Bewegende Reise zur Leprastation

02. August 2010 | von



Der italienische Minoritenpater Giorgio Abram, erfahrener Missionar in Ghana, machte im Februar 2009 eine Erkundungsreise nach Vietnam. Im Auftrag seines Ordens sollte er in Van Mon, einer Siedlung für Leprakranke, ein Hilfsprojekt vorbereiten und sondieren, wie seine Mitbrüder dort das offizielle Bleiberecht erhalten könnten. Tief beeindruckt vom Schicksal der ausgegrenzten Menschen und ihrer Herzlichkeit verspricht er sich selbst: Ich komme zurück, mit konkreter Hilfe. 



Sind Sie jemals mit einem Taxi durch Hanoi gefahren, eine Stadt, die als chaotisch bekannt ist? Das gilt für gewöhnliche Tage. Doch heute morgen, am 26. Februar, regnet es, und da gibt es kein Durchkommen, noch nicht einmal mit vehementem Hupeinsatz. Der Taxifahrer weist mich stolz darauf hin, dass er sogar zwei Hupen habe. „Wenn die eine kaputt geht, habe ich eine zweite. Ohne Bremsen könnte ich fahren, aber nicht ohne Hupe!" Vier, vielleicht auch fünf Millionen Einwohner und mehr als zwei Millionen Mofas, dazu Fahrräder, Dreiräder, Karren: Sie schwärmen in alle Himmelsrichtungen aus, überqueren Kreuzungen ohne jedes Signal zu geben, Ampeln dienen wohl eher zur Dekoration! Eine ganze Stunde lang quälen wir uns durch dieses Chaos, bevor wir an die Peripherie der Hauptstadt Vietnams gelangen. Vor uns liegen Reisfelder, unendliche Weiten, und Grün, so weit der Blick reicht. Smaragdgrün. Es lässt das Grau der Wolken vergessen und leuchtet gegen das trübe Wasser und den bleigrauen Himmel an.



Und hier sind wir endlich am großen Fluss. Es ist der Song Hong, der Rote Fluss. Eine neue, gebührenpflichtige Brücke überspannt ihn mächtig. Vor ihrem Bau musste man auf die Fähre warten. Das ist wohl auch der Grund, warum sich das Leprazentrum auf der anderen Seite des Flusses befindet: Es war lange Zeit quasi unerreichbar, isoliert vom Rest der Welt. Das war schon immer das Schicksal der Leprakranken: von der Welt abgeschieden und vergessen zu leben.



Fern der Welt



Und für viele von ihnen ist das heute noch so – eine anachronistische Isolation. Van Mon ist eine Siedlung für Leprakranke, und viele nennen sie immer noch „die Kolonie". Auch wenn sich langsam etwas verändert. Der Fahrer musste drei oder vier Mal anhalten, um nach dem Weg zu fragen, einer schmalen und kurvenreichen Straße, inmitten von Reisfeldern. „Wir haben Glück", sagt mir mein Begleiter, „vor zwei Jahren, als ich anhielt, um nach dem Weg zu fragen, kam sofort ein Polizist, der uns zurückgeschickt hat, sobald er erfuhr, wohin wir wollten."



Heute jedoch kommen wir ohne Probleme dort an, abgesehen von einigen abrupten Bremsmanövern auf dem weißen Kies und abenteuerlichen Strecken im Rückwärtsgang, vorbei an klapprigen Lieferwagen voller Güter jeder Art.



Der Direktor ist sehr freundlich, wir wurden erwartet. Er hat uns von einer gut aussehenden, jungen Dame empfangen lassen. Sie ist bestens vorbereitet. Nach ersten Informationen über den Ort, seine Einrichtung und deren Zweck, musste ich sie einfach fragen: „Und was hat Sie hierher verschlagen?" Die Antwort war abzusehen: „Meine Eltern lebten hier, und ich bin zum Arbeiten zurückgekommen." Ein Zeichen des guten Willens und der Aufmerksamkeit für das Leid der anderen? Der Wunsch, endlich das Stigma loszuwerden? Oder Nachhall eines Lebens in der Ausgrenzung und der Scham darüber, Tochter von Leprosen zu sein?



Der medizinische Leiter arbeitet seit 24 Jahren hier. Er wirkt selbst wie ein Ausgegrenzter. Oder vielleicht ist er es sogar? Er drückt mir mehrmals die Hand (aber immer noch seltener als am nächsten Tag nach zwei Bier). Er spricht abwertend von Medikamenten und deren Wirkung. Aber er strahlt, als ein winziger Priester im schwarzen Talar das neue, große Büro betritt: Don Giuseppe, und ohne dass ich davon weiß – man spricht hier eine Sprache, die ich nicht verstehe – bringt dieser einen Blumenstrauß und ein Geschenk in meinem Namen mit. Ich verstehe aber sofort, dass nicht allein das Geschenk Grund für diesen abrupten Stimmungswandel des Direktors ist, sondern die Anwesenheit des Priesters: Wir tauschen Komplimente aus und klopfen uns vertraut auf die Schultern, wie alte Bekannte.



Besser inkognito



Ich wundere mich weiter: Man rät mir, ich solle nicht sagen, dass ich Priester sei, um unnötige Kontrollen durch die Polizei zu vermeiden. Und nun sehe ich einen Priester im Talar vor mir – und dies vor einem rigoros atheistischen Regierungsfunktionär.



Aber Don Giuseppe hat keine Angst, denn aus seiner Pfarrgemeinde, zu der außer zwei Dörfern inmitten von Reisfeldern auch die Leprakolonie gehört, stammen viele vietnamesische Märtyrer aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; vierzehn sind würdevoll vor der großen Kirche bestattet, die erst vor zehn Jahren erbaut wurde. Die Gläubigen stehen in dieser Tradition und sind darauf eingestellt, dass sie mit Verfolgungen rechnen müssen.



Bei der Unterhaltung treten nach und nach die Probleme ans Tageslicht, aber auch das Engagement vieler Katholiken. Es gibt zwei Ordensschwestern, die aber in Zivil auftreten und in der orthopädischen Werkstatt arbeiten. In dem niedrigen Raum werden mit einfachsten Mitteln Spezialschuhe angefertigt. Dann gibt es noch zwei weitere Ordensschwestern, schon eher als solche erkennbar. Hinzu kommen Freiwillige aus der Pfarrgemeinde, Krankenschwestern, Köche, Müllmänner und Gärtner. Viele von ihnen sind katholisch und alle sprechen Don Giuseppe mit „Vater" an; bald wenden sie sich in dieser Form auch an mich.



Pragmatischer Atheismus



Der Direktor ist davon überzeugt, dass die Religion und die Anwesenheit von christlichen Freiwilligen grundlegend wichtig sind für die körperliche Gesundheit, da wir ja schließlich aus Seele und Körper bestehen. Pragmatischer Atheismus! Er scheint besorgt zu sein wegen der alten Kirche aus dem Jahr 1935. Sie hat Risse, und er hat Angst, dass sie über den Gläubigen zusammenbrechen könnte. Und die neue kann die vielen Gläubigen nicht fassen. Die Pagode des Ortes ist wesentlich weniger gut besucht.



Es herrscht große Aufregung überall, denn morgen wird in

Vietnam der Tag der „Medizinischen Mitarbeiter" gefeiert, entsprechend der wörtlichen Übersetzung der Schrift auf dem flammendroten Banner, das an der Außenwand des Hauptgebäudes hängt. Es ist das Rot, in dem die Fahnen an den Straßen leuchten, die den weißen Stern oder Hammer und Sichel tragen. Ein Jahr bietet viele Feiertage, die den Arbeitern gewidmet sind: den Fischern, den Bauern, den Fabrikarbeitern…



Ob ich will oder nicht, ich werde in die Festvorbereitungen eingespannt. Eigentlich hätte ich schon genügend Material, um einen Bericht zu schreiben und eine Hilfsaktion in die Wege zu leiten, aber ich kann mich nicht einfach so aus dem Staub machen. Deshalb verbringe ich den 27. Februar zwischen den Tischen, wo fast 900 Patienten feierlich tafeln, und zwar mit Speisen, die ich niemals probieren könnte. Zum Beispiel: ein Pudding aus frischem Schweineblut und Enteneier – mit einem Küken drin. Ich glaube, dass Sie nie wieder Eier essen würden, wenn Sie die Fotos sähen! Aber es gibt auf jeden Fall auch bitteren Tee, von dem ich mindestens 30 Tassen täglich trinken muss.



Ich lass’ euch nicht allein!



Die letzten Abschiedsworte vor der Rückkehr in die chaotische Stadt und ihren Flughafen. Eine alte, ehemals leprakranke Frau ist durch einen Hüftgelenksbruch ans Bett gefesselt. Sie lässt mich wissen, dass sie in dem Bett liegt, in dem kurz zuvor ihre gute Freundin mit über 90 Jahren gestorben ist. Sie flüstert: „Ich bete, das sie mich bald abholen kommt."



Und die beiden von ihrer leprakranken Mutter verlassenen Zwillinge, die an einer seltenen Hautkrankheit leiden, vielleicht noch eine Auswirkung der Nervengas-Angriffe der Amerikaner, die seit drei Generationen die Menschen schädigt: Sie sehen eher aus wie kleine Monster als wie menschliche Wesen. Sie lassen mich keine Sekunde allein und wollen, dass ich ihnen immerzu die Hand halte. Und viele andere, hauptsächlich ältere Menschen, die zwar von der Lepra, nicht aber von der Isolation geheilt wurden, mit schweren Verstümmelungen. Und dann noch ..., aber nun ist es wirklich Zeit zum Aufbruch. Wieder Abschiedsgrüße und Versprechen und freundschaftliches Schulterklopfen. Und die Lust, zurückzukommen, aber diesmal mit einer konkreten Hilfe und einem ausgearbeiteten Programm.




Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016