Christus, der lebendige Stein

16. März 2012

Josef von Arimathäa hatte einen großen Stein vor den Eingang des Grabes Jesu gewälzt. Das Osterlied im Gotteslob 221,2 singt vom Tag nach dem Sabbat: „Die Frauen kamen zu dem Ort; sie wollten Jesus salben dort: Wer wälzt den Stein vom Grabe fort?“ – Der Erste Petrusbrief deutet österlich: Christus ist der lebendige Stein, der die an ihn Glaubenden als lebendige Steine zu einem geistigen Haus erbauen will.



Zu den Steinen wurde gesagt: „Werdet menschlich!“ Und die Steine: „Das geht nicht, dazu sind wir nicht hart genug!“ Was Erich Fried zu diesen ernüchternden Worten über den Menschen bewegt hat, muss ich offen lassen. Ohne tiefe Enttäuschungen in zwischenmenschlichen Beziehungen ist ein solch scharfes Urteil kaum verständlich. Wir als christliche Gemeinden trauen uns, 50 Tage lang eine milde Macht zu feiern, die auch das Härteste, das menschliche Herz, zu wandeln vermag. Steter Tropfen höhlt den Stein, sagen Menschen. Gott ist radikaler: Ich nehme das Herz von Stein aus eurer Brust und gebe euch ein Herz von Fleisch (vgl. Ezechiel 11,19).

An Ostern kommt nicht nur der sehr große Stein vor dem Grab Jesu nach biblischer Überlieferung ins Rollen (vgl. Markus-Evangelium 16,4). Den man für seine Sendung sogar aufs Kreuz gelegt hat, der wurde von der göttlichen Macht des Vaters in ein neues Leben geholt. Der Gekreuzigte ist der Auferstandene. Er zieht Menschen seither an allen Orten in seinen Bannkreis.



FREMD UND HEIMATLOS

Härte ist biblisch durchgängig negativ besetzt. Die Versteifung des Nackens und die Verhärtung des Herzens gehören im Alten Testament zu den Urbildern für die Abkehr des Menschen von Gott. Morgen für Morgen erinnert uns der Vorbeter bei der Eröffnung des kirchlichen Stundengebets (beim Invitatorium) nach jubelnden Versen an diese Gefährdung unseres Glaubens: „Verhärtet nicht euer Herz!“ (Psalm 95,8). Der Glaube ist ja wie ein inwendiger Begleiter, der uns stets zu einer neuen Sicht der Dinge anhält, auf den Gott, der Wunder wirkt und vollbringt. Allerdings gibt es auch eine positive Härte: Der Gottesknecht bei Deuterojesaja (50,7) macht sein Gesicht hart wie Kiesel gegen die ungerechten Beschuldigungen und tödlichen Anfeindungen. Gibt es auch im Neuen Testament eine erstrebenswerte Härte?

Fremd und heimatlos fühlten sich wohl die Adressaten des Ersten Petrusbriefes im nördlichen und westlichen Kleinasien. Sie brauchten Ermutigung und Hilfestellung für ihr angefochtenes Selbstverständnis. Die Bibelausleger sprechen von einer Art Taufpredigt für verunsicherte Christgläubige in der Diaspora, eingeschüchtert durch Verfolgung. Ich muss an die italienischen Schwestern in der Türkei denken, die über Monate keine Eucharistiefeier haben mangels erreichbarem Priester, wie uns Pater Anselm Kraus erzählt, oder an die Freunde im christlich-muslimischen, interreligiösen Zentrum in Deir Mar Musa in Syrien, einem Land im Bürgerkrieg.



KOMMT ZUM LEBENDIGEN STEIN

Auf die grundsätzlichen Fragen, worauf wir ChristInnen stehen und wie wir uns verstehen dürfen, gibt der Brief aus den vitalen Anfängen der Christenheit eine schlichte Antwort in der Bilderwelt des Hausbaus (vgl. auch den Völkerapostel Paulus in seinem Ersten Korintherbrief oder den Schluss der Bergpredigt). Man beachte die Wirkung auf das Selbstverständnis der bis heute aktuellen franziskanischen Urberufung: „Stelle mein Haus wieder her, das ganz am Zerfallen ist!“ „Kommt zu dem lebendigen Stein!“, heißt die österliche Einladung. Es gibt also eine Härte, die sich positiv auswirken will im Sinne von Beständigkeit, Eintracht und Überwindung des Todes. Die „Perle“ in diesem neutestamentlichen Schreiben ist die Stelle zum allgemeinen Priestertum

(1 Petrus 2,9f), die für den Aufbruch des II. Vatikanums maßgeblich bleibt. Das besondere Priestertum steht im Dienst an den Diensten, ist gleichsam inmitten und ein Gegenüber zu den Charismen in den Gemeinden. Dem Anfang des zweiten Kapitels entnehme ich für unseren nachösterlichen Weg drei Impulse.

Die Aufforderung „Kommt zu ihm, dem lebendigen Stein!“ ist nicht harmlos und beliebig in unserem modernen Angebotsdenken: „Vielleicht ist das etwas für Sie!“ Es geht um Entschiedenheit: Stellt Euch fest auf diesen Untergrund! Eine Person trägt unverrückbar: der von dem Menschen verächtlich angeschaute und verworfene „Stein“ Christus! Was für die damalige antike Umgebung eine Eselei im wahrsten Sinn des Wortes war (eine Graffiti-Kritzelei spottet über den christlichen Soldaten Alexamenos, wobei der Gekreuzigte mit einem Eselskopf dargestellt wird – ein Gekreuzigter kann nicht die Weisheit Gottes sein) und im jüdischen Denken als ein Fluch erscheinen musste („ein Gehenkter ist ein von Gott Verfluchter“ Deuteronomium 21,23), das ist in den Augen Gottes kostbar und wertvoll.

Entscheidet Euch für den Vertrauten Gottes, wagt das Unerhörte und stellt euch auf seinen österlichen Sieg! Die Kirche Jesu Christi ist somit eine Gemeinschaft von Entschiedenen. Wo so vieles wankt und schwankt, gibt es einen alternativen Stabilitätspakt gläubiger Menschen aller Generationen und Nationen. Wer glaubt, ist eben nicht allein.



LASST EUCH VERMAUERN!

Hier muss die moderne Seele aufschrecken, denn wir lieben unsere Freiheit sehr. Sie steht in Konkurrenz zur Sehnsucht nach Beheimatung und Geborgenheit. Wir wollen wissen, wo wir hingehören und wozu wir gebraucht werden. Die Passage des Ersten Petrusbriefes stellt uns in lebendige Zusammenhänge. Die Kirche ist kein blutleerer Apparat und kein Selbstläufer, sondern berufen, ein Bau lebendiger Steine auf dem gemeinsamen österlichen Fundament zu sein. Jede und jeder hat einen je eigenen Platz, wo sie/er trägt und erträgt, sowie – was wir manchmal vergessen – getragen und ertragen wird. Das Paradox gilt: Wer sich belasten lässt, wer Verantwortung übernimmt, erfährt auch Entlastung. Ich weiß, wo ich hingehöre und für wen ich mich abmühe.

Das Bild von den lebendigen Steinen hat eine Schattenseite, es ist statisch und kann etwas übersehen lassen: Beweglichkeit gehört zum Aufbau der Gemeinden. Gläubige Menschen müssen mit Provisorien rechnen und leben lernen. Wir sind nun einmal Pilger und Fremdlinge bis zum letzten Atemzug, das ist ein Wesensmerkmal der Weggefährtenschaft auf Zeit. Orte und Menschen zu lassen, ist das nicht auch eine angemessene Form des Opfers auf dem christlichen Nachfolgeweg?



ERKENNT EURE WÜRDE!

Mag sein, dass die Sätze im Wir zu lebensfern und zu feierlich klingen. Es sind Würdetitel aus den Büchern Exodus und Jesaja, auf die christliche Gemeinde gemünzt. Sie machen Mut, aus Selbstbespiegelungen und allen Formen des Kleinglaubens herauszuwachsen. Fridolin Stier übersetzt 1 Petrus 2,9 so: „Ihr aber seid ein auserwähltes Stammvolk, eine königliche Priesterschaft, eine heilige Volksgemeinschaft, ein zum Eigentum bestimmtes Volk: Auf dass ihr die Gut-Taten dessen kündet, der euch aus Finsternis in sein staunenswertes Licht gerufen hat.“

Bruder Paulus Terwitte hat sein neuestes Buch in Absetzung von Harpe Kerkeling so überschrieben: „Ich bleib dann mal da.“ In einer notvollen Phase der Kirchenaustritte in unserem Land und der innerkirchlichen Zerreißproben kann die urchristliche Taufansprache mit Blick auf den einen Schlussstein wegweisend und einend sein. Ich bleibe in dieser Kirche, weil ich in ihr immer noch die Anziehungskraft des lebendigen, österlichen Steins verspüre. Ich stelle mich mit meinen Glaubensgeschwistern in den Unbeständigkeiten des Lebens auf den, der mich trägt und der uns zusammenhält.

Ich bleibe in dieser Kirche, weil ich immer noch an meinen unverwechselbaren Platz und Auftrag in ihr glaube und so tiefen Sinn erfahren darf. Ich bleibe in dieser Kirche, weil ich durch das Wort des Lebens und die Sakramente, sowie das Zeugnis ihrer Mitglieder Samenkörner der Auferstehung ins oft verfestigte Herz gesät bekomme. Nachdenklich und neu entschieden stimme ich in das Lied der „Alten“ ein: „Fest soll mein Taufbund immer stehen.“



Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016