Brot und Rosen und mehr

04. November 2019 | von

Als Kind auf der Wartburg, so erzählen die Quellen, kann Elisabeth das Spiel mit ihren Freundinnen ganz plötzlich unterbrechen: „Einmal soll mir genügen – die anderen Runden will ich Gott zuliebe unterlassen“. Was sich hier andeutet, wird im weiteren Verlauf ihres Lebens so etwas wie ein roter Faden: das Gewohnte, den Kanon gesellschaftlich üblichen und allgemein erwarteten Verhaltens durchbrechen, um damit aufmerken zu lassen und ein Zeichen zu setzen. Die irritierende Unterbrechung wird zum Durchbruch zu einer anderen Dimension, so wie eben schon für das Kind das abgebrochene Spiel auf Gott verweist.

Leben unterbrechen
Bereits in ihrer Beziehung zu Ludwig sprengt Elisabeth alle höfische Etikette: Geht er auf Reisen, so begleitet sie ihn ein Stück zu Pferd, selbst bei schlechtem Wetter. In seiner Abwesenheit trägt sie Trauerkleidung. Kehrt er zurück, dann eilt sie ihm entgegen, überschüttet ihn in aller Öffentlichkeit mit Küssen. Sie unterbricht ihren Schlaf und steht nachts zum Beten auf. Auch öffentlich fällt sie immer wieder bewusst aus ihrer Rolle, inszeniert regelrecht den Verstoß gegen das Protokoll: In der Prozession geht sie in einfachen Kleidern mit dem gewöhnlichen Volk. Vor dem Kreuz legt sie demonstrativ die Krone ab. Bei Tisch weigert sie sich, von unrechtmäßig erpressten Speisen zu essen, und lässt sich von ihren Dienerinnen mit dem alle Standesunterschiede negierenden ‚Du‘ ansprechen.
„Die kürzeste Definition von Religion ist: Unterbrechung!“ Johann Baptist Metz hat das gesagt. Glauben heißt: Im ständigen Immerweiter verschnaufen und sich bewusst werden, dass es noch anderes gibt. Innehalten und fragen, was das Ganze soll und wohin es geht. Der Glaube durchbricht allgemein gültige Muster, etwa im Umgang mit Geld, mit Macht, mit Konsum, mit Zeit. Der Sonntag reißt ein Loch in den Alltag, durch das etwas vom Geheimnis Gottes spürbar wird. In einer volkskirchlichen Vergangenheit waren christliche Positionen mitgetragen von einem breiten gesellschaftlichen Konsens. Das ändert sich radikal. Die Orientierung am Evangelium unterbricht und stört, nicht nur in der Flüchtlingspolitik. Persönlich kann eine Krankheit, eine Krise, eine Enttäuschung meine Pläne durchbrechen. Das ist schwer. Aber kann es nicht sein, dass mich da Gott selbst unterbricht, um mich neu und anders auf den Weg der Nachfolge zu schicken?

Kreative Freiräume
Schauen wir diese Unterbrechungen nochmals von anderer Seite an. Von Sachzwängen kann wohl so mancher ein Liedchen singen. Viel zu oft erleben wir, wie uns äußere Gegebenheiten fremdbestimmen und uns ein Verhalten regelrecht diktieren, ob wir wollen oder nicht. Gesellschaftliche Konventionen und Erwartungen von außen scheinen festzulegen, was ich zu tun und zu lassen habe. „Eigentlich“ möchte ich ja etwas ganz Anderes, „eigentlich“ hätte ich ganz andere Ideen, aber leider bleibt mir keine Wahl.
Manchmal frage ich mich aber auch, ob ich nicht zu schnell sage: „Da kann man halt nichts machen! Mir sind die Hände gebunden.“ Und dann kommt mir wieder Elisabeth in den Sinn. Sie hat sich immer wieder über scheinbare Sachzwänge hinweg gesetzt und Erwartungen und Zwänge durchbrochen. Das waren nicht Grillen einer gelangweilten First Lady, die gerne einmal publikumswirksam provozierend aus der Rolle fällt, um ein bisschen Spaß zu haben. Es ist vielmehr ihre tiefe Beziehung zu Christus und seinem Evangelium, die ihr überraschende Freiräume eröffnet, wo alle anderen sagen: „Das geht aber nicht!“
Das Evangelium eröffnet kreative Freiräume. Elisabeth war keine verbissene Asketin, die in ihrer Sorge für die Armen angestrengt moralisierend durch die Welt gelaufen wäre und anderen ein schlechtes Gewissen eingejagt hätte. Diesen Part des fordernden Fundamentalisten überlässt sie gerne dem finsteren Konrad von Marburg, von dem sie sich damit umso sympathischer abhebt. Innerlich frei scheint sie mir, heiter, gelassen und mit einem großen Herzen. So, als würde sie sagen: Schau mal, welche Spielräume das Evangelium eröffnet, welche Möglichkeiten sich auftun, wenn du ernst machst mit dem Glauben, welche Freiheit die Beziehung zu Jesus schenkt und wie er dich von falschen Rücksichtsnahmen befreit. Dann könnte auch ich vielleicht sagen: Das haben alle und das machen alle – aber ich brauche das nicht! Das ist normal – aber es geht auch anders! Bisher habe ich das immer so gemacht – aber ich kann auch anders! Das wird erwartet – aber ich mache da nicht mit! Sachzwänge machen Druck und schnüren ein. Wenn ich dagegen erfahre, wie mir mein Glaube unerwartete Freiräume eröffnet, bekomme ich wieder Lust am Leben, weil es plötzlich Weite und Zukunft hat.

Brot und Rosen
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein (Mt 4,4). Das wusste nicht nur Jesus. Im alten Rom wurde das Volk mit Brot und Spielen bei Laune gehalten. Auch Elisabeth bringt nicht nur Brot, sie schenkt auch Rosen: Auf der Wartburg, so die bekannte Legende, findet der etwas misstrauische Ehemann im Korb, den seine Frau zu den Armen trägt, Rosen statt Brot. Wer wird da nicht sofort an die schon so oft bemühte Geschichte von Rilke erinnert, der einer stadtbekannten Bettlerin in Paris einmal nicht, wie sonst üblich, einige Geldstücke in die Hand drückt, sondern eine Rose. Darauf ist die Frau mehrere Tage lang nicht zu sehen. Wovon hat sie inzwischen gelebt? Von der Rose!
Natürlich bringt Elisabeth zuerst einmal Brot, kümmert sich um die unmittelbaren Grundbedürfnisse notleidender Menschen. Dazu baut sie ihr Hospital in Marburg, in dem Hungernde gespeist und Kranke gepflegt werden. Aber für mich gehört es zu den berührendsten Augenblicken ihres Lebens, als sie an einem Abend am Ufer der Lahn riesige Feuer entfachen lässt, in deren wärmendem Lichtschein die Bettler und Kranken zu singen beginnen. Und hier fällt dann eines der wenigen Worte, die uns von ihr überliefert sind: „Ich habe es doch gesagt, wir müssen die Menschen nur froh machen!“ Elisabeth hat sie nicht einfach abgespeist. Sie sind nicht nur satt, ihre Wunden einigermaßen versorgt, die Kälte der Nacht erträglich. Ja sicher, das alles auch, und das ist schon sehr viel. Aber plötzlich geschieht noch mehr. Wenigstens für einen Augenblick wird ihr Leben zum Fest. Es ist dieses Mehr, was die Rosen in Elisabeths Schürze symbolisieren wollen.

Oben und unten
Ich erinnere mich an einen herbstlichen Besuch mit einem Mitbruder auf der Wartburg. Bevor wir in den Burghof gingen, wollte ich noch einmal einen Blick hinunter auf Eisenach werfen. Vergebens. Nur vereinzelte Gebäude schauten aus den Wäldern heraus. Die sich sanft abwechselnden Höhen des Thüringer Waldes hatten die Stadt und mit ihr die Menschen verschluckt. Sie waren einfach nicht mehr da.
Ich musste an Elisabeth denken. So muss es ihr hier oben gegangen sein: Die Stadt und die Menschen da unten waren so weit weg, dass sie eigentlich nicht mehr existierten. Elisabeth ist nicht oben geblieben. Sie ist nach unten gegangen, in die Stadt, zu den Menschen. Sie schwingt damit ein in die Bewegung Jesu von oben nach unten: „Er hielt nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave, er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod am Kreuz.“ (vgl. Phil 2,6ff.) Elisabeth ist nicht von der bösen Verwandtschaft aus der Wartburg vertrieben worden, wie dies die spätere Legende gewollt hat und romantisch-dramatische Bilder mitleidheischend darstellen. Die Witwe des verstorbenen Landgrafen ist nicht einfach rechtlos: Sie geht nach Marburg, weil dort ihr rechtlich abgesicherter Witwensitz war. Elisabeth wird nicht hinab gestoßen, sie geht freiwillig nach unten. Und auch in Marburg wird ihr Hospital unten im Lahngrund stehen. Ganz unten, am tiefsten Punkt, brennen die Freudenfeuer. Dort „setzte sie die Elendesten und Verachtetsten an ihren eigenen Tisch“, wie Konrad von Marburg berichtet. „Wenn du ein Essen gibst, dann lade Arme, Krüppel, Lahme und Blinde ein“, sagt Jesus (Lk 14,13). Je weiter Elisabeth nach unten geht, umso ähnlicher wird sie Christus.

Beschenktsein
Elisabeth überrascht noch nach 800 Jahren: ihr radikaler Einsatz für die Armen, die unkonventionellen Formen ihrer Solidarität, ihre verschwenderische Großzügigkeit. Warum macht sie das? Reflexhaft wiederholen wir gerne altbekannte Antworten: Sie steht in der hochmittelalterlichen Armutsbewegung, lebt konsequent die Nachfolge des armen Christus und wird dabei inspiriert von den ersten Minderbrüdern in Deutschland. Das ist zweifellos richtig. Aber ist das alles?
Einen interessanten Ansatz habe ich bei Ida Friederike Görres entdeckt, auch wenn sie das schon vor über einem halben Jahrhundert geschrieben hat (Bildnis der Gnade, in: Der göttliche Bettler, Frankfurt/M. 1959, 161-187): Elisabeth könne ohne Angst und großzügig schenken, weil sie selbst erfahren habe, was es bedeutet, unverdient beschenkt zu sein. Sie werde zum „Bildnis der Gnade“, weil sie konkret „Gnade“ erfahren habe in ihrer Beziehung zu Ludwig. Die Tochter des Königs von Ungarn kommt mit vier Jahren auf die Wartburg, um dort aus europäischem Machtkalkül heraus mit Hermann, dem ältesten Sohn des Landgrafen und Stammhalter der Ludowinger, verlobt zu werden. Doch dieser stirbt früh, außerdem hatte der ungarische König inzwischen an Macht verloren. Damit entfallen die Gründe für die politische Vermählung. Elisabeth müsse fürchten, zurückgeschickt zu werden. Hermanns jüngerer Bruder Ludwig war keineswegs verpflichtet, die Ausländerin zur Frau nehmen. Aber er tut es, und zwar aus tiefer Zuneigung heraus.

Angenommen und geliebt
Die Erfahrung, angenommen und geliebt zu sein, war verwirrende Überraschung und tief erfüllendes Geschenk. Unverdient, gratis, gratia eben, Gnade. Elisabeth kann lieben, weil sie selbst geliebt wird. Sie kann Menschen annehmen, weil sie selbst erfahren hat, was es bedeutet, angenommen zu sein. Sie kann viel geben, weil ihr selbst viel gegeben wurde. Und zwar von einem Menschen. Von Ludwig. Tiefer Impuls ihres leidenschaftlichen Lebens ist nicht nur der Blick auf Christus am Kreuz. „Der junge Landgraf von Thüringen ist die leibhaft gewordene Gnade für seine Frau.“
Was sind meine Beweggründe, Tag für Tag zu versuchen, auf andere zuzugehen, mich den oft ermüdenden Herausforderungen des Alltags zu stellen? Reines Pflichtbewusstsein? Pure Gewohnheit? Oft wird das so sein. Aber ist das alles? Kenne ich auch diesen Impuls, dass ich etwas weitergeben möchte, weil ich selbst beschenkt wurde?
Wir sind heute stark auf den Mangel fixiert, gerade auch in der Kirche. Da kommt man leicht ins kollektive Jammern. Elisabeth hätte wahrlich Grund genug gehabt, sich auf Verlust- und Mangelerfahrungen zu fixieren und verbittert alt zu werden: als Kind schon der Heimat beraubt, in der Fremde aufgewachsen, früh den Mann verloren. Eine unheilvolle Familiengeschichte, die Mutter wird ermordet. Argwohn in der angeheirateten Verwandtschaft, der finstere Seelenführer Konrad. Sie könnte sich selbst und uns leid tun! Und dann sagt so eine Frau am Ende ihres kurzes Lebens: „Ich habe immer gesagt, wir müssen die Menschen froh machen!“ Warum? Weil sie sich nicht auf Negativerfahrungen und Mangel fixiert hat, sondern aus der überraschenden Erfahrung  lebte, angenommen und beschenkt zu sein. Elisabeth erinnert mich auch an all das, mit dem ich beschenkt wurde. Von Gott, ja. Aber auch durch Menschen. Wie sie durch Ludwig. In menschlichen Beziehungen dürfen wir ahnen, was die Gnade Gottes meint.

Zuletzt aktualisiert: 01. November 2019
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