Außerhäusliche Tagesbetreuung von Kleinkindern

24. Mai 2012 | von

Der Ausbau der Betreuungsplätze für unter Dreijährige schreitet in Deutschland immer weiter voran. Bis zum Jahr 2013 wird bundesweit im Durchschnitt für jedes dritte Kind unter drei Jahren ein Betreuungsplatz zur Verfügung stehen. Zum selben Zeitpunkt erhält jedes Kind mit Vollendung des ersten Lebensjahres einen Rechtsanspruch auf Förderung und Bildung in einer Kindertageseinrichtung oder in einer Tagespflegestelle. Doch wie wirkt sich außerhäusliche Pflege von Kleinkindern auf deren Entwicklung aus? Wäre ein Betreuungsgeld für zu Hause erziehende Eltern die bessere Alternative? Diesen Fragen geht unsere Autorin nach und bietet Entscheidungshilfen für betroffene Mütter und Väter.



Die kontroverse Diskussion in den Medien entzündet sich am Stichwort „Betreuungsgeld“. Zumeist stehen die Argumente im Zusammenhang mit ökonomischen oder politischen Überlegungen. Auch unter den katholischen Bischöfen und Verbänden lässt sich keine einheitliche Argumentationslinie feststellen. Der bayerische Landes-Caritasdirektor Bernhard Piendel betont, dass in der Öffentlichkeit die falschen Alternativen, nämlich die Wahl zwischen institutioneller Betreuung oder Elternförderung, diskutiert würden. Ziel der Caritas sei es nicht, möglichst schnell viele Kinder aufzunehmen, sondern eine möglichst hohe Qualität zu bieten.

Der Würzburger Bischof Friedhelm Hofmann warnt davor, das Wohl der Kinder hinter die Interessen der Wirtschaft an einem möglichst frühen Wiedereinstieg der Frauen in den Arbeitsmarkt zu stellen. Der Eichstätter Bischof Gregor Maria Hanke sieht mit der Einführung eines Betreuungsgeldes eine begrüßenswerte Würdigung der hohen Erziehungsleistung der Eltern verbunden. Die bayerische Landesvorsitzende des Sozialdienstes Katholischer Frauen, Elisabeth Maskos, hat die Interessen der Frauen im Blick. Denn diese müssten – um ihre Existenz zu sichern – häufig berufstätig sein. Zudem sei es eine Frage der Gleichberechtigung, dass beide Partner ihren Beruf ausüben können. Tatsache ist, dass der Ausbau außerfamiliärer Betreuungsplätze gravierende Auswirkungen auf das Lebensumfeld sehr vieler Kleinkinder hat.


RISIKEN UND NEBENWIRKUNGEN

Über Risiken und Nebenwirkungen aus psychologischer Sicht wird öffentlich wenig diskutiert. In diesem Punkt besteht ein dringender Nachholbedarf. Denn einerseits legen die ersten Lebensjahre die Basis für die gesunde Entwicklung des Kindes und die Entfaltung seiner Lernpotenziale. Zum anderen liegen inzwischen auch Studien aus Amerika vor – ein Land, in dem die außerhäusliche Tagespflege von Kleinkindern mittlerweile der Regelfall ist –, die auf das Risiko einer Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten hinweisen. Weitere Untersuchungen belegen ein ungewöhnlich hohes Tagesprofil des Stresshormons Cortisol bei Kleinkindern in Tageseinrichtungen – ein untrügliches Zeichen für eine erhebliche Stressbelastung des Kindes.

Grund genug, kritisch nachzufragen. Die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie leisten zur Abschätzung der Risiken und Nebenwirkungen früher außerhäuslicher Tagesbetreuung einen wertvollen Beitrag.



FRÜHKINDLICHE ENTWICKLUNG UND BILDUNG

Die enge emotionale Beziehung zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen ist für die frühkindliche Entwicklung und Bildung von entscheidender Bedeutung. Zusammen mit dem Erkundungsverhalten sichert das Kind damit sein Überleben und seine weitere Entwicklung.

Das Bindungsverhalten des Kindes besteht anfangs aus noch einfachen Verhaltensmustern, wie z. B. Weinen oder Anklammern. Durch die körperliche Nähe zur Bindungsperson werden Gefühle wie Fremdheit, Unwohlsein oder Angst und die damit verbunden Erregungszustände beendet. Die Zuwendung der Bindungsperson wirkt beim Kind stark stressreduzierend.

Die weitere Entwicklung vollzieht sich Schritt um Schritt. In einer ersten Phase ist das Kind ohne Unterschied der Person allgemein sozial ansprechbar und es richtet seine Signale ohne Unterschied an die Umwelt. Innerhalb von etwa drei Monaten lernt es, seine Beziehungspersonen zu unterscheiden und tritt in die Phase der Personen unterscheidenden Ansprechbarkeit ein. Es richtet nun seine Signale bevorzugt an eine speziell vertraute Person. Von eigentlicher Bindung spricht die Forschung, wenn sich das Kind ab etwa sieben bis acht Monaten aktiv in die Nähe der Bezugsperson bringen kann und diese in der Abwesenheit vermisst bzw. sein Verhalten auf das Ziel richten kann, die bevorzugte Bezugsperson in seine Nähe zu bringen. Die letzte Etappe stellt sich erst nach drei Jahren ein und wird als zielkorrigierte Partnerschaft bezeichnet. Ab diesem Punkt der Entwicklung versucht das Kind, je nach Situation das Verhalten seiner Bezugspersonen zu beeinflussen.



BILDUNGSQUALITÄT IST BINDUNGSQUALITÄT

Die aufgebauten Bindungen sind eindeutig hierarchisch geordnet, d. h. eine Person wird der anderen vorgezogen. Besteht einmal eine derartige Bevorzugung, so kann diese nicht willkürlich ausgetauscht werden. Längere Trennungen führen zu Stress- bzw. Trauerreaktionen.

In der Qualität der Bindungsbeziehungen unterscheiden sich die Kinder je nach gemachter Vorerfahrung. Von großer Bedeutung für den Aufbau einer vertrauensvollen Bindung ist das feinfühlige Antwortverhalten der Bindungsperson. Sie muss in der Lage sein, sich in die Gefühlswelt des Kindes hineinzuversetzen, sowie seine Signale richtig zu interpretieren und prompt und angemessen darauf reagieren.

Die Forschung unterscheidet zwischen sicherer und unsicherer Bindungsbeziehung. Kinder mit sicherer Bindungsbeziehung suchen und wahren in Belastungssituationen Kontakt zur Mutter. Ein Fremder vermag sie in dieser Situation nicht zu trösten. Kehrt die Mutter zurück, zeigen sie Freude am engen Kontakt und entspannen in ihren Armen.



ANZEICHEN UNSICHERER BINDUNG

Kinder mit vermeidend-unsicherer Bindung zeigen alleingelassen kaum Kummer, bestenfalls Unmut über das Alleinsein. Mutter und Fremde behandeln sie fast gleich. Kehrt die Mutter zurück, ignorieren sie sie oder begrüßen sie nur beiläufig. Wenn die Mutter sie aufnimmt, reagieren sie nicht entspannt.

Kinder mit ambivalent-unsicherer Bindung zeigen ihren Kummer deutlich, wenn sie alleingelassen werden. Wenn die Mutter zurückkehrt, verhalten sie sich zwiespältig: einerseits suchen sie den Kontakt zur Mutter, andererseits widerstreben sie auch ihren Kontaktversuchen.

Das Bindungsverhalten des Kindes steht im Zusammenhang mit Verhaltensproblemen im Vorschulalter. Wie Studien belegen, sind Kinder mit sicherem Bindungsverhalten sozial kompetenter in Konfliktsituationen und zeigen weniger Feindseligkeit und insgesamt weniger Verhaltensprobleme. Die Qualität der Bindungsbeziehung kann sich aber auch bereits im zweiten Lebensjahr ändern. Durch schwerwiegende Veränderungen im Lebensumfeld des Kindes, z. B. ein früher Krippenbesuch ohne Eingewöhnungszeit, kann ein Wechsel von einer sicheren zu einer unsicheren Bindung erfolgen.



ERKUNDUNGSVERHALTEN ALS TEST

Neben dem Bindungsverhalten ist ein zweiter wichtiger Entwicklungsmotor das Explorationsverhalten. Mit ihm erkundet das Kind auf aktive Weise seine Umwelt. Allerdings zeigt es dieses Erkundungsverhalten erst dann, wenn sein Bindungsverhaltenssystem beruhigt ist. Kommt es bei seinen Erkundungsversuchen zu einer Überforderungssituation, wird das Kind wieder zu seiner Bindungsperson zurückkehren, um seine emotionale Sicherheit wieder zu erlangen. Erst danach wird es erneut auf Entdeckungsreisen gehen. Die Einblicke in Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie machen deutlich, wie wichtig die hohe Qualität frühkindlicher Bindungsbeziehungen für die weitere Entwicklung des Kindes ist.

Damit stellt sich die Frage, welche Erfahrungen Kinder in früher außerfamiliärer Tagesbetreuung machen und wie sie ihre weitere Entwicklung beeinflussen.



DIE NICHD-SECCYD-STUDIE IN DEN USA

Die Vereinigten Staaten von Amerika verfügen auf diesem Gebiet über jahrzehntelange Erfahrung, denn die große Mehrheit der erwerbstätigen Mütter nimmt dort bereits während des ersten Lebensjahres ihres Kindes die Berufstätigkeit wieder auf.

Wissenschaftliche Studien, die sich kritisch mit den Entwicklungsfolgen für Kinder auseinandersetzen, führten zu einer hitzig ausgetragenen öffentlichen Diskussion und in Folge zu einer groß angelegten staatlichen wissenschaftlichen Untersuchung: der NICHD-SECCYD Studie (National Institute of Child Health and Human Development – Study of Early Child Care and Youth Development).

Im Auftrag der Studie wurden in den USA mehr als 1000 Kinder an zehn Standorten von der Geburt bis zum 15. Lebensjahr hinsichtlich möglicher Entwicklungseffekte der frühen Tagesbetreuung beobachtet. Dabei standen die kognitiv-sprachlichen Fähigkeiten, die schulischen Leistungen und die soziale und emotionale Entwicklung im Zentrum. Im Bericht der Forscher wurde deutlich, dass frühe Tagesbetreuung sowohl mit Risiken als auch mit Chancen verbunden ist.



PLUSPUNKTE UND RISIKEN

Zu den festgestellten Pluspunkten zählen bessere kognitiv-sprachliche und schulische Leistungen in den ersten Schuljahren. Allerdings war das Ergebnis abhängig von der Qualität der Tagesbetreuung. Als Risiken nannten die Forscher: eine höhere Rate an Problemverhalten (Unfolgsamkeit, Aggressivität) in der Kindheit sowie Risikobereitschaft und Impulsivität in der Jugendzeit. Das Ergebnis war abhängig vom zeitlichen Umfang des Aufenthalts in Kindertageseinrichtungen. Damit ergeben sich Hinweise auf eine möglicherweise gestörte Entwicklung der Bindungsbeziehung.

Insgesamt betrachtet verdeutlicht die aufwendige Studie – und damit liegt sie im Trend vieler anderer Studien auch in Europa –, dass die Erfahrungen der Kinder in außerhäuslicher Tagesbetreuung sehr vielschichtig sind und wesentlich vom zeitlichen Betreuungsumfang und von der Aufmerksamkeit und Stimulation durch das Betreuungspersonal, also von der Betreuungsqualität, abhängen.



WAS MACHT QUALITÄT AUS?

Was macht diese Qualität aus, d. h. unter welchen Bedingungen gedeihen Kinder in den ersten Lebensjahren bzw. welche Faktoren wirken sich negativ auf ihr Wohlbefinden aus?

Zieht man die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie zu Rate, lassen sich eine Reihe von Empfehlungen ableiten.

• Aufgrund ihrer sich erst entwickelnden Beziehungsbindung und der essentiellen Bedürfnisse, die eine prompte Reaktion der Beziehungsperson erfordern, ist eine Gruppenbetreuung für Kindern unter zwei Jahren wenig empfehlenswert.

• Zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr sollte die maximale außerhäusliche Betreuung ca. 4 Stunden am Tag nicht überschreiten, damit dem Kind noch genügend Wachzeit zum Bindungsaufbau mit seinen Eltern bleibt.

• Kleinstkinder benötigen zur Stabilisierung ihrer Bindungsentwicklung eine Eingewöhnungszeit in der Tagesbetreuung. In einem Zeitraum von mindestens vier bis sechs Wochen soll die vertraute Bezugsperson anwesend sein.

• Erst ab dem dritten Lebensjahr ist eine ganztägige außerfamiliäre Betreuung in einer Gruppensituation grundsätzlich möglich. Allerdings gilt es auch dann, dem individuellen Entwicklungsstand des Kindes Rechnung zu tragen.

• Die Qualität der außerfamiliären Betreuungssituation hängt entscheidend von der pädagogischen Fachkraft und den ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen ab. Hier sollte deutschlandweit ein einheitlicher und verbindlicher Standard entwickelt werden, der sich an hohen Qualitätsvorgaben orientiert.

Selbst die qualitätsvollsten Erzieherin-Kind-Bindungen können jedoch niemals die Beziehung zur Mutter bzw. zu den Eltern ersetzen. Deshalb sollte familienbezogene Unterstützung durch den Staat auch eine angemessene Würdigung der hohen Erziehungsleistung der Eltern beinhalten, wie sie der Artikel an der Bindungsentwicklung beispielhaft verdeutlichte. Gerade in diesem Punkt besteht ein dringender Nachholbedarf in der öffentlichen Diskussion.


Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016