Beten auf rechte Art

16. März 2006

An keiner Stelle langweilig ist diese Hinführung und Anleitung zum persönlichen Gebet. Hier entfaltet der Autor die Inhalte seiner jahrzehntelangen geistlichen Bildungsarbeit.  Wer nicht regelmäßig betet, wird auch bald nicht mehr unregelmäßig beten.
Beten lernt man – durch Beten.
Immer wieder fallen Sätze, die sich einprägen, die weiterhelfen
.

 

Solange ein Mensch innerlich lebendig ist, wird er nach dem Grund suchen, aus dem er lebt. Er wird nach einem Wesen suchen, das größer ist als er selbst. Er wird fragen, welchen Sinn all das hat, was ihn umgibt und was geschieht. Dieses Suchen und Fragen ist schon eine erste Form von Beten. In der Bibel lesen wir: „Sucht den Herrn, solange er sich finden lässt; ruft ihn an, solange er nahe ist“ (Jes 55,6).

Sucht den Herrn! Dies ist eine Aufforderung und eine Einladung. Sie gilt heute und hier. Gott suchen – das soll Lebensthema für jeden Menschen werden. Dabei geht es nicht um ein gedankliches Tasten und Grübeln, auch nicht um ein zielloses Umherirren. Auf diesem Weg finden wir Gott nicht. Sucht den Herrn, das heißt aufstehen und sich auf den Weg machen.
Wo finden wir Christen Gott? Gewiss lässt er sich auch finden in der Natur, auf den dunklen und hellen Strecken unseres Lebens, in der Tiefe der Seele und im Innersten, in dem, was uns bewegt. Aber ganz und eigentlich finden wir ihn in Jesus Christus. Deshalb bete mit der Bibel!
Gott ist immer unterwegs zu uns. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber meint sogar, Gott habe einen Drang zu uns Menschen hin. Augustinus sagt: „Die Sehnsucht Gottes ist der Mensch.“ Er ist da, er ist liebend für uns da. So hat er sich in seinem Namen „Jahwe“ geoffenbart. Wer betet, antwortet darauf. Er begegnet einem lebendigen, liebenden Du. Beten wird so eine Frage der Liebe, des Vertrauens, der Hingabe, eine beinahe blinde Hingabe an Gott, der größer ist als ich. In ihm darf ich mich geborgen wissen. Beten kann so eine Zwiesprache sein, wie mit dem besten Freund, meinem Vater, meiner Mutter, denen ich alles sagen und klagen darf.

Ruft ihn an! Wir dürfen und sollen wirklich rufen und schreien. Im Alten Testament finden wir kaum das Wort „Gebet“. Die Psalmen zum Beispiel sprechen nicht abstrakt vom Gebet, sondern vom Vollzug, also wie man betet. Da finden wir Ausdrücke wie: Ich schreie, ich schütte mein Herz aus, ich klage, ich weine, ich seufze, ich lobe, ich tanze, ich singe...
Von den Psalmen und den großen Betern können wir lernen, aus allen Stimmungen und Lagen heraus, auch aus den „unpassenden“, mit Gott zu reden. Alles bringen die Psalmen zur Sprache, was Menschen bewegt: Die Freude und den Dank, genauso wie die Angst, den Hass, erbitterte Fragen und die Dunkelheit im eigenen Inneren. Nichts wird verschwiegen oder verdrängt. Da ist keine Situation, die nicht sogleich Gott zu Ohren gebracht würde. Beten ist nicht etwas neben dem konkret Erlebten und Erlittenen, sondern Menschsein vor Gott. Im Gebet teile ich mein Leben mit Gott. Im Gebet teile ich mich IHM mit, mit allem, was in mir lebendig ist.
In der Bibel begegnen wir öfter der Aufforderung: Betet! Das ist ein Befehl. Und das heißt: Tut es, wartet nicht lange, fangt an, lasst nicht nach, hört nicht auf! Beten lernt man nämlich durch Beten.
„Herr, lehre uns beten!“ So bitten die Jünger Jesu ihren Meister. Vermutlich heißt das heute: Herr, löse uns von der Erstarrung und Verhärtung unserer Herzen. Löse uns vom Sog des Materiellen. Mach unser Denken und unsere Herzen wieder frei und empfänglich.
Wer das Gebet aufschiebt für Tage der Not und sich an das Sprichwort halten will: „Not lehrt beten“, der wird leicht die Frucht des Gebetes verfehlen. Wer nämlich nicht in guten Zeiten beten lernt, kann nicht damit rechnen, es in bösen Zeiten zu können. Wer nicht regelmäßig betet, wird auch bald nicht unregelmäßig beten.

Beten verändert. Die Beziehung zur Schöpfung, zu mir selbst, zu meinen Mitmenschen, also meine soziale Empfindsamkeit, sind gleichsam ein Seismograph für mein Verhältnis zu Gott. Wer sich vor seinen Mitmenschen fürchtet, hat auch Angst vor Gott. Wer sich selbst nicht annehmen kann, wird auch Gott nicht ganz annehmen können. Wer sich aus Verletztheit und Angst vor Menschen verschließt, wird in der Tiefe seines Herzens auch für Gott verschlossen sein.
Wer jedoch ein Gespür hat für die Not seiner Mitmenschen und die Umwelt, ist auch sensibel für Gott. Wir haben nicht zwei Herzen, eines, das ganz geöffnet ist für Gott, und eines, das Menschen gegenüber misstrauisch und ablehnend ist. Wir haben nur dieses eine Herz für alle Weisen der Begegnung.
Martin Buber sagt einmal: „Wir können nur mit Gott reden, wenn wir unsere Arme, so gut wir können, um die Welt legen ...“. Unser Beten soll nicht nur ein heimeliges „Mein Heiland und ich“ sein. Das wäre zu eng. Es gilt, die ganze Welt zu umarmen und sie mitzubringen in den Aufblick zum Herrn.
Ich lasse mich ansprechen und gebe Antwort. Diese Antwort schließt die ganze Bandbreite menschlicher Reaktionsmöglichkeiten ein. Sie kann in Worten oder Schweigen, in Zeichen oder Taten und in meinem ganzen Leben bestehen.
Beten verändert den Menschen. Wer wirklich betet, das heißt, wer demütig betet, wird bescheidener, einfacher, liebevoller und fröhlicher. Wer betet, wird etwas vom Licht Gottes auf seinem Weg spüren, aber auch seine wärmende Sonne. Selbst in der dunklen Nacht kann der Beter spüren, dass er nicht allein ist. Er kann sich gehalten wissen von einer festen und doch zärtlichen Hand.
Beten muss keine große Aktion sein. Beten heißt auch: Gott bei allem, was ich tue, zuschauen lassen. Oder wenn ich dumm bin und mich nicht in Worten ausdrücken kann: Gott in meinem Herzen lesen lassen.
Alle Formen sind recht, wenn sie mit mir und meiner Situation stimmig sind. Drei Möglichkeiten seien nun eingehender beschrieben.

Ausformuliert. Am bekanntesten und denen, die schon beten, wohl am vertrautesten ist das Sprechen vorformulierter Gebete.
Ich denke hier an Gebete, die wir auswendig können oder Gebete, die im Gebetbuch stehen. Es ist nicht selbstverständlich, dass man sich in jedem formulierten Gebet in gleicher Weise wiederfindet. Jede Zeit hat ihre Sprache und auch jeder Mensch hat seine Sprache und seine Biographie. Es kann hilfreich sein, beispielsweise einen Psalm zu subjektivieren, das heißt ihn so umzuformulieren, dass er ein persönliches Gebet wird.
Und es ist auch eine Hilfe für das Beten, wenn wir Texte und Worte kennen, in denen Menschen unserer Zeit sich äußern. Solche Gebete finden sich zum Beispiel im
„Gotteslob“.
In Stille. Eine zweite Möglichkeit des Betens ist das Gebet der Stille. Jesus liebte dieses Gebet besonders. Er hat in einer tiefen persönlichen Beziehung zu Gott gelebt. Immer wieder zieht er sich zurück in die Stille der Einsamkeit. Aus ihrer Kraft und aus der Nähe zum Vater redet und handelt er dann bei den
Menschen.
In unserer Zeit ist es häufig gar nicht leicht, einen Raum der Stille zu finden. Manch einer findet ihn bei einem Spaziergang. Ein anderer sucht die Stille im Kirchenraum. Wir sollten deshalb mitsorgen und Mitverantwortung übernehmen, dass Kirchen tagsüber geöffnet bleiben.
Auch Bügelarbeit kann man zu einer Zeit des Betens nutzen. Mir sagte einmal ein Mann: „Mein Auto, das ist meine Gebetshöhle.“
Was geschieht bei diesem Gebet der Stille? Äußerlich gesehen gar nicht viel. Der indische Dichter Rabindranath Tagore lädt zu diesem stillen Gebet ein mit den Worten: „Lass mich bitte einen Augenblick an deiner Seite sitzen, die Arbeit unter meinen Händen will ich später enden... Jetzt ist es Zeit, ganz ruhig dazusitzen und dich zu schauen, Aug in Auge.“ Mir gefällt, was der Pfarrer von Ars von einem alten Bauern berichtet, den er oft lange Zeit allein in der Kirche sah. Gefragt, was er denn bete, antwortete er: „Nichts. Ich schaue ihn an und er schaut mich an.“ Begegnung der Liebe!

Leibhaft. Eine dritte Möglichkeit des Betens ist das leibhafte Gebet. Im Gebet sollen wir uns ganz, also auch mit unserem Leib, Gott zuwenden. Das innere, geistige Geschehen sucht nach sichtbaren, leibhaften Ausdrucksformen. Wir kennen die Bilder, die uns die Sprache schenkt: vor Gott stehen; vor Gott singen, tanzen, spielen; auf Gott schauen; die Hände zu Gott erheben; die Seele zu Gott erheben; vor Gott das Herz ausschütten; sich vor Gott verneigen; vor ihm niederknien, niederfallen vor Gott. Auch das leibhaftige Tun kann Gebet werden, ohne dass Worte fallen müssen.
Wer heute beten will, muss sich sehr bewusst dafür entscheiden und sich selbst eine „Kultur des Betens“ schaffen. Damit meine ich, man muss wissen, wann, wie und wo man beten will.

Zeit und Ort. Es gilt, eine „gute“ Zeit für dein Gebet zu wählen, keine „Abfallzeit“, in der du zu müde bist oder nichts anderes mehr beginnen kannst. Es ist dir persönlich und erst recht dem Herrn nicht angemessen, ihn mit Rändern und Resten abzuspeisen. Du sollst ja mit aller Aufmerksamkeit beim Beten bleiben können.
Bestimme auch selber die Dauer und die Struktur deines Gebetes und bleibe bei dem Rahmen, den du dir selbst gesteckt hast. Es gilt, sich dabei weder zu überfordern noch zu unterfordern. Überlass es auf keinen Fall dem Zufall, wann du betest. Am ehesten wird es dir gelingen, wenn du täglich und zur selben Zeit betest, konsequent und ausdauernd und doch in Freiheit.
Suche dir einen Ort, an dem du zur Ruhe kommst und der dich zum Beten anregt. Manche können dies in einer Kirche oder Kapelle oder in einem Meditationsraum tun, der an ihrem Weg liegt. Die meisten werden jedoch in den eigenen vier Wänden beten müssen. Dabei bewährt es sich, eine Gebetsecke einzurichten in einem Zimmer, in dem man allein sein kann. Das schlichte Zubehör besteht aus einer Decke, einem Bild (Kreuz oder Ikone), das einen anspricht, einer Kerze, einem festen Polster oder einem Meditationsschemel, um gut und entspannt sitzen zu können. Ein solch persönlich gestalteter Platz lädt zum regelmäßigen Gebet ein.
Nicht jeder findet einen Bereich ohne Störung und Lärm. Wenn man sich etwas in diese Geräusche hineinhorcht und sie wahrnimmt, ihnen zunächst die Aufmerksamkeit schenkt und sie schlicht registriert, kann man sich dann dem Gebet zuwenden und sie müssen nicht mehr ablenken. Wichtig ist, dass man nicht innerlich gegen sie kämpft, sondern sie einfach registriert und stehen lässt.
Im Raum darf es nicht zu kalt sein, aber auch nicht zu warm.

Wort oder Geste. Hier möchte ich ein Wort zur Einstimmung sagen. Meist können wir keinen direkten Übergang vom Alltag und der Arbeit zum Gebet vollziehen. Da ist es wichtig, die eigene Zerstreutheit, Hektik, Anspannung oder Müdigkeit wahrzunehmen. Man kann zunächst eine Entspannungsübung machen. Auch einfache, bewusst gesetzte Gesten oder Gebärden helfen, sich zu sammeln, zum Beispiel eine Verneigung, das Ausbreiten der Arme, das Öffnen oder das Ineinanderlegen der Hände, das Kreuzzeichen, der Meditationssitz. Solche Gebärden sind zunächst zwar äußere Vollzüge, aber sie wirken auch auf das Innere und Unbewusste ein. Nichts vom Menschen soll beim Gebet ausgeklammert werden. Der ganze Mensch darf und soll
beten.
Mir helfen auch bewusst gesprochene Wortformeln, mich zum Gebet einzufinden. Zu Beginn des Stundengebetes beten wir täglich: „Herr, öffne meine Lippen!“ oder während des Tages: „O Gott, komm mir zu Hilfe!“ Ich kann auch beten: „O Herr, mein Gott, Dich suche ich“ oder „Herr Jesus Christus, erbarme Dich meiner“.
Es ist gut, wenn man seinen
eigenen „Einstimmungsritus“ hat. Man braucht sich auch keine Sorge zu machen, dass dabei Zeit verloren geht, denn die Einstimmung ist schon Gebet.

Feste Rituale. Die Not vieler Menschen mit dem Gebet liegt häufig an einem Mangel an Ordnung. Der heilige Augustinus sagt einmal: „Halte die Ordnung ein und die Ordnung erhält dich.“ Angewandt auf das Gebet, könnte man formulieren: Pflege eine gute Gebetsordnung, und Dein Gebet trägt Dich.
Natürlich kann ich im Gebet meine innere Unruhe, meine Aufgeregtheit, die Erschöpfung oder das innere Chaos vor den Herrn bringen und sie vor ihm aussprechen. Aber zum Schweigen, zum Hören und zum Warten auf Gottes Wort an mich ist eine solche persönliche Verfassung ungeeignet. Ein solcher Zustand stört und unterbindet alle Beziehungen, in denen ich lebe, auch meine Gottesbeziehung und damit eine wesentliche Seite des Gebetes.
Wer heute tiefe Freundschaft pflegen will, und das Beten gehört ganz sicher in den Bereich der Beziehungs- und Freundschaftspflege, muss den Mut haben, auszusteigen aus dem Gängigen und Modernen.
Man gilt heute nur als gesellschaftsfähig und auf dem Stand der Zeit, wenn man gestresst ist. Man muss „nein“ sagen können zu dieser Untugend. Sie ist für ein gutes Menschen- und Christenleben hinderlich. Jesus selber hat niemanden gestresst und sich auch nicht stressen lassen.
André Sevé gibt den Ratschlag: „Bist Du in Eile? Fasse Dich wieder. Hast Du viel zu tun? Halte an, sonst wirst Du Dummheiten machen. Musst Du Dich um andere kümmern? Fang bei Dir an, sonst wirst Du ihnen weh tun. Halte alle zwei Stunden eine
Minute inne!“


 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016