Christliche Geschichte zwischen Phantasie und Wirklichkeit

30. Juni 2006

Geheime Schriften, deren Veröffentlichung die Kirche zu verhindern sucht, sind eine beliebte Ingredienz zahlreicher Bücher. Vor kurzem sorgte der Thriller „Sakrileg“ für Schlagzeilen. In millionenfacher Auflage präsentiert der Autor Dan Brown zweifelhafte Thesen und wirft einmal mehr die Frage auf: Wie ist es wirklich?

In der Mitte des Buches wird die weibliche Hauptfigur der Story, Sophie Neveu, von Robert Langdon und Sir Leigh Teabing in die Geheimnisse des Gral eingeführt. Die einführende Bemerkung, „Die Heilige Schrift ist uns nicht per Fax vom Himmel zugegangen“, ist korrekt und wird heute auch von den christlichen Kirchen vertreten.
Die nächste Aussage klingt schon verwegener: „Es gab mehr als achtzig Evangelien, die für das Neue Testament zur Auswahl standen, dennoch kamen nur vier zum Zuge – die Evangelien des Matthäus, Markus, Lukas und Johannes.“ Einfach nur falsch ist die folgende These: „Das Neue Testament, wie wir es heute kennen, geht auf den heidnischen römischen Kaiser Konstantin den Großen zurück.“ Dazu führt Mr. Teabing noch aus: „Konstantin gab eine neue Evangeliensammlung in Auftrag, die er obendrein finanzierte. In diese Sammlung durfte keine jener Darstellungen aufgenommen werden, in denen Jesus als Mensch gesehen wurde, während alles, was ihn in ein göttliches Licht rückte, besonders hervorzuheben war. Die früheren Evangelien wurden geächtet, konfisziert und verbrannt.“ Diese Zitate aus dem 55. Kapitel des Thrillers mögen genügen. Sie haben Themen benannt, die im Folgenden näher behandelt werden sollen. Die Entstehung des Neuen Testaments, die Vielzahl der Evangelien und der Streit um den Christusglauben.

Geschichte der Entstehung. Die einzelnen Schriften des Neuen Testaments sind ungefähr in dem Zeitraum zwischen 50 und 100 nach Christus entstanden. Zunächst hatten die Apostel die Botschaft Jesu mündlich weiterverbreitet. Die ersten schriftlichen Zeugnisse des christlichen Glaubens sind die Briefe des Apostel Paulus, die er in den Jahren 50-60 nach Christus an verschiedene christliche Gemeinden schrieb. Der Tod der Augenzeugen führte dazu, dass ihre Zeugnisse des Lebens Jesu schriftlich festgehalten wurden. Auf sie konnten die Evangelisten Markus, Matthäus, Lukas und Johannes zurückgreifen, als sie in den Jahren zwischen 70 und 100 nach Christus ihre Evangelientexte abfassten. Das älteste Papyrusbruchstück (P 52) mit einem Text des Neuen Testaments stammt aus der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts nach Christus und überliefert einen Abschnitt aus dem Johannesevangelium. Es ist der „materielle“ Beweis für das hohe Alter der im Neuen Testament überlieferten Evangelien.
Waren diese einzelnen Schriften bis zum Jahr 100 nach Christus verfasst worden, so dauerte es noch einige Jahrhunderte, bis das uns vertraute Neue Testament als Schriftensammlung entstanden war. Die Gemeinden der ersten Jahrhunderte besaßen oft nur einzelne Schriftstücke. Ein Brief des Bischofs Serapion von Antiochien an die Gemeinde von Rhossos belegt, welche Schriften etwa um das Jahr 200 nach Christus diese Gemeinde für ihre Gottesdienste benutzte: die vier Evangelien des Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, die Apostelgeschichte, die Briefe des Paulus, einen Brief des Johannes und des Petrus, den Barnabasbrief und die „Lehre der zwölf Apostel“. Weiterhin lasen sie aus den Evangelien der Ägypter, des Petrus und des Thomas. Diese Nachricht aus der Kirchengeschichte des Eusebius belegt, dass die Kirche in der Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert noch keine fest umrissene Liste „kanonischer“ Schriften kannte. Was eine Gemeinde an Schriften besaß und als geeignet beurteilte, das wurde in ihren Gottesdiensten vorgelesen.

Evangelienvielzahl. Kirchenschriftsteller aus der Zeit um 200 nach Christus, wie Clemens von Alexandrien, Origenes und Irenäus, bezeugen, dass die vier Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes eine besondere Anerkennung in der Kirche genossen. Ein Papyrus (P 46) aus dieser Zeit belegt weiterhin, dass schon eine feste Sammlung der Paulusbriefe existierte. Auch wenn die Festlegung der uns heute vertrauten 27 Schriften des NT erst im 4. Jahrhundert erfolgte, so ist es durch Handschriftenfunde und Zeugnisse der Kirchenschriftsteller gesichert, dass die vier Evangelien und die Paulusbriefe schon um 200 anerkannter Teil des entstehenden Neuen Testaments waren. Kaiser Konstantin hatte auf diesen Prozess der Entstehung des Neuen Testaments keinerlei Einfluss.
Zwar scheint mir die von Brown in seinem Thriller genannte Zahl von „achtzig Evangelien“ zu hoch gegriffen, doch mehrere Dutzend Evangelien lassen sich namentlich auflisten. Hans Josef Klauck schlägt in seinem Werk „Apokryphe Evangelien“ folgende Gruppeneinteilung vor: „Judenchristliche Evangelien“, „Kindheitsevangelien“, „Evangelien über Tod und Auferstehung“, „Evangelien aus Nag Hammadi“, „Gespräche mit dem auferstandenen Jesus“. Die Bezeichnung „apokryph“ besagt, dass diese Evangelien nicht in das Neue Testament Aufnahme fanden, entweder weil sie deutlich jünger sind als die vier Evangelien des Neuen Testaments oder weil sie Ansichten vertreten, die dem gemeinsamen Christusglauben widersprechen. Einige Gruppen seien mit Beispielen näher vorgestellt.

Kindheit und Auferstehung. Wie die Bezeichnung „Kindheitsevangelien“ aussagt, widmen sich das Protoevangelium des Jakobus oder das Pseudo-Matthäusevangelium den Zeitabschnitten im Leben Jesu, über die in den vier neutestamentlichen Evangelien keine oder nur wenige Nachrichten zu finden sind: die Jahre Jesu als Kind und Heranwachsender werden erzählt, die Kindheit seiner Mutter Maria wird ausführlich geschildert (übrigens von Giotto in der Scrovegni-Kapelle in einem weltberühmten Bilderzyklus dargestellt) und auch Josef und Johannes der Täufer werden mit biographischen Details vorgestellt. Dem Urteil von H. J. Klauck ist nichts hinzuzufügen: „Historisch zuverlässige Informationen, die unser Wissen um die Ursprünge Jesu bereichern würden, darf man von dieser Literatur nicht erwarten“ (S. 89).
Die „Evangelien über Tod und Auferstehung Jesu“ wenden sich dem anderen Ende des Lebens Jesu zu, seinem Leiden und seinem Sterben. Der bekannteste Text dieser Gruppe ist das Petrusevangelium, das durch die namentliche Bezugnahme auf den Ersten der Apostel besondere Autorität signalisieren will. Durch den Kirchenhistoriker Eusebius wissen wir, dass Bischof Serapion von Antiochien um 200 nach Christus der Gemeinde von Rhossos von der Lektüre dieses Evangeliums abrät.
Der erhaltene Text beginnt mit der Verhandlung vor Pilatus, schildert dann die Kreuzigung und die letzten Worte Jesu; es folgt der Bericht über Kreuzabnahme und Begräbnis. Ausführlicher als in unseren Evangelien wird die Auferstehung geschildert, während der abschließend erzählte Besuch der drei Frauen am Grab stark an Markus 16 erinnert.
Die durchgängige Anrede Jesu mit dem Hoheitstitel „Herr“, die Unkenntnis jüdischer Bräuche und die Verlagerung der Schuld am Tod Jesu von Pilatus auf die Juden weisen darauf hin, dass das Petrusevangelium vermutlich später als die neutestamentlichen Evangelien abgefasst wurde.

Aus Nag Hammadi. Ein ägyptischer Landarbeiter entdeckte 1945 in der Nähe von Nag Hammadi (Oberägypten) einen Tonkrug, in dem er 13 Handschriften mit Texten in koptischer Sprache fand. Sie enthielten ungefähr fünfzig Schriften.
Aus datierten Quittungen und Verträgen geht hervor, dass die Handschriften um 350 nach Christus hergestellt wurden. Die Veröffentlichung zog sich über 50 Jahre hin, was wiederum Stoff für geheimnisvolle Enthüllungsstorys bot. Am häufigsten werden folgende Texte aus Nag Hammadi zitiert.
Der bekannteste dieser Texte ist das Thomasevangelium. Es enthält eine Sammlung von 114 Jesusworten. Etwa die Hälfte dieser Worte hat Parallelen in den synoptischen Evangelien des Matthäus, Markus und Lukas. Andere Jesusaussagen sind stark gnostisch eingefärbt. Durch Papyruszeugnisse weiß man, dass die ursprüngliche Sprache des Thomasevangeliums das Griechische war und es wohl im 2. Jahrhundert nach Christus entstanden ist.
Das Philippusevangelium schließt sich im zweiten Kodex der Nag-Hammadi-Schriften unmittelbar an das Thomasevangelium an. Inhaltlich werden nur noch ganz wenige Jesusworte in direkter Rede geboten. Es besteht vielmehr aus rätselhaften kürzeren Sprüchen und theologischen Abhandlungen in Kurzform. Die theologischen Aussagen sind von der valentinianischen Gnosis geprägt, was auf eine Datierung gegen Ende des 2. Jahrhunderts verweist.

Gnostische Mythik. Dan Brown zitiert in seinem Thriller einen Abschnitt aus dem Philippusevangelium, um zu unterstreichen, dass Jesus und Maria Magdalena verheiratet waren. Im § 55 des Philippusevangeliums wird überliefert: „Die Weisheit, die genannt wird: die Unfruchtbare, sie ist die Mutter der Engel. Und die Paargenossin des Erlösers ist Maria Magdalena. Der Erlöser liebte sie mehr als alle Jünger, und er küsste sie oft auf ihren Mund. Die übrigen Jünger reagierten eifersüchtig und beklagten sich. Sie sagten zu ihm: Weswegen liebst du sie mehr als uns alle? Der Erlöser antwortete und sprach zu ihnen: Weswegen liebe ich euch nicht so wie sie?“
Das Denken in mythischen Paaren ist ein Kennzeichen der valentinianischen Gnosis. Der himmlische Erlöser braucht, um vollständig zu sein, eine Paargenossin, eben Maria Magdalena. Es geht in diesem Spruch des Philippusevangeliums um die göttliche Erlösergestalt, die eine Paargenossin benötigt, und gerade nicht um den irdischen Jesus, wie Dan Brown und andere unterstellen.
Abschließend sei noch das ebenfalls in koptischer Sprache abgefasste „Evangelium der Maria (Magdalena)“ erwähnt. Doch dieser Text enthält keine – wie manche vermuteten –Aufschlüsse über eine Beziehung zwischen Jesus und Maria von Magdala, sondern konfrontiert seine Leser mit dem in mythischer Sprache geschilderten Seelenaufstieg und anderen kosmologischen Spekulationen, wie sie für die Gnosis charakteristisch sind. Informationen über den irdischen Jesus und die historische Gestalt der Maria von Magdala sind ihm nicht zu entnehmen.

Streit um Christusglauben. Bei der Vorstellung der koptischen Evangelien von Nag Hammadi waren schon mehrmals Begriffe wie „Gnosis“ beziehungsweise „gnostisch“ gefallen. Sie verweisen auf eine Denk- und Glaubensrichtung, die sich im 2. Jahrhundert nach Christus entwickelte. Die entstehende Großkirche wurde durch die Gnosis in einen heftigen Konflikt hineinzogen. Die Gnosis vertrat eine negative Sicht der Schöpfung. Der göttliche Geistfunke war in ihren Augen in die Materie des Leibes eingesperrt. Dies führte zu einer eigenen Auffassung des Christusglaubens. Das himmlische Geistwesen Christus hatte sich nur äußerlich mit dem Menschen Jesus von Nazaret vereint. Christus besaß also in der Sicht der Gnosis nur einen Scheinleib.
Im Unterschied zur Gnosis vertrat die Großkirche, dass Jesus wahrer Mensch und wahrer Gott sei und wehrte sich heftig gegen die gnostische Lehre von einem Scheinleib. Im Thriller „Sakrileg“ wird dagegen behauptet, dass die gnostischen Evangelien das Menschsein Jesu betonen würden; eine Behauptung, die den Textbefund ignoriert und die als nicht haltbar bezeichnet werden muss.
Was Dan Brown die gnostischen Gruppen so sympathisch machte, ist die Rolle der Frauen in ihren Gemeinschaften. Sie hatten vielfach leitende Stellung als Lehrerinnen, Prophetinnen oder Priesterinnen. Frauen beteiligten sich an der Verkündigungstätigkeit und waren rege im Gemeindeleben aktiv. Im Evangelium der Maria Magdalena überträgt Jesus der Maria die Leitung seiner Kirche. Diese starke Beteiligung der Frauen im gnostischen Gemeindeleben führte allerdings dazu, dass die Rolle der Frauen in der Großkirche zurückgedrängt wurde.

Geheim oder unbekannt? Geheime Schriften des Christentums, die die Kirche unterdrücken würde, weil sie unangenehme Wahrheiten enthielten, sind eine beliebte Erfindung. Sie steigern die Neugierde und die Verkaufszahlen, weil sie zu einem Negativ-Bild der römisch-katholischen Kirche passen. Solche angeblichen Enthüllungsgeschichten sollten aber für die kirchliche Bildungsarbeit ein Ansporn sein. Denn die angeblich geheimen, sind zumeist nur unbekannte Schriften aus der Frühzeit der Kirche. Die Geschichte der ersten Jahrhunderte der Kirche bietet ein buntes Bild von Gruppierungen, eine Vielfalt von Anschauungen und Meinungen, die zeigen: die Kirche ist in den verschiedenen Gegenden des Mittelmeerraumes (Palästina, Syrien, Byzanz, Rom, Griechenland, Ägypten, Nordafrika) in ganz unterschiedlicher Weise gewachsen. Immer wieder hat sie in Konflikten um ihre Sicht des Christusglaubens gerungen. Ihre Schrift (das Neue Testament) und ihr Glaubensbekenntnis sind in Jahrhunderten herangereift. Diese Geschichte zu entdecken ist ebenfalls ein spannendes Unternehmen.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016