Anmaßender Gen-Chek in der Glasschale

24. März 2011 | von

Während in Deutschland der Bundestag über die Präimplantationsdiagnostik (PID) streitet – die Entscheidung soll im Sommer fallen –, wird sie in Frankreich schon angewandt. Anfang Februar gaben Pariser Ärzte die erste Geburt eines sogenannten Rettungsgeschwisterkindes bekannt. Der kleine Junge Umut-Talha wurde im Reagenzglas gezeugt und sein Embryo nach einem einzigen Kriterium ausgewählt: Er soll als Zellspender das Leben seines schwer kranken älteren Bruders retten. Die PID rettet Leben und ist eine Methode, die erblich schwer vorbelasteten Eltern ermöglicht, ein gesundes Kind zu bekommen, so argumentieren ihre Befürworter. Vertreter der katholischen und evangelischen Kirche lehnen sie als „ethischen Dammbruch“ strikt ab. Unser Autor, ehemaliger Pressereferent im Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie und Spezialist im Bereich Bioethik, beleuchtet das hoch emotional diskutierte Thema.



Zu Beginn des 3. Jahrtausends – genau am 29. August 2000 – ging die Nachricht von einer aufsehenerregenden Geburt um die Welt. Damals gebar in Minneapolis im US-Bundesstaat Minnesota eine Frau einen Jungen, dem die Eltern – nomen est omen – den Namen Adam gaben. Bekannt wurde Adam vor allem durch seine sechs Jahre ältere Schwester Molly, deren Leben von einer seltenen Erbkrankheit bedroht wurde. Ohne einen passenden Zellspender hätte das Mädchen nach Auskunft der behandelnden Ärzte nur noch wenige Jahre zu leben gehabt. Auf Adam war jedoch nicht nur die seltene Krankheit nicht vererbt worden. Zusätzlich zu diesem Glück besaß er auch noch genau jene Zellen, die Molly benötigte, um gesund zu werden. Bei seiner Geburt entnahmen die Ärzte daher seiner nutzlos gewordenen Nabelschnur flugs einige dieser Zellen und kultivierten sie im Labor. Endlich gab es ausreichend Spenderzellen, um Molly zu heilen und vor einem frühen Tod zu bewahren.

Die Geschichte von Adam und Molly Nash wäre eine wunderschöne, hätte sie nicht einen gravierenden Haken: Sie ist noch nicht zu Ende. Denn Adam war nicht Mollys einziger Bruder.



Selektion in der Petrischale

Außer Adam besaß Molly noch 14 weitere Geschwister. Wie Adam waren auch sie alle mittels künstlicher Befruchtung von Reproduktionsmedizinern in einer Petrischale erzeugt und anschließend einer Präimplantationsdiagnostik (PID) unterzogen worden.

Bei der von dem britischen Reproduktionsmediziner Alan Handyside maßgeblich mitentwickelten PID werden einem in der Regel vier- bis achtzelligen Embryo mittels einer Mikropipette ein bis zwei Zellen entnommen. Mit Hilfe von Chromosomen- und Gen-Analysen können Reproduktionsmediziner bei diesen Zellen das Geschlecht, Abweichungen von der üblichen Chromosomenzahl sowie molekulare Genveränderungen noch vor der Übertragung des Embryos in den Uterus einer Frau feststellen. Ziel der PID ist es, nur solche Embryonen auf die Mutter zu übertragen, die keinerlei genetisch bedenkliche Auffälligkeiten besitzen. Embryonen, bei denen die Mediziner mittels der PID genetische Defekte diagnostizieren, werden – wie es in der Fachsprache der Mediziner heißt – dagegen verworfen.

Und weil Adam als einziger von Mollys 15 Geschwistern nicht nur von der Erbkrankheit verschont geblieben war, sondern auch noch jene Zellen aufwies, die Molly zur Heilung benötigte, wurde er – anders als die 14 namenlosen Embryonen – nicht „verworfen“, sondern in die Gebärmutter seiner Mutter transferiert, wo er heranwuchs und schließlich geboren wurde.



Humanes Verfahren?

In Deutschland, in dem Politiker aller Parteien zur Zeit um eine gesetzliche Neuregelung der PID ringen, stehen – statt der so genannten „Designerbabys“ oder „Rettungskinder“ wie Adam – Paare im Fokus der Debatte, welche wie Adams Eltern Gefahr laufen, eine schwerwiegende oder gar tödlich verlaufende Erbkrankheit an ihre Kinder zu vererben.

Ihnen könne mit der PID geholfen werden, Schwangerschaftskonflikte zu vermeiden und gesunde Kinder zur Welt zu bringen, behaupten die Befürworter einer gesetzlichen Zulassung der PID. Wann einem solchen Paar eine PID gestattet werden soll und wann nicht, wollen die Befürworter in die Hände einer Ethikkommission legen, die in jedem Einzelfall ein Votum abgeben soll. Auf diese Weise soll die Erstellung eines verfassungsrechtlich höchst bedenklichen Katalogs vermieden werden, der mit bestimmten Erbkrankheiten belastete Embryonen de facto als „lebensunwert“, andere hingegen als „lebenswert“ einstuft.

Allerdings muss man den PID-Befürwortern zugestehen, dass sie in dem künstlich erzeugten Embryo keinen Menschen zu erblicken vermögen. Für sie ist der Embryo in der Glasschale lediglich ein Zellhaufen, der sich erst im Laufe einer Schwangerschaft unter den entsprechenden Voraussetzungen zu einem Menschen entwickelt. Diese Sicht auf den Embryo, die freilich aus einer ganzen Reihe von Gründen – biologischen wie auch philosophischen – extrem angreifbar ist, erklärt zumindest, warum die PID-Befürworter ganz auf das Leid der Eltern abstellen und die PID als ein „humanes“ oder auch „menschenfreundliches“ medizinisches Verfahren bezeichnen.

Doch selbst wenn man hier einmal außer Acht ließe, dass die embryonale Entwicklung des Menschen in Wirklichkeit ein kontinuierlicher Prozess ist, der ohne qualitative Zäsuren abläuft und der es daher zu keinem Zeitpunkt gestattet, von einem Noch-Nicht-Menschen zu sprechen; wenn man ferner ignoriert, dass es ein kein einziges philosophisches Modell gibt, das erklären könnte, wie aus einer „Sache“ eine „Person“ und aus einem „Etwas“ ein „Jemand“ wird, gibt es, wie eine Auswertung der Daten zeigt, welche die Europäische Gesellschaft für Humanreproduktion und Embryologie (ESHRE) im November 2010 in der Zeitschrift „Human Reproduction“ veröffentlicht hat, sehr gute Gründe, daran zu zweifeln, dass die PID ein „humanes“ oder „menschenfreundliches“ medizinisches Verfahren ist, um genetisch belasteten Paaren Abtreibungen zu ersparen und ihnen zu ermöglichen, gesunde Kinder zur Welt zu bringen.

Denn diese Studie liefert nicht nur eine Übersicht der jüngsten Daten, die 57 der über den ganzen Globus verteilten reproduktionsmedizinischen Zentren, die die PID anbieten, an die ESHRE gemeldet haben, sie enthüllt auch das gigantische Ausmaß der Selektion, die mit der PID nach künstlicher Befruchtung einhergeht.

Laut der Studie wurden allen Frauen, die sich in den 57 Zentren von Januar bis Dezember 2007 einer künstlichen Befruchtung unterzogen, insgesamt 68.568 Eizellen entnommen. 56.325 von ihnen wurden befruchtet. In 40.713 Fällen führte dies zur erfolgreichen Labor-Zeugung eines menschlichen Embryos. 31.867 von ihnen wurden anschließend einer Biopsie unterzogen. „Erfolgreich“ überlebten diese lediglich 31.520. Von ihnen wiederum wurden 28.998 einer PID unterzogen. Lediglich 10.084 galten anschließend als „transferierbar“. Tatsächlich transferiert in die Gebärmutter einer Frau wurden jedoch nur 7.183. Weitere 1.386 wurden „auf Eis gelegt“ und in flüssigem Stickstoff eingefroren.

Über das, was mit den verbleibenden 1.515 Embryonen geschah, schweigt sich die Studie aus. Kenner der reproduktionsmedizinischen Praxis wissen jedoch, dass es faktisch nur ein Schicksal gibt, das diese Embryonen ereilt haben kann. Da sich nämlich meist erst beim Auftauen der Embryonen herausstellt, ob diese das Einfrieren auch unbeschadet überlebt haben, muss davon ausgegangen werden, dass die 1.515 Embryonen von ihren Eltern als „überzählig“ eingestuft und – wie dies etwa in den USA und in Großbritannien möglich ist – deshalb der Forschung zugunsten der Produktion embryonaler Stammzelllinien „gewidmet“ wurden.



Fragliches Mutterglück

Wie auch immer: Bei den 7.183 tatsächlich transferierten Embryonen kam es lediglich in 1.609 Fällen auch zu einer klinisch nachweisbaren Schwangerschaft. Diese mündeten wiederum lediglich in 977 Fällen auch in eine Geburt, bei denen die Mütter insgesamt 1.206 Kinder lebend zur Welt brachten. Daraus folgt: In rund 400 Fällen kam es trotz PID entweder zu Spontanaborten, Totgeburten, Abtreibungen oder so genannten Fetoziden.

Dabei mag es auf den ersten Blick durchaus paradox erscheinen, dass die von der ESHRE (European Society of Human Reproduction and Embryology) publizierten Daten einerseits eine massenhafte Selektion von Embryonen im Reagenzglas belegen und andererseits zugleich ein erstaunliches Maß an Zwillings- und Drillingsgeburten nahelegen. Verständlich wird dies erst, wenn man weiß, dass die Chance, dass eine Frau nach künstlicher Befruchtung, sofern sie überhaupt schwanger wird, gleich „Mehrlinge“ bekommt, rund 20 Mal so hoch ist wie bei einer natürlichen Zeugung. Grund hierfür ist die unnatürlich hohe und gesundheitlich belastende Gabe von Hormonen, die den Frauen im Vorfeld einer künstlichen Befruchtung verabreicht werden, damit sie statt der einen von der Natur vorgesehenen Eizelle möglichst viele gleichzeitig zur Reifung bringt.

Erschwerend kommt hinzu, dass das mehrfache Mutterglück nur bei reproduktionsmedizinischen Laien eine ungeteilte Freude über den Erfolg der ansonsten relativ ineffektiven Zeugungsmethode auszulösen vermag. Bei sämtlichen Verfahren der künstlichen Befruchtung beträgt die so genannte „baby-take-home-Rate“ maximal 20 Prozent.



Fetozid

Getrübt wird die Freude vor allem dadurch, dass in der Praxis die so genannten „Mehrlinge“ von Ärzten und Eltern nicht selten als „medizinische Fehlleistungen“ der assistierten Reproduktion betrachtet werden, die es – wie es in der medizinischen Fachsprache heißt – dann durch „fetale Reduktionen“ zu „korrigieren“ gilt.

Als Mittel der Wahl wird dazu von den Ärzten der schon erwähnte Fetozid betrachtet. Bei ihm durchsticht der Arzt mit einer langen Nadel die Bauchdecke der Schwangeren, sucht unter Ultraschallansicht das nun etwa kirschkerngroße Herz des Kindes, sticht zu und spritzt eine Kalium-Chlorid-Lösung hinein, die jede koordinierte Kontraktion des Herzmuskels unmöglich macht. Nach ein bis zwei Minuten stirbt der Embryo im Mutterleib daraufhin an „Herzversagen“. Dass die ESHRE-Studie – anders als etwa das Deutsche IVF-Register – sich über Fetozide völlig ausschweigt, bedeutet nicht, dass sie überhaupt keinen Aufschluss darüber gibt, in wieweit die PID hilft, „Schwangerschaftskonflikte“ zu vermeiden. Denn wie die Studie zeigt, wurde das Ergebnis der PID bei mehr als einem Viertel der Embryonen (27,4 Prozent), die ihr unterzogen wurden, noch einmal durch Methoden der Pränatalen Diagnostik überprüft.



Ineffektiv und riskant

Fassen wir zusammen: Die der PID vorausgehende künstliche Befruchtung ist auch mehr als ein Vierteljahrhundert nach ihrer Erfindung aufgrund der geringen Erfolgsrate ein höchst ineffektives Verfahren, das wegen der hohen verabreichten Hormondosen erhebliche gesundheitliche Risiken für die Frauen mit sich bringt, die sich ihm unterziehen. In rund einem Viertel der Fälle erspart sie den Eltern weder Spontanaborte und Totgeburten noch Schwangerschaftskonflikte und Pränatale Diagnostik. Im Gegenteil: Dort wo die künstliche Befruchtung mit einem Übererfolg einhergeht, gebiert sie einen zusätzlichen Konflikt. Was dieser Konflikt mit den Betroffenen macht, vor allem mit den schwangeren Frauen, kann – wer starke Nerven hat – etwa in der vom „ABC-Club“, einem Selbsthilfe-Verein für Eltern von Mehrlingen, herausgegebenen Broschüre „Fetozid – Gedanken – Erfahrungen“ nachlesen.

Es gibt also gute Gründe, die Behauptung, die PID sei ein medizinisches Verfahren, das schwere Schwangerschaftskonflikte vermeiden helfe und genetisch schwer belasteten Eltern das Ja zum Kind erleichtere, auch mit alleinigem Blick auf das Leid der Eltern für ziemlich blauäugig zu halten.

Geht man nun noch, anders als die Mehrheit der PID-Befürworter, davon aus, dass der Embryo keineswegs wie von Zauberhand von einem „Nicht-Menschen“ zu einem „Schon-Menschen“ mutiert, sondern davon, dass sich der Mensch, wie die Embryologie längst überwiegend lehrt, als Mensch entwickelt, dann kann von einem humanen medizinischen Verfahren erst Recht keine Rede sein. Denn dann müssen neben die 1.206 lebend geborenen Kinder, die einer Laborzeugung in einem der über den Globus verstreuten 57 PID-Zentren zu verdanken sind, 39.014 Embryonen gestellt werden, die einzig und allein zu diesem Zweck gezeugt wurden, jedoch niemals das Licht der Welt erblicken werden.



Voll verantwortlich

Auch das von Befürwortern der PID an dieser Stelle gerne zur Rechtfertigung angeführte „Argument“, die „Natur selektiere schließlich auch“ – gemeint ist, dass sich auch bei einem Verzicht auf Kontrazeptiva nicht jeder natürlich gezeugte Embryo erfolgreich in eine Gebärmutter einnistet und dort bis zur Geburt verbleibt –, vermag nicht zu überzeugen.

Denn wer meint, so argumentieren zu dürfen, der begeht tatsächlich einen klassischen naturalistischen Fehlschluss. Er könnte genauso gut behaupten, aus der Tatsache, dass Stürme bisweilen Ziegel von den Dächern der Häuser fegen, die Menschen hier und da auch tödlich treffen, folge, dass der Gesetzgeber auch Menschen erlauben müsse, Ziegel vom Dach zu werfen, ohne für etwaige Kollateralschäden geradestehen zu müssen. Von Menschen vollbrachte Taten müssen sich nämlich, anders als das „Handeln“ der Natur, stets rechtfertigen lassen.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016