Santa Maria Mater Domini gezeigt und später in der Sakristei der fertiggebauten Basilika aufbewahrt werden konnte.

Hundert Jahre danach schuf man für das „Werkzeug“ der Antonianischen Wortgewalt ein edleres Reliquiar. Kardinal Guy de Boulogne (Guy de Montfort) gab 1349 bei einem Paduaner Kunsthandwerker ein Reliquiar für den Unterkiefer des Heiligen in Auftrag und verlangte auch für die unversehrte Zunge eine edlere Einfassung. Das dritte Reliquiar schuf der Goldschmied Giuliano von Florenz im Jahr 1434 in gotischem Stil; es ist noch heute in der Reliquienkapelle zu sehen, von vielen Gläubigen verehrt. Im 15. Jahrhundert wurde dieses Meisterwerk der Goldschmiedekunst, zusammen mit vielen anderen Kostbarkeiten, im großen Reliquienschrank der Sakristei aufbewahrt. Den Schrank hatte Francesco Squarcione entworfen, Bartolomeo Bellano gefertigt und Lorenzo Canozio mit Intarsien verziert; das war in den Jahren 1469 bis 1477.



DURCH DIE STRASSEN PADUAS

Einmal im Jahr holte man die Zunge aus dem Dunkel der Schränke hervor: am 15. Februar, dem Festtag der Übertragung der Gebeine des heiligen Antonius, auch „Fest der Zunge“ genannt. Gefasst in ihrem kostbaren Reliquiar fuhr man die Zunge des heiligen Antonius auf einem einfachen Wägelchen durch die Straßen Paduas. Während des Festtags blieb sie auf dem Altar der Arca ausgesetzt, besungen und verehrt. Dieser Brauch verlor sich dann. Auch waren die Sicherheitsbedenken größer geworden. Im 16. Jahrhundert verboten die Präsidenten der Arca jeglichen „Standortwechsel“ der Zunge des Heiligen. Sie blieb in der Sakristei bis zum 20. Juni 1745. Da veranlasste Kardinal Carlo della Torre Rezzonico (ab 1743 Bischof von Padua, ab1758 Papst Clemens XIII.) die Überführung in die eben erst fertiggestellte Reliquienkapelle.

Vor diesem letzten „Standortwechsel“ hatten die Präsidenten der Arca durch den Chirurgen Giambattista Morgagni den Erhaltungszustand der Zunge untersuchen lassen. Der Spruch dieser Kapazität ließ keinen Spielraum: Das einzige Rezept gegen eine Beschädigung sei, dass man die Zunge möglichst in Ruhe lässt. So fand die Reliquie in einer Glasnische der neuen Kapelle ihren wohlverdienten Ehrenplatz, denn alle Jahrhunderte hindurch wurde sie als die wichtigste und älteste Reliquie des heiligen Antonius betrachtet. „Die Zunge ist der erste Teil, der vom Leib des Antonius getrennt wurde“, erklärt Antonio Rigon, emeritierter Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Padua. „Neben der Tatsache, dass sie 32 Jahre lang im Sarg unversehrt blieb, ist sie ein „Einzelstück“, nicht in unendlich viele Teile zersplittert, wie bei der Kreuzesreliquie. Ein abstraktes Symbol des historischen Antonius, das Werkzeug, mit dem er als Prediger das Wort Gottes vermittelte.“



IM WELTKRIEG VERSTECKT

Während der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert versteckte man die Antonius-Reliquien an einem geheimen, aber vor allem sicheren Ort – immer an der gleichen Stelle in den Jahren 1915 bis 1918 sowie 1943 bis 1945. Im Zweiten Weltkrieg musste es schnell gehen, die Frontlinie näherte sich Padua, die Bombardierungen begannen. „Die Reliquien und andere wertvolle Gegenstände aus der Schatzkammer der Basilika sind zu verstecken. Besonders die Reliquie der Zunge und des Unterkiefers des heiligen Antonius müssen in Sicherheit gebracht werden“, so ordnete es P. Lino Brentari, zwischen 1943 und 1945 Rektor der Basilika, am 2. Oktober 1943 an. Das Versteck „an der Epistelseite“ war das gleiche wie im Ersten Weltkrieg: der mächtige Pfeiler eines Glockenturms, worin eine Treppe nach oben führt. Die Reliquien wurden aus ihren Behältern genommen und sicher verwahrt – bis zum 12. Juni 1945, dem Vigiltag des ersten Nachkriegs-Antoniusfestes.

Da entdeckte man zur großen Überraschung, dass die Zunge „nicht mehr so ist, wie sie bei der Einlagerung war, also fleischig und aufgerichtet, sondern gebogen und mit einem Schimmelbelag“. Unter großer Geheimhaltung wird die Zunge vom Schimmel gereinigt, zwischen zwei Glasscheiben gepresst und über Nacht im Zimmer des Provinzialministers aufbewahrt. Tags darauf, am 13. Juni um 11.30 Uhr, entfernte man die Glasplättchen – da hatte die Zunge glücklicherweise wieder ihre originale Form angenommen und konnte in die Schatzkapelle gebracht werden.

700 Jahre nach der Entdeckung der unversehrten Zunge, 1963, schreibt Papst Johannes XXIII. an P. Basil Heiser, Generalminister der Minderbrüder-Konventualen: „Bei der Rekognition des Leibes des heiligen Antonius wurde seine rötliche Zunge gefunden, wie bei einem lebenden Menschen, so als sei er noch nicht lange verstorben.“ Der Papst lädt ein: „Strengt euch an! Lasst euch angestecken vom Beispiel eures berühmten Mitbruders und tretet in seine Fußstapfen!“



DIE LETZTE REKOGNITION

Eine wissenschaftliche Rekognition der sterblichen Überreste des heiligen Antonius, auch seiner Zunge, erfolgte im Jahr 1981. Br. Claudio Gottardello musste im Geheimen, auf Anweisung des Generalministers P. Antonio Vitale Bommarco, in der Nacht des 29. Dezember 1980, also wenige Tage vor der für den 6. Januar festgesetzten offiziellen Rekognition, das Grab inspizieren, um herauszufinden, ob sich darin wirklich die Reste des Heiligen befinden. „Wir entfernten die Marmorplatte“, so erzählt fra Claudio, „und stießen auf eine Backsteinwand. Einen Augenblick fürchtete ich, dass nichts drinnen sei, dass jemand den Inhalt gestohlen haben könnte. Ein Maurer bohrte ein Loch von zehn Zentimetern, um hineinzublicken. Mit einer Taschenlampe entdeckte ich eine abgenutzte Holzkiste.“

Fra Claudio sah die jüngere, größere Holzkiste, darin war die ältere, kleinere geborgen, deren Inhalt dann von Medizinern analysiert wurde. Es gelang sogar, das Ordenskleid des Heiligen vor dem Zerfall zu bewahren (diese Gefahr besteht beim Kontakt mit dem Sauerstoff der Luft). Unter den sterblichen Resten des heiligen Antonius wurde jetzt sein Stimmapparat intakt vorgefunden. Im Jahr 1263 hatte man nicht das anatomische Wissen dafür. Alles außer den Gebeinen ist jetzt in der Schatzkapelle ausgestellt, zur Verehrung durch die Gläubigen.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016