Barmherzigkeit im Islam und im Christentum

Der vor kurzem emeritierte Lehrstuhlinhaber im Fach Fundamentaltheologie an den Universitäten Bamberg und Würzburg und Ökumenereferent im Erzbistum Bamberg beleuchtet das Thema „Barmherzigkeit“ im Islam und im Christentum.
16. Mai 2016 | von

Nach der Darstellung des Koran ist die Barmherzigkeit eine Grundeigenschaft Gottes. In den Suren, die aus der mittleren Periode des Wirkens Muhammads in Mekka (ca. 615-620) stammen, ist der Gottesname „der Barmherzige“ sogar häufiger als die Anrede „Allah“. In den Suren, die später in Medina zustande kommen, erscheint er dann allerdings kaum noch. Der Koran enthält 114 Suren. Bis auf Sure 9 wird jede Sure mit der sogenannten Basmala, d.h. der Formel „Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen“, eingeleitet, die auch sonst im Alltagsbeten der Muslime eine große Rolle spielt. Diese Barmherzigkeit, die Gott sich selbst als Verpflichtung auferlegt hat (Sure 6,12.54), zeigt sich im Wechsel der Jahreszeiten und in der Fruchtbarkeit der Natur (Sure 7,56-58; 30,50; 42,28) und in der Geschichte seines Handelns mit den Menschen und hier besonders in der Propheten- und Offenbarungsgeschichte (6,154; 7,154; 21,107; 28,43; 46,12). 

Barmherzigkeit mit Bedingungen

Allerdings sind Gottes Barmherzigkeit und Liebe an Bedingungen geknüpft, die von den Menschen zu erbringen sind. Gott liebt die Menschen, die an ihn glauben, ihn lieben und das Gute tun, d.h. vor allem die fünf „Säulen“ (das Bekenntnis zu Gott und seinem Propheten Muhammad, Beten, Fasten, Almosengeben und die Wallfahrt nach Mekka), die das Kernstück der islamischen Ethik bilden. Gott ist denen gegenüber barmherzig, die umkehren, wie es in Sure 3,31 heißt: „Wenn ihr Gott liebt, dann folgt mir, damit (auch) Gott euch liebt und euch eure Schuld vergibt! Gott ist barmherzig und bereit zu vergeben.“ Ähnlich formuliert es Sure 19,96: „Denen, die glauben und tun, was recht ist, wird der Barmherzige (dereinst) Liebe zukommen lassen.“ Auf der einen Seite ist für den Islam Gott absolut frei und souverän – auch in seiner Barmherzigkeit, denn „er bestraft, wen er will, und erbarmt sich, wessen er (sich erbarmen) will“ (Sure 29,21). Auf der anderen Seite gilt aber genauso (Sure 29,23): „Diejenigen, die an die Zeichen Gottes und (die Tatsache), dass sie (dereinst beim Gericht) ihm begegnen werden, nicht glauben, haben nicht mehr auf meine Barmherzigkeit zu hoffen.“ 

Richter und Herr

Die islamische Tradition unterscheidet deshalb Gott als Richter (der gerecht handelt und den Übeltäter spätestens am Tag des Gerichtes nach Sure 2,81 für sein böses Handeln bestraft) und Gott den Herrn (der nach freiem Ermessen unter Umständen sogar die schlimmsten Missetaten vergeben kann, ausgenommen aber immer die in jedem Fall auch von Gott nie zu vergebenden Sünden der Leugnung Gottes im Atheismus oder der „Beigesellung“ eines Geschöpfes zu Gott im Polytheismus). Sure 55, die die Überschrift „Der Barmherzige“ (als Beschreibung Gottes) trägt, zeigt die Barmherzigkeit Gottes auf in seinem ständigen fürsorgenden Einsatz für die Schöpfung, die er dem Menschen überantwortet hat, aber auch in seinem Gerichtshandeln, in dem er die Frevler bestraft und die Gläubigen, die Gottes Gebote erfüllen, belohnt. 

Unglaube muss verschwinden

Die Härte Gottes gegenüber dem Unglauben findet einen Reflex in dem Verhalten des Propheten Muhammad gegenüber Menschen, die in Frage stellen, dass er als Gesandter Gottes und „Siegel“ der Propheten die irrtumslose und definitive Offenbarung Gottes präsentiert, wie etwa in der Abrechnung mit dem jüdischen Stamm der Quraiza in Medina. 

Wenn der Islam von Gottes Barmherzigkeit spricht, meint er die Gesamtheit des Handelns Gottes in und an der Welt (unter Einschluss seiner Strafaktionen gegen ungläubige Geschöpfe). Der Mensch hat die Aufgabe, diese Barmherzigkeit im Alltag zu zeigen, d.h. im Mitgefühl, in der Hilfe, in der Sympathie und Solidarität mit den (notleidenden) Glaubensschwestern und -brüdern, aber auch in der Verwerfung des Unglaubens. Allerdings ist in der muslimischen Tradition eine gewisse Scheu in der Anwendung des Begriffs „Barmherzigkeit“ auf Menschen festzustellen. Lieber werden Worte verwendet, die man mit „wohltätig“ o.ä. übersetzen kann.

Anders bei Jesus

Charakteristisch anders ist das Gottesbild in der Predigt Jesu in den Gleichnissen, aber auch in seiner Praxis, konkret in den Mahlgemeinschaften (Mk 2,13-17; Mt 11,19), die er zum Ärgernis mancher seiner jüdischen Zeitgenossen mit Menschen hält, die in der populären Auffassung als Sünder und Sünderinnen gelten. Auch Jesus fordert ein persönliches Bekenntnis zu ihm, das dem Menschen im Weltgericht Gottes eine Hilfe sein kann (Lk 12,8). Aber dieses Bekenntnis ist nicht ein bloßes Aufsagen von Wortbeteuerungen, sondern das Tun dessen, was Jesus fordert (Mt 7,21-23). Im Gleichnis vom Weltgericht (Mt 25,31-46) ist das einzige Kriterium das Tun der sieben Werke der Barmherzigkeit, das dann den handelnden Personen, die das unter Umständen gar nicht wussten, als Dienst an Jesus Christus entschlüsselt wird. Die Kirchenkonstitution „Lumen Gentium“ des 2. Vatikanischen Konzils hat deshalb in Artikel 16 allen Menschen in allen Religionen und sogar den Atheisten (!) die Möglichkeit des Heils zusprechen können, wenn sie („nicht ohne die göttliche Gnade“) sich darum bemühen, „ein rechtes Leben zu führen“. 

Widerspruch zum Koran

In einem zentralen Punkt widerspricht Jesus in seiner „Reich Gottes“-Botschaft ausdrücklich einer Darstellung, wie sie im Koran zum Ausdruck kommt. Die Liebe und die Barmherzigkeit Gottes sind nicht die Reaktion auf menschliche Umkehr und Zuwendung zu Gott. Im Gleichnis vom verlorenen Sohn (oder vom barmherzigen Vater) (Lk 15,11-32) geht der Vater dem Sohn entgegen, erbarmt sich über ihn, bevor dieser sein Schuldbekenntnis ablegen kann, und wirbt sogar beim älteren Sohn, dem Vertreter der alten Ordnung der strafenden Gerechtigkeit, um Verständnis. 

Liebe und Barmherzigkeit Gottes sind an keine vom Menschen zuvor zu erbringenden Bedingungen geknüpft. 

Barmherzigkeit dank Gott allein

Jesus schildert in seiner Predigt und besonders in den Gleichnissen, dass das „Reich Gottes“ nicht durch menschliches Tun, also etwa durch den Gottesdienst im Tempel, wie die Sadduzäer meinten, durch die Heiligung des Alltags, wie die Pharisäer erklärten, durch den Rückzug von der Welt in eine abgesonderte heilige Gemeinschaft, wie sie die Essener oder die Leute von Qumran verstanden, oder gar durch die Anwendung von Gewalt, wie die Zeloten sie praktizierten, komme, sondern allein durch Gottes Initiative und vor jedem menschlichen Handeln Wirklichkeit werde. Der Mensch muss also nicht etwas tun, damit Gott ihm gegenüber barmherzig ist, sondern weil Gott schon längst gerade den Sündern und Sünderinnen gegenüber seine Barmherzigkeit gezeigt hat, kann nun der Mensch in einem echten Sinn umkehren zu ihm. Allerdings ergibt sich dann für den Menschen die Forderung, die bedingungslose und als Geschenk erfahrene Barmherzigkeit in seiner eigenen Lebensführung im Umgang mit den notleidenden oder schuldig gewordenen Mitmenschen weiterwirken zu lassen (Mt 18,23-35; Lk 6,35). 

Barmherzig handeln als Konsequenz

Zusammenfassend gesagt: In der Botschaft Jesu ist die menschliche Barmherzigkeit nicht die Voraussetzung für die Barmherzigkeit Gottes und auch nicht ein Verhalten, das gleichsam gesetzlich eingefordert werden kann, sondern die geradezu folgerichtige Konsequenz der erfahrenen Barmherzigkeit Gottes, wie sie im Lebensbeispiel Jesu zum Ausdruck kommt (Lk 6,36; vgl. 6,27-34). Wenn deshalb ein glaubender Mensch nicht barmherzig ist, dann hat er entweder nicht begriffen, wer Gott ist, oder er hat – aus welchen Gründen auch immer – (noch) nicht erfahren dürfen, wie barmherzig Gott selber ist. Menschliche Barmherzigkeit zeigt sich nicht im Gefühl des Mitleids, sondern in der helfenden Tat, die wichtiger ist als das Beobachten religiöser Vorschriften (Mt 23,23) oder sogar als der Kult (Mt 9,13; 12,7). Sie gilt allen Menschen, den Notleidenden, den Fremden und sogar den Feinden, auch wenn es in der Geschichte des Christentums und schon im Neuen Testament (2 Joh 10f) immer wieder sektenhafte Versuche gab, die Bruder- und Schwesterliebe nur auf die korrekt an Christus Glaubenden zu beschränken.

Zuletzt aktualisiert: 11. Oktober 2016
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