Bedrohliche Seelenfinsternis

02. November 2005

Die Depression ist eine Krankheit unserer Zeit. In den vergangenen Jahren wurde besonders in den hoch industrialisierten Ländern ein starker Anstieg beobachtet. Oft erkennen die Betroffenen nicht, dass sie krank sind. Welche Symptome Hinweise geben, was die Ursachen der psychischen Störung sind und wie ihr begegnet werden kann, erläutert unsere Autorin in ihrem Artikel.   

„Die tollsten und ergreifendsten Dramen spielen bekanntlich nicht im Theater, sondern in den Herzen der Menschen, an denen man achtlos vorübergeht, und die höchstens durch einen Zusammenbruch der Welt verkünden, was für Schlachten in ihrem Innern geschlagen werden“ (C.G. Jung, Briefe II, S. 195) Was der Psychiater C.G. Jung als innere Schlachten umschreibt, die oft nur durch einen Zusammenbruch des betroffenen Menschen zu Tage treten, bezeichnet die Wissenschaft auch als Depression. Sie ist eine Gemütskrankheit, die sich in seelischen und körperlichen Beschwerden - ohne organischen Befund - äußert. Dabei können Zeitabschnitte tiefster Traurigkeit und ausgeprägter Schwermut auftreten, die über ein normales Maß hinausgehen. Dieser Zustand bleibt meistens ungewöhnlich lange bestehen: Monate bis Jahre. Die Krankheit verändert den Menschen. Für den Betroffenen selbst ist dieser Zustand nicht kontrollierbar.
Wenn die Depression nicht spätestens sechs Wochen nach Ausbruch behandelt wird, besteht die Gefahr, dass sie chronisch wird. Der Anlass, der erneut eine Depression auslöst, wird mit jedem Mal geringer und somit die Abstände für eine erneute Depression immer kürzer.

Zeitalter der Depression. Immer häufiger und immer früher entwickeln Menschen, besonders in den hoch industrialisierten Ländern, eine Depression. Allgemein heißt es, die psychische Erkrankung nehme zu. Experten befürchten eine epidemische Ausbreitung und manche behaupten sogar, wir lebten in einem „Zeitalter der Depressionen“. Doch sollte man bei solchen Erhebungen zunächst sorgfältig prüfen, ob es sich um eine Stimmungsschwankung oder eine Depression handelt. Gefühle von Traurigkeit und Niedergeschlagenheit kennen fast alle Menschen. Sie sind wichtig, um Krisen zu meistern und gestärkt daraus hervorzugehen.
Sicher ist auch, dass die Behandlung von Depressionen in den vergangenen Jahren deutlich angestiegen ist. Während früher nur hinter vorgehaltener Hand darüber gesprochen wurde, sind Depressionen heute gesellschaftsfähiger geworden.
Schätzungsweise sind derzeit in Deutschland 5 Prozent der Bevölkerung an einer behandlungsbedürftigen Depression erkrankt. Das sind etwa vier Millionen Menschen, quer durch alle Altersstufen. Jene, die irgendwann im Laufe ihres Lebens daran erkranken, ist dreimal so groß. Frauen leiden laut Weltgesundheitsorganisation zwei bis dreimal häufiger als Männer unter der Seelenkrankheit.
Nicht selten führt die Depression zum Selbstmord, fast jeder sechste schwer daran Erkrankte bringt sich um.

Vielfältige Ursachen. Die Ursachen für eine Depression sind vielfältig. Warum manche Menschen erkranken und andere nicht, ist bis heute unklar. Fest steht, dass eine Depression einen seelisch stabilen Menschen nicht aus heiterem Himmel trifft. Fachleute sind sich einig, dass ein Trauma vorausgegangen sein muss, wenn der gesunde Selbstschutz gegenüber Belastungen derart geschwächt ist, dass ein Hang zu negativen Gefühls- und Verhaltensmustern vorhanden ist. Ein Übermaß an Belastungen kann den Ausbruch einer Depression hervorrufen. Oft reichen Traumata bis in die Kindheit zurück: fehlende Geborgenheit, mangelnde Liebe, Verlusterfahrungen, Missbrauch und andere. Häufig wird die seelische Störung durch ein tragisches Verlusterlebnis ausgelöst, wie Tod, Unfall oder Trennung von einem geliebten Menschen.
Die gesellschaftliche Situation mit den Veränderungen der sozialen Strukturen und unsere moderne Lebensweise haben einen entscheidenden Einfluss auf den Ausbruch der Depression.
Der allzu rasche Bruch mit Traditionen und verloren gegangene religiöse Bindungen entwurzeln den Menschen. Es kommt zur Vereinsamung durch überholte Lebensstrategien und den Ausfall fester Strukturen. Statt Tugenden wie Treue und Pflichtbewusstsein, die für eine langfristige Lebensplanung stehen, sind heute Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Kurzentschlossenheit gefragt.
Der Zerfall der Familien mit zunehmender Zahl von Scheidungen und dem Eingehen neuer Beziehungen, Arbeitslosigkeit, zunehmender Materialismus, Technisierung von Natur und Umwelt tun ihr übriges. Für viele Menschen sind das Belastungen, denen sie sich nicht gewachsen fühlen.
Außerdem steigt der Anteil älterer Menschen in der Gesamtbevölkerung. Im Alter erhöht sich die Disposition für diese Krankheit. Bei über 80-Jährigen sind schätzungsweise 42 Prozent davon betroffen.

Zu viele Stresshormone. Bisher nahm man an, dass ein Mangel der Neurotransmitter, das sind die chemische Botenstoffe Serotonin und Noradrenalin, die Nervensignale weiterleiten, die Ursache sei.
Inzwischen hat man durch Computeruntersuchungen festgestellt, dass wichtige Hirnstrukturen bei depressiven Personen im Vergleich mit Gesunden deutliche Veränderungen aufweisen. Noch ist nicht geklärt, wie es dazu kommt.
Forschungen haben gezeigt, dass möglicherweise ein wichtiges Protein, das bei der Stressregulation eine Rolle spielt, fehlt: Bei Stress werden auf Anregung zweier wichtiger Drüsen im Gehirn Stresshormone in der Nebennierenrinde gebildet. Über einen Rückkoppelungsmechanismus wird beim Gesunden die Produktion gestoppt, sobald die Extremsituation vorbei ist. Bei Menschen mit einer Depression funktioniert diese Kontrolle nicht: Sie haben fast immer einen erhöhten Spiegel der Stresshormone im Blut.
Bestimmte Medikamente können ebenfalls eine Depression auslösen oder verstärken. Dazu gehören kortisonhaltige Substanzen, Kontrazeptiva („die Pille“) und  Herz-Kreislauf-Präparate (Beta-Blocker).

Apathisch und aggressiv. Den Erkrankten begleitet eine quälende Schwermut. Er ist lustlos, kann sich über nichts freuen. Er ist unfähig zu genießen, zu fühlen, zu trauern. Er ist energielos, matt, apathisch, während er innerlich „unter Strom steht“, fahrig, nervös und unruhig ist.
Er sieht alles durch „die schwarze Brille“. Er bewertet alles negativ und hat eine Neigung zur Selbstzerstörung. Er hat keinerlei Interesse, zeigt völlige Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit auf allen Gebieten. In diesem Zustand ist der Betroffene sehr leicht verletzlich, überempfindlich, gereizt und aggressiv. Minderwertigkeitsgefühle begleiten ihn, gepaart mit äußerst negativer Selbsteinschätzung. Er ist entscheidungsunfähig und besetzt von Angst. Schuldgefühle früherer oder aktueller Ereignisse können ihn plagen. Sie werden von ihm maßlos überbewertet.
Depressive leiden unter Beziehungsstörungen; sie fühlen sich innerlich erkaltet. Entsprechend werden sie von der Umwelt wahrgenommen. Sie erleben eine innere Leere, Ein Absterben aller Gefühle, sie wirken wie versteinert. Sie werden von Ängsten, Misstrauen und Zwangsideen gefangen gehalten.

Körperliche Symptome. Bei der Depression finden sich vielfältige körperliche Störungen, meist ohne nachweisbare Ursache. Ein sicheres Zeichen sind Ein-, vor allem Durchschlafstörungen. Betroffene wachen früh auf und können nicht wieder einschlafen. Vielfach kommt es zu Gewichtsverlust, hin und wieder auch zur Gewichtszunahme. Dieser Zustand ist gekoppelt mit Appetitlosigkeit und Heißhungerattacken. Magen-Darm Probleme können sich einstellen mit Völlegefühl, Blähungen, Magendruck, Verstopfung oder Durchfall.
Erkrankte klagen über Spannungskopfschmerzen („Reifen um den Kopf“), ihre Seh- und Hörfähigkeit sind manchmal gestört. Sie empfinden einen Druck auf der Brust in der Herzgegend und leiden unter Atemnot und Kreislaufstörungen.
Weitere vegetative Anzeichen sind: „Kloß im Hals“, Mundtrockenheit, Zungenbrennen, Verspannungen der Muskulatur, schwere Beine, Hitzewallungen und Kälteschauer.
Stark ausgeprägte Todeswünsche sind eine häufige Begleiterscheinung der Depression. Sie sollten unbedingt ernst genommen werden. Häufig verschwinden die Selbstmordphantasien unmittelbar vor einem Selbstmordversuch. Menschen mit einer Depression leiden in höchstem Maße und bedürfen dringend ärztlicher Hilfe.

Formen. Die Unipolare Depression ist die häufigste depressive Erkrankung. Unipolar (einpolig) heißt diese Form, weil der Erkrankte nur depressive, jedoch keine manischen Phasen erleidet. Hauptsymptome sind ein morgendliches Tief, Schlafstörungen in der zweiten Nachthälfte und Niedergeschlagenheit.
Bei der bipolaren Depression wechseln sich depressive und manische Phasen  ab. In der Manie zeigen die Betroffenen ein völlig überzogenes Selbstwertgefühl. Sie können über Wochen nächtelang durcharbeiten ohne Ermüdungserscheinungen. Oft ist diese Form mit einer Sucht gekoppelt (Alkohol, Drogen) und mit einem hohen Selbstmordrisiko verbunden.
Bei der Dysthymie sind die Symptome etwas leichter. Sie beginnt allerdings schon im Jugendalter, erstreckt sich über weite Lebensphasen und verläuft chronisch. Betroffene leiden unter vielen Ängsten und sind sehr pessimistisch. Sie können ihre Alltagsarbeit weitgehend bewältigen.
Die Zyklothymie ist geprägt durch den Wechsel manischer und depressiver Phasen. Die Symptome sind weniger stark ausgeprägt.
Saisonabhängig ist die Winterdepression. Ihre Symptome treten regelmäßig im Herbst oder Winter auf und verschwinden im Frühjahr wieder. Im Vordergrund steht nicht die depressive Stimmung, sondern verminderte Energie.

Von Antidepressiva bis Schlafentzug. Leider bleibt bei über 50 Prozent der Erkrankten die Depression unerkannt. Das ist insofern bedauerlich, da die Krankheit heute kein unabänderliches Schicksal mehr ist. Grundsätzlich richtet sich die Therapie nach dem Schwergrad der Erkrankung. Die medikamentöse Behandlung mit Antidepressiva hat zum Ziel Angst abzubauen, die Stimmungslage aufzuhellen, innere Unruhe und körperliche Beschwerden zu lindern.
Antidepressiva können den gestörten Hormonspiegel ausgleichen, aber nicht den Mangel an gesunden Gefühlen und Verhaltensmustern. Dazu dient eine  begleitende Gesprächstherapie. Diese leitet den Kranken an, neue Wege zu gehen. So liegt das Hauptgewicht nicht mehr in der Vergangenheitsbewältigung, sondern darin, mit dem Depressiven neue Verhaltensmuster und gesunde Gedankengänge einzuüben. Ziel ist, die depressiven Phasen zu durchbrechen, zum Abklingen zu bringen und die Lebensfähigkeit wieder herzustellen. Der Therapeut will den Kranken befähigen, ungünstige Gedanken und Gefühle zu erkennen und rechtzeitig aus den alten Gedankenmustern „auszusteigen“.
Ein Rückfallrisiko schwingt immer mit. Deshalb bieten verschieden Kliniken ihren ehemaligen Patienten eine Nachsorge in Krisensituationen an, durch die sie Hilfe und Unterstützung bekommen. Die Verletzlichkeit der Seele bleibt aber bestehen.
Weitere Therapie-Formen wie Schlafentzugstherapie, Lichttherapie und Elektroschocktherapie können je nach Depressionsform zum Einsatz kommen.

Den Kranken annehmen. Der katholische Theologe Romano Guardini sagt: „In ihrem letzten Wesen ist die Schwermut Sehnsucht nach Liebe. Nach Liebe in all ihren Formen und in all ihren Stufen; von der elementarsten Sinnlichkeit bis zur höchsten Stufe des Geistes.“
Doch soviel Liebe wie hier verlangt wird, vermag niemand weiterzugeben. Der Depressive muss lernen, sich selbst anzunehmen und zu lieben. Diesen Prozess kann ein anderer ihm nicht abnehmen. Aber es bleibt dennoch ein beträchtliches Maß an Liebe, das Angehörige und Freunde ihm schenken können, indem sie   zuhören, abwarten, aushalten und ein Stück seines dunklen Weges mitgehen, Entscheidungen und Ängste mittragen. Zuhören heißt, sein Kranksein anerkennen, auf gut gemeinte Ratschläge verzichten, bereit sein, auch zum x-ten Mal die Leidensgeschichte des Depressiven anzuhören, ihm liebevoll die Hand zu reichen, ihn zu streicheln und ihm eine Schulter zum Ausweinen zu bieten. Vielleicht gelingt es auch, ihm  Hoffnung auf Heilung zu schenken.
Wer in einer Depression stecken bleibt, kann das Positive, das auch in ihr liegt –den Auftrag der Wandlung - nicht annehmen. Der Mensch, der dieser Lebensnacht standhält und durch sie hindurch geht, ist ein anderer als er vorher gewesen ist. Das Negative wird sich in positive Inhalte verwandeln.
Jeder ist auf Gott hin angelegt und immer da, wo er vom Wege abkommt, erhält er ein Zeichen, wenn er es wahrnehmen will. In diesem Prozess des Durchleidens erhält der Betroffene Zeichen der Fügung und Führung. Wenn er sie annimmt, wird Gott für ihn sichtbar. Der Leidende selbst wird zum Zeugen des Lichtes, zu dem nur jener gelangen kann, der das Dunkel erfahren hat. 

Tipps gegen Schwermut. Kann man Depressionen vorbeugen? Bis zu einem gewissen Maße schon. Suhlen Sie sich nicht in negativen Gedanken und Aussagen. Umgehen Sie trübe Gedanken, indem Sie sich ablenken.
Bleiben Sie aktiv und stecken Sie sich erreichbare Ziele, das vertreibt Trübsinn.
Sind sie gut zu sich selbst. Sagen sie auch mal „nein“. Üben sie Gelassenheit.
Gehen Sie gegen die Neigung des Rückzugs an und verkriechen Sie sich nicht.
Achten Sie auf viel Bewegung an frischer Luft. Die Natur heilt. Sprechen Sie mit Gott. Vertrauen Sie sich ihm an. Bei ihm können Sie viel Geborgenheit erfahren.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016