Bewahren und Bewegen

16. September 2004 | von


Was ist die Kirche? Diese Frage beantwortet der im Auftrag des Konzils von Trient im Jahr 1566 herausgegebene “Römische Katechismus“ mit einem einzigen lapidaren Satz: “Die Kirche ist das Reich Gottes auf Erden.“ So etwas prägt sich leicht ein – aber ist es auch korrekt? Indem man die Kirche faktisch mit dem Reich Gottes identifiziert, wird sie gleichzeitig vor jeglicher Kritik immunisiert.

Dein Reich komme! Dass die Kirche keineswegs mit dem “Reich Gottes auf Erden“ gleichzusetzen ist, geht schon daraus hervor, dass Jesus alle, die ihm nachfolgen, auffordert, inständig und unaufhörlich um die Ankunft des noch ausstehenden Gottesreiches zu beten: “Vater, dein Reich komme!“
Im Gegensatz zu dem erwähnten Katechismus betont die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils realistisch und richtig, dass die Kirche nicht das “Reich Gottes auf Erden“ ist; vielmehr “strebt sie nach diesem einen Ziel, nach der Ankunft des Reiches Gottes“.
Diesen Sachverhalt hebt das Konzil auch in der Kirchenkonstitution gleich zweimal hervor. Unter Bezugnahme auf das durch die Wüste ziehende Gottesvolk Isra-el wird von der Kirche gesagt, dass sie “auf der Suche nach der kommenden und bleibenden Stadt (vgl. Hebr 13,14) in der gegenwärtigen Weltzeit einherzieht“ – die kirchliche Gemeinschaft als pilgerndes Gottesvolk! “Solange aber die Kirche hier auf Erden in Pilgerschaft fern vom Herrn lebt (vgl. 2 Kor 5,6) weiß sie sich in der Fremde, so dass sie sucht und sinnt nach dem, was oben ist, wo Christus zur Rechten des Vaters sitzt, wo das Leben der Kirche mit Christus in Gott verborgen ist, bis sie mit ihrem Bräutigam vereint in Herrlichkeit erscheint (vgl. Kolosserbrief, Kapitel 3, Verse 1-4).“

Pilgerndes Gottesvolk. Weil die Kirche, verstanden als Gemeinschaft der an Christus Glaubenden, in dieser Weltzeit immer auf dem Weg ist, geschieht es immer wieder, dass sie Umwege macht, gar in Gefahr gerät, auf Abwege zu geraten. Dass diese Sorge berechtig ist, unterstreicht das Zweite Vatikanische Konzil im Dekret über den Ökumenismus: “Das Volk Gottes bleibt zwar während seiner irdi-schen Pilgerschaft in seinen Gliedern der Sünde ausgesetzt, aber es wächst in Christus und wird von Gott nach seinem geheimnisvollen Ratschluss sanft geleitet, bis es zur ganzen Fülle der ewigen Herrlichkeit im himmlischen Jerusalem freudig gelangt.“
Vermutlich hatten die Konzilsväter bei dieser Äußerung die Geschichte der Kirche im Blick, die ja durch all die Jahrhunderte hindurch geprägt ist von der Spannung zwischen der Treue zu ihren Ursprüngen und der Notwendigkeit, den Glauben unter wechselnden Zeitumständen zu verkünden und zu praktizieren. Dass es dabei immer wieder zu stürmischen Auseinandersetzungen über die rechte Lehre und die richtige Praxis kam, wissen selbst jene, die sich nie ausführlich mit der Entwicklung des Christentums befasst haben.
Schon im Neuen Testament fehlt es nicht an Hinweisen, dass es sehr bald Gläubige gab, die von der einmal erkannten Wahrheit abwichen. Zu wiederholten Malen wird vor Lügenpropheten und Pseudoaposteln gewarnt, welche nicht Christus predigen, sondern irgendwelche “Fabeleien“ verkünden (2. Timotheusbrief, Kapitel 4, Vers 4). Angesichts dieses betrüblichen Sachverhalts galt es, die “gesunde Lehre“ und die “Wahrheit unverfälscht“ (Titusbrief, Kapitel 2, Verse 1 und 7) weiterzugeben. Mit einem Wort, es ging dabei immer auch um die Treue zur Tradition.
 
Im Dienst der Überlieferung. Heute hat der Begriff “Tradition“ in vielen Ohren keinen guten Klang. Nicht selten weckt er negative Assoziationen. Ihm haftet das Odium des Überholten an. Häufig versteht man darunter eine Tendenz zum Be-wahren, die nicht selten in der Skepsis gegenüber allem Neuen wurzelt. Dabei jedoch wird Tradition häufig mit Traditionalismus gleichgesetzt.
Zweifellos gehört der Ausdruck “Tradition“ – auf Deutsch: Überlieferung – zu den Schlüsselbegriffen des Neuen Testaments. So schreibt Paulus im Hinblick auf die Einsetzung der Eucharistie im ersten Korintherbrief: “Ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch dann überliefert habe“ (Kapitel 11, Vers 23). Ähnlich äußert sich der Apostel bezüglich der Auferweckung Jesu: “Ich habe euch überliefert, was auch ich empfangen habe“ (1 Kor 15,3). Überlieferung (Tradition) bedeutet für Paulus, die Botschaft von und über Jesus nicht auf sich beruhen zu lassen, sondern sie weiterzugeben. Ausdrücklich betont Paulus, dass er die “Sache“, die er überliefert, seinerseits empfangen hat; er steht nicht über ihr, sondern in ihrem Dienst.
Gleiches behauptet auch der Evangelist Lukas, wenn er sich zu Beginn seines E-vangeliums auf jene Gewährsleute bezieht, die sich bewusst “an die Überlieferung derer hielten, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren“ (Kapitel 1, Vers 2).

Korrektiv Tradition. Nach neutestamentlichem Verständnis bezieht sich der Empfänger einer Tradition auf eine Quelle, deren verpflichtenden Charakter er anerkennt und an die er sich gebunden weiß. Diese Quelle ist Gottes Offenbarung, die zwar nicht mit Jesus Christus begonnen, in ihm aber doch ihre Fülle erreicht hat.
Diese Offenbarung ist der Kirche zum Zweck der Weitergabe übergeben. Die ein-zelnen Gläubigen wiederum werden (wie Paulus sagt) der “Lehre übergeben“, damit sie diese ihrerseits unverfälscht weiter überliefern (Römerbrief, Kapitel 6, Vers 17).
Letztlich geht es also darum, die in der Schrift enthaltene apostolische Tradition durch alle Traditionen hindurch, die sich im Lauf der Jahrhunderte herausgebildet haben, treu zu bewahren. Dabei versteht es sich übrigens von selbst, dass die einzelnen zeitbedingten Traditionen immer im Licht der großen Apostolischen Tradition zu überprüfen und allenfalls zu korrigieren sind. Entscheidend sind nicht die Traditionen, welche sich im Lauf der Jahrhunderte herausgebildet haben (und teilweise wieder verschwunden sind). Bestimmte Frömmigkeitsformen und Andachts-übungen waren oft einfach zeitbedingt. Sie sind in der Zeit gewachsen – aber nie für alle verbindlich gewesen. Sie waren oder sind auch heute noch ein Reichtum für die Kirche. Realistischerweise aber wird wohl niemand verlangen wollen, dass jeder alle Traditionen gleicherweise schätzen und nachvollziehen kann. Diese Unmöglichkeit hängt auch damit zusammen, dass die einzelnen Christinnen und Christen sehr unterschiedliche Spiritualitäten pflegen. Das ist so selbstverständlich wie die Tatsache, dass niemand gleichzeitig Franziskaner und Kartäuser und Jesuit oder Benediktinerin und Kapuzinerin sein kann. Welche dieser (oder anderer) Spiritualitäten man bevorzugt, hängt naturgemäß von den persönlichen Erfahrungen und Neigungen ab.

Spannungen und Spaltungen. Das wichtigste Merkmal derer, die sich auf dem Weg wissen, ist die Bereitschaft zum Aufbruch. Aber gerade diese fehlt vielen Gläubigen. Bekanntlich ist es viel leichter, erworbene Stellungen auszubauen, als sich nach neuen umzusehen. Einen Aufbruch wagen – davor schrecken viele zurück, sei es aus Trägheit und Bequemlichkeit, sei es aus einem sentimentalen Hang zum Althergebrachten oder einfach aus Angst vor dem Unbekannten und noch nicht Bewährten.
Daher widersetzt man sich oft von vornherein jeder Entwicklung oder lehnt Reformen grundsätzlich ab. In der Folge kommt es zu Auseinandersetzungen; es entstehen Gruppen und Fronten, die einander bekämpfen – nicht selten mit Mitteln und Methoden, welche in krassestem Widerspruch zum christlichen Liebesgebot stehen.
Schon ein flüchtiger Blick auf die kirchliche Szene bestätigt die Richtigkeit dieser Behauptung. Da gibt es die Rechten und die Linken, die Voranstürmenden und die Zauderer, die Mutigen und die Ängstlichen, es gibt Voreingenommene und Aufgeschlossene, Traditionalisten und Progressisten. Das allein wäre ja nicht schlimm. Schlimm ist auch nicht, dass Schwierigkeiten und Probleme entstehen. Das ist vielmehr natürlich. Schlimm jedoch ist, dass aus Spannungen häufig Spaltungen entstehen; schlimm ist die Art, wie man miteinander umgeht; schlimm schließlich ist die Gehässigkeit, mit welcher Diskussionen geführt werden, welche diesen Namen schon gar nicht mehr verdienen, weil es sich lediglich um Schmähreden oder gar um persönliche Verunglimpfungen handelt.
 
Streiten will gelernt sein. Der Streit um die rechte Lehre ist so alt wie die Kirche selbst. Schon in ihren Anfängen führte die Wahrheitsfindung zu heftigen Auseinandersetzungen, wie der Bericht über das “Apostelkonzil“ (Apostelgeschichte, Kapitel 15, Verse 1-21) dokumentiert. Schon damals sahen sich die Christenge-meinden plötzlich mit neuen Situationen konfrontiert, welche mutige Entscheidungen erforderten. Als sich nämlich nicht nur Juden, sondern auch Heiden zu der neuen Religionsgemeinschaft bekannten, stellte sich die Frage, ob Letztere beschnitten und damit auf das Gesetz Mose verpflichtet werden müssten, bevor sie die Taufe empfingen. Bekanntlich haben die Apostel in dieser Angelegenheit erst nach langen und harten Auseinandersetzungen einen Konsens erreicht.
Das Beispiel zeigt, dass Konflikte in der Kirche unvermeidlich sind. Dass auch heute über den Glauben gestritten wird, ist etwas durchaus Erfreuliches, weil ein Zeichen von Interesse. Besser eine streitende als eine schlafende Kirche! Aber die Art und Weise wie man oft miteinander umgeht, ist alles andere als erbaulich. Streiten will nämlich gelernt sein.

Tradition ist lebendig. Zunächst einmal muss man sich Rechenschaft geben, wie wichtig die Sache ist, die zur Verhandlung steht. Unwesentliches darf man nie hochstilisieren. Ferner dürfen nie persönliche Motive mit hineinspielen, sonst werden aus Gegnern plötzlich Feinde. Drittens sollte man sich vor Aggressionen und Gereiztheit hüten. Das ist nicht nur eine Frage des Stils, sondern auch der Nächstenliebe. Und schließlich darf man einen Gedanken nicht allein deswegen schon ablehnen, weil er neu ist, um im gleichen Atemzug auf die alten Traditionen zu verweisen. Das ist ein Widerspruch. Wenn wir nämlich näher hinsehen, so sind die Traditionen, auf die man sich so gerne beruft, nichts Starres, sondern etwas höchst Lebendiges, nämlich das Ergebnis einer langen Entwicklung. Tradition ist nur ein anderer Name für den Fortschritt von gestern und vorgestern. Und die Neuerung von heute werden möglicherweise zu Traditionen von morgen und übermorgen. Das war schon immer so. Darum sind die eigentlichen “Traditionalisten“, nämlich jene, die sich zu diesem Entwicklungsprinzip bekennen, die “Progressisten“. Weil die Entwicklung ja naturgemäß weitergehen wird.

Weitergehen wohin? Auf das Reich Gottes zu, das sich aber erst am Ende der Zeiten in seiner Vollgestalt verwirklicht. Das ist auch der Grund, warum schon die Kirchenväter von der ecclesia semper reformanda, von einer stets erneuerungsbedürftigen Kirche sprachen.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016